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Ein schöner Tag

Ein schöner Tag

Die Sicherheit ist wieder da — am Deich und überall. Eine Erzählung.

„Roll, Reifen, roll!“, gluckst der kleine Oke fröhlich, während er seinen hölzernen Reifen mit einem Stecken antreibt und dabei entlang des kleinen asphaltierten Weges rennt, der neben dem Greetsieler Deich verläuft. Seine Großmutter hatte ihm diesen Reifen geschenkt, wollte er doch immer schon so einen haben, wie ihn sein Urgroßvater einst als Kind gehabt hatte, auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos.

Auf einem anderen Foto, auf dem Okes Urgroßvater schon erwachsen ist, trug er dann eine Uniform und eine Schirmmütze mit einem kleinen Totenkopf darauf.

Seitdem Oke dieses Foto gesehen hatte, war er sich sicher, dass sein Urgroßvater damals ein berühmter Pirat gewesen war. Großmutter sagte zwar, er sei keiner gewesen, zumindest keiner, wie Kinder sich ihn vorstellen, und hatte das Foto dann schnell zur Seite gelegt. Aber Oke glaubte trotzdem, dass dies irgendwie nicht stimmen könne, denn nur Piraten tragen Mützen mit einem Totenkopf darauf, sonst niemand.

Nun steht plötzlich ein Mann vor Oke, der fast genauso aussieht wie sein Urgroßvater auf den alten Bildern, und versperrt ihm den Weg. Auf seiner Schirmmütze ist jedoch kein Totenkopf zu sehen, sondern ein kleiner Kreis mit „Puscheln“ daran, so wie auf all den Plakaten, die überall im Ort kleben. Oke liebt das Wort „Puscheln“, es hört sich witzig an. Die Armbinde, die der Mann trägt, ist auch eine andere als die seines Urgroßvaters. Auf ihr ist dasselbe Symbol wie auf seiner Mütze abgebildet, nur viel größer, und in goldenen Buchstaben ist ein Text eingestickt, den Oke bereits lesen kann: „Pandemiepolizei — Bezirk 223“. Zudem trägt er eine große schwarze Maske, eine Mund-Nasen-Bedeckung, wie Oke weiß, und eine Pistole.

Der Mann lächelt unter seiner Maske, so wie es auch Okes Urgroßvater auf dem Schwarz-Weiß-Bild getan hat, nur dass Oke dies aufgrund der Maske nicht sehen kann. Aber selbst wenn er es hätte sehen können, ist es nicht das gleiche warme Lächeln, denn die Augen dieses Mannes bleiben kalt, als er sagt: „Na, junger Mann, wo ist denn deine Mund-Nasen- Bedeckung?“

„Hab ich vergessen, bin ja draußen!“, erwidert Oke.

„‚Vergessen und draußen‘ ist keine Entschuldigung, wenn es um die Gesundheit und das Leben aller im Kampf gegen das tödliche Virus geht!“, erwidert der Mann und fährt dann, mehr wissend als fragend, fort: „Du bist doch der kleine Oke, der bei seiner Großmutter lebt, nicht wahr?“

Oke nickt langsam.

Der Mann lächelt jetzt nicht mehr unter seiner Maske und sagt: „Willst du, dass deine Großmutter wegen dir sterben muss und du dann in ein Heim kommst? Ist es das, was du willst?“

Oke ist sich nun sicher, dass der Mann kein Pirat ist, zumindest keiner, wie Kinder ihn sich vorstellen, und schüttelt heftig den Kopf. Tränen laufen ihm die Wangen herunter.

„Dann tu, was man dir befiehlt!“, schreit der Mann Oke an. Oke zuckt zusammen und schluchzt: „Ja.“

Der Mann schreit weiter: „‚Jawohl, Herr Oberpandemiebannführer!‘, so heißt das, und jetzt scher dich sofort nach Hause, sonst erzähle ich deiner Großmutter, was für ein fieser kleiner Schuft du bist!“

Oke rennt schluchzend davon, an seinen Reifen und den Stecken denkt er nicht mehr …

Ein uralter Mann tritt aus seinem Haus auf die Straße. Er trägt eine Uniform und eine Schirmmütze mit einem Totenkopf darauf, so wie Okes Urgroßvater sie getragen hat und wie Kinder denken, dass Piraten es tun. Aber er trägt keine Maske. Er geht langsam auf den Mann zu, der Oke eben noch angeschrien hat, bleibt stehen und sagt:

„Wer den gleichen Fehler zweimal macht, der hat sich dafür entschieden, ihn zu machen!“

Die Augen des Mannes mit der Maske weiten sich vor halb entsetztem, halb ungläubigem Staunen. Als er die Fassung wieder gewonnen hat, sagt er mit zitternder Stimme: „Das ... das ist verboten, das ist Volksverhetzung, ... die Uniform, das muss ich ... muss ich melden!“

„Tun Sie das, junger Mann. Melden macht frei!“, antwortet der uralte Mann freundlich und macht eine Pause, bevor er fortfährt: „Aber vielleicht gehen Sie auch einfach nach Hause. Ich wünschte, ich hätte es damals getan ...“

Erst als die Haustür hinter ihm ins Schloss fällt, nimmt er die Hand vom Griff seiner P08, die jetzt nicht so wie früher im Holster, sondern in seiner Hosentasche steckt. Früher wären jetzt drei Patronen weniger im Magazin, denkt er. Eine aus Notwendigkeit, eine zur Sicherheit und eine nur so zum Spaß. So wie sie es ihm damals beigebracht haben.

Anschließend geht er in die Küche und lässt sich dort müde auf einen Stuhl sinken. Auf dem Küchentisch vor ihm liegen alte Fotos und ein vergilbtes Stück Papier, auf dem steht:

„Mein lieber Freund,
nun stehe ich, endlich in klarer Erkenntnis, einem Wahnsinn gegenüber, dem Einhalt zu gebieten meine höchste Pflicht gewesen wäre. Wie konnten wir so blind gewesen sein?
Meine Seele werde ich nicht mehr retten können, aber vielleicht wenigstens noch die vieler anderer, für die es noch nicht zu spät ist.
OWB
Juni 1944“

Der kleine Oke hat seinen Urgroßvater OWB nie kennengelernt. Dieser starb im Juli 1944, die offizielle Angabe lautete: „Gefallen im tapferen Kampf für sein Vaterland.“ Was in gewisser Weise so auch stimmte. Oke ist sich immer noch sicher, dass sein Urgroßvater sehr wohl ein berühmter echter Pirat gewesen ist, so wie Kinder ihn sich vorstellen und wie der Leser dieser kleinen Geschichte bereits vermuten mag. In jenem Juni 1944 war er dies ganz bestimmt. Einer, der mit den Augen lächelt und als Kind natürlich auch einen Reifen und einen Stecken hatte.


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