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Für Einheit und Freiheit

Für Einheit und Freiheit

Das Hambacher Fest von 1832 erlebt seit 2018 eine Neuauflage. Die ist umstritten, vielleicht auch, weil sie auf heutige Demokratiedefizite aufmerksam macht. Teil 1/2

Aufgewachsen in einem politisch interessierten Elternhaus mit einem in der CDU sehr engagierten Vater bin ich in einer Diskussionskultur groß geworden, in der auch rege mit Sozialdemokraten, Freien Demokraten und Kommunisten diskutiert wurde. Als Staatsbürger stelle ich mir dies so für eine Demokratie vor.

Von meinem Beitrag erhoffe ich mir eine Debatte, die im Idealfall leidenschaftlich, aber immer sachlich und respektvoll geführt wird. Heutzutage ist es leider allzu üblich, Vertretern von demokratisch gewählten Parteien oder von Bürgerbewegungen kein Forum zu gewähren oder ihre Mitglieder sogar beruflich oder ökonomisch im Rahmen des Möglichen zu sanktionieren, wofür das unsägliche Wort „Cancel Culture“ geprägt wurde. Insofern wäre die von mir erhoffte und hier geführte Debatte ein erfreuliches Signal für die Rückkehr zu einer demokratischen Diskussionskultur.

Ein neues Hambacher Fest

Im Jahr 2018 entschloss ich mich, ein Neues Hambacher Fest zu organisieren. Dafür gab es hauptsächlich zwei Anlässe, die als Themenschwerpunkte das Fest bestimmen sollten. Zum einen waren (und sind) aus meiner Sicht und der Sicht vieler anderer Menschen in unserem Land Demokratie und Meinungsfreiheit akut bedroht und wir erleben, wie 1832, teilweise wieder repressive Zustände. Zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern, die dies ähnlich sehen, wollte ich ein Zeichen setzen und diese Werte an einem historischen Ort wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken. Bewusst habe ich als damaliges CDU-Mitglied das Fest für alle Bürger geöffnet und Vertreter keiner Partei ausgeschlossen. Die Teilnehmer mussten allerdings schriftlich erklären, dass sie keiner als verfassungsfeindlich eingestuften Organisation angehören oder angehört haben.

Zum anderen stand das Fest unter dem Motto der Staatlichkeit Deutschlands. Es sollte eine patriotische, eine deutsche Veranstaltung sein, selbstverständlich im Geist der Völkerverständigung, aber auch mit dem Verständnis, dass Hambach einen großen deutschen Erinnerungsort darstellt, dass es das „Nationalfest der Deutschen“ ist, wie es einer der Initiatoren des originalen Festes, Johann Georg August Wirth, im Titel seines Buches über das Fest nannte (1).

Einige Tausend Bürger folgten meinem Aufruf. Die Teilnehmerzahl wurde von der Stiftung Hambacher Schloss auf 1300 begrenzt, sodass wir keine weiteren Anmeldungen mehr annehmen konnten und viele bereits erteilte Zusagen zurücknehmen mussten. Die Örtlichkeiten hätten nach Aussage meines Sicherheitsberaters ausreichend Platz für bis zu 3000 Teilnehmer geboten.

Als Redner hatte ich demokratische Systemkritiker eingeladen, die sich ausdrücklich als grundgesetztreue Demokraten verstehen: Vera Lengsfeld (CDU), Thilo Sarrazin (damals SPD), Markus Krall (parteilos), Willy Wimmer (CDU), Imad Karim (parteilos) und Jörg Meuthen (damals AfD). Ebenso waren eingeladen alle Bundestagsabgeordneten von CDU, FDP und AfD sowie alle rheinland-pfälzischen Landtagsabgeordneten dieser Parteien.

Das Neue Hambacher Fest 2018 fand in den Medien ein großes Echo (2). Der Spiegel entwarf vorab ein demagogisches Framing, auf das ich später zurückkommen werde (3). Ähnlich tendenziös hatte auch die Deutsche Welle (DW) berichtet: „Kapert die AfD das Hambacher Fest?“ (4) Die DW interessierte bei diesem Framing nicht, dass von sieben Rednern, mich als Eröffnungsredner eingeschlossen, drei der CDU angehörten, einer der SPD, zwei parteilos waren und nur einer der AfD angehörte. Ebenso wenig interessierte es, dass alle Parlamentarier von CDU, FDP und AfD des Bundestags und des Landtags von Rheinland-Pfalz eingeladen waren.

Gleich von Beginn an entwickelte sich eine erbittert geführte und bis heute anhaltende Diskussion um die beiden Kernfragen:

· Sind Meinungsfreiheit und Demokratie heute in ähnlichem Umfang gefährdet wie 1832? Oder übertreiben Initiator und Teilnehmer des Festes mit dieser Befürchtung?
· War das originale Hambacher Fest vor allem ein deutsches Fest, ein „Nationalfest“, oder eine paneuropäische, ja vielleicht sogar global gemeinte Veranstaltung? Was ist die „richtige“ Tradition und Deutung des Festes?

Immerhin regte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) nach dem ersten Fest an:

„Vielleicht denken die eingeladenen CDU- und FDP-Politiker, die dem Mann in diesem Jahr allesamt abgesagt haben, einmal darüber nach, ob sie beim nächsten Mal nicht lieber dabei sein wollen. Wenn es in Deutschland einen Ort für die politische Widerrede gibt, dann ist es das Hambacher Schloss.“ (5)

Demagogenverfolgung, Zensur, Repression und das Hambacher Fest von 1832

Nach den Napoleonischen Kriegen und dem Sieg über Frankreich wurde 1814/15 auf dem Wiener Kongress über die territoriale Neuordnung und die zukünftige politische Ordnung Europas verhandelt. In der Folge schlossen drei der Siegermächte, Preußen, Österreich und Russland, die sogenannte „Heilige Allianz“. Der Passauer Staatsrechtler Johann Braun schrieb hierzu in seinem 2019 erschienenen Buch „Hambacher Feste — Nationale Einheit und Freiheit gestern und heute“:

"In der (…) Heiligen Allianz wurde vielmehr das Prinzip des fürstlichen Gottesgnadentums bekräftigt und allen bürgerlichen und nationalen Bestrebungen eine Absage erteilt. Dagegen regte sich erwartungsgemäß Protest, der mit straf- und polizeirechtlichen Mitteln unterdrückt wurde. Im Gefolge der 1819 gefaßten Karlsbader Beschlüsse wurde die Zensur verschärft, öffentliche Aufzüge und Versammlungen wurden grundsätzlich verboten, die Burschenschaften wurden überwacht. Wer seine Stimme für nationale Einheit und politische Freiheit erhob, galt als „Demagoge“ und war einer strikten Verfolgung ausgesetzt. Die verordnete Friedhofsruhe sorgte verbreitet für Unwillen, der sich gegen die etablierten Mächte richtete." (6)

Dieses System ist auch bekannt als „Metternichsche Restauration“, benannt nach Fürst Klemens von Metternich, dem österreichischen Kanzler. Nach und nach regte sich Widerstand dagegen, der Vormärz nahm seinen Lauf. Im Vorfeld des Hambacher Festes hatte es in der damals zum Königreich Bayern gehörigen Rheinpfalz verschärfte Zensurmaßnahmen gegeben. Die bayerische Regierung erließ am 1. März 1832 ein Vereinsverbot, das auch den ebenfalls 1832 gegründeten „Vaterlandsverein zur Unterstützung der freien Presse“ betraf. Allerdings wurde das Verbot nicht umgesetzt, man ließ den Verein gewähren.

Die späteren Hauptinitiatoren des Hambacher Festes, die Zeitschriftenverleger Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth, wurden allerdings von den Zensurmaßnahmen empfindlich getroffen. Neben dem Verbot ihrer jeweiligen Zeitschriften wurden beide Verleger mit einem fünfjährigen Berufsverbot belegt. Auch das Hambacher Fest scheiterte im ersten Anlauf an der Obrigkeit. Als am 20. April 1832 34 Neustädter Bürger für den 27. Mai unter dem Titel „Der Deutsche Mai“ zu einem „Fest der Hoffnung“ einluden, das „dem Kampfe für Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt, für Erstrebung gesetzlicher Freiheit und deutscher Nationalwürde“ gewidmet sein sollte, untersagte der rheinbayerische Regierungspräsident die Veranstaltung (7). Gegen das Verbot erhob sich lebhafter Protest.

„Da man in München an einem Kompromiss interessiert war und die Neustadter Veranstalter versicherten, nur ein ‚friedliches schönes Fest‘ feiern und für jede Unordnung haften zu wollen, hob der Regierungspräsident sein Verbot für bayerische Staatsangehörige wieder auf.“ (8)

Vom 27. Mai bis zum 1. Juni 1832 feierten zwischen 20.000 und 30.000 Bürgerinnen und Bürger auf dem Hambacher Schloss ein Volksfest für Meinungsfreiheit, demokratische Kultur und die deutsche Einheit. Diese Forderungen standen im Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen. Dementsprechend heftig wurden die Veranstalter des Festes im Nachgang bekämpft.

Nach dem Hambacher Fest nahm die sogenannte „Demagogenverfolgung“ an Fahrt auf. Viele der Initiatoren, Redner und Teilnehmer des Festes waren davon betroffen. Die bayerische Regierung erließ strikte Auflagen und schickte zusätzliche Truppen in die Rheinpfalz. „Im Fall von Ruhestörungen wurde die militärische Besetzung auf Kosten der Einwohner angedroht.“ (9) Der Regierungspräsident und andere Amtsträger wurden durch absolut zuverlässige Personen ersetzt. Acht der Hauptinitiatoren des Festes wurden vor einem Geschworenengericht in Landau des Hochverrats angeklagt, aber überraschend freigesprochen. Also veranlasste die Obrigkeit eine erneute Anklage vor einem anderen Gericht, nun wegen „Beleidigung in- und ausländischer Behörden“. Dieses Mal wurden Wirth und Siebenpfeiffer zu Gefängnisstrafen verurteilt; auch weitere Urteile ergingen. Siebenpfeiffer konnte in die Schweiz entkommen, doch Wirth weigerte sich zu fliehen und wurde für zwei Jahre inhaftiert. Danach gelang auch ihm die Flucht in die Schweiz, denn in Deutschland hätte er mit weiteren Prozessen rechnen müssen. Der preußische Student Karl Heinrich Brüggemann wurde von einem Berliner Kammergericht sogar zum Tode verurteilt, das Urteil schließlich in lebenslange Festungshaft umgewandelt. Im Jahr 1840 wurde er anlässlich des Thronwechsels in Preußen begnadigt. Trotz Habilitation blieb ihm aber eine akademische Laufbahn zeitlebens versagt.

Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Repression heute

Im meiner Eröffnungsrede zum Neuen Hambacher Fest 2018 verglich ich die gesellschaftlichen Zustände im Jahr 1832 mit denen des Jahres 2018:

„Unser oftmals selbstreferenzielles politisches System ist nicht mehr so weit weg von der Fürstenherrschaft, welche die Bürger auf dem Hambacher Fest 1832 beklagten. Und wir haben wieder zensurähnliche Zustände in unserem Land, die denen von 1832 zumindest teilweise ähneln, wenn auch die Mechanismen andere sind.“ (10)

Die aktive Meinungsunterdrückung ist heute sehr weit fortgeschritten. Allerdings erfolgt die Meinungslenkung, -unterdrückung und -steuerung klüger als in früheren Zeiten.

Der links zu verortende Soziologe Harald Welzer spricht deswegen von einer „smarten Diktatur“ (11), die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff von „Überwachungskapitalismus“ (12) und Frank Schirrmacher, der früh verstorbene Mitherausgeber der FAZ, von „technologischem Totalitarismus“(13).

Meine Aussage, dass Freiheit und Demokratie akut bedroht sind, konnte ich vor wenigen Jahren noch öffentlich aussprechen, ohne dafür massiven Widerspruch zu ernten. Am 10. November 2014 fand im Mainzer Landtag ein Festakt zum 40-jährigen Bestehen des Datenschutzgesetzes und des Datenschutzbeauftragen des Landes Rheinland-Pfalz statt. Der Datenschutzbeauftragte äußerte sich nach der Jubiläumsveranstaltung zu meinem Vortrag:

„In seinem Festvortrag Finanzwirtschaft — Informationswirtschaft — Datenwirtschaft — Aus Schaden lernen führte Professor Dr. Max Otte (FH Worms/Universität Graz) aus, dass — ähnlich wie im Bereich der Finanzwirtschaft — auch im Internet Machtasymmetrien unsere Freiheit bedrohten: Internetkonzerne wendeten sich mit dem Ziel der Renditemaximierung dabei nicht nur gegen Bürgerinnen und Bürger, sondern auch gegen regionale und Kleinunternehmen, die den neuen Geschäftsmodellen nichts entgegenzusetzen hätten.“ (14)

Gut fünf Jahre später sah es anders aus. Am 15. Mai 2019 hielt ich an der Hochschule Worms meine Abschiedsvorlesung, die ebenfalls den Themen Meinungsfreiheit und Freiheit von Lehre und Forschung gewidmet war. Die Hochschule zierte sich, mir Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Nach längerem Hin und Her organisierte ich die Vorlesung als private Veranstaltung.

Obwohl an die 180 Gäste gekommen waren, hatten sich die meisten Kollegen entschuldigt und waren der Vorlesung ferngeblieben. Einer von drei Dekanen war anwesend, ein früherer Präsident, zwei Kollegen. Und das, obwohl ich mit Professor Dieter Schönecker einen interessanten Gastreferenten eingeladen hatte, der kurz zuvor an der Universität Siegen in eine Kontroverse um die Freiheit von Forschung und Lehre verwickelt gewesen war (15). Früher hatten sich meine Kolleginnen und Kollegen darum gerissen, mich als Redner auf ihren Veranstaltungen zu haben.

Dafür kam ein „Aktivist“, Ehemann einer Angestellten der Hochschule, der danach einen unsachlichen, sehr negativ geframten Beitrag für das Internetportal OpenPR schrieb (16). In der Tagespresse hingegen wurde — im Gegensatz zu meinen früheren Vorträgen — darüber nicht berichtet.

Ich stehe zu meiner Einschätzung:

Wir leben in einer bereits ziemlich durch Lobbyismus beschädigten Demokratie. Freiheit und Diskussionskultur sind Mangelware. Das „System“, früher ein Lieblingsbegriff der Linken, arbeitet vielleicht sogar effektiver als zur Zeit der Demagogenverfolgung oder in der ehemaligen DDR, weil es Freiheit klug unterdrückt.

Etwa durch „Nudging“ (wörtlich: „einen (Denk-)Anstoß geben“), die sanfte Manipulation. Oder durch Framing und ständige Wiederholung von Anschuldigungen, um diesen einen Anstrich von Legitimität zu geben. Wo auch dies nicht hilft, greift man zum Mittel der Repression.

Warum auch moderne Demokratien aufällig für Repression, Ausgrenzung und Unterdrückung der Meinungsfreiheit sind

Ein Hauptargument der Kritik am Neuen Hambacher Fest lautet, dass in unserer heutigen freiheitlich-demokratischen Grundordnung Zustände wie zu Zeiten des originalen Hambacher Festes gar nicht mehr möglich seien. Dem ist zu entgegnen, dass unsere Gesellschaft natürlich eine andere ist und dass sich Geschichte zwar nicht wiederholt, dass aber Repressionen in jedem System auftreten können und dass wir zur Verteidigung der erwähnten freiheitlich-demokratischen Grundordnung äußerst wachsam sein müssen.

Bereits vor über 180 Jahren schrieb der französische Adlige Alexis de Tocqueville in seinem politikwissenschaftlichen Klassiker „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/40) über die „Tyrannei der Mehrheit“ in den Vereinigten Staaten. Auf der einen Seite sei das Land sehr frei, auf der anderen Seite gebe es einen sehr deutlichen Konsens darüber, was man sagen, tun und lassen könne. In etlichen Bereichen würden abweichende Meinungen oder abweichendes Verhalten unterdrückt, in Europa hingegen toleriert. Europa sei vielfältiger, in Amerika herrsche oft eine Einheitsmeinung. Menschliche Gesellschaften, die anscheinend vernünftig sind, können kippen. Es können sich Abgründe auftun (17). Das haben wir in der Französischen Revolution gesehen, in Nazi-Deutschland, in Ruanda, in Burundi. Ich vergleiche diese Beispiele nicht in ihrer historischen Dimension, sondern weise darauf hin, dass in all diesen Fällen Massenpsychosen eingesetzt und Menschen grausame Dinge getan haben, die man eigentlich nicht für möglich halten sollte.

Unser Gehirn arbeitet nach neueren Erkenntnissen der Neuropsychologie viel weniger „rational“, als wir vielleicht glauben. Es verwendet Algorithmen und Abkürzungen (Heuristiken), sieht nur das, was es sehen will, und wird oftmals von Emotionen getriggert. Vorurteile („Bias“) sind wesentlich häufiger, als wir gemeinhin annehmen. Schon 1895 beschrieb der Sozialpsychologe Gustave Le Bon in seinem Klassiker „Psychologie der Massen“, wie im Gruppendenken das bewusste Denken hinter die instinktiven Reaktionen der Masse zurücktritt (18). Die fehlerbehafteten Mechanismen unseres Gehirns — die evolutionstheoretisch durchaus alle ihren Sinn hatten — können dazu führen, dass Menschen oder menschliche Gesellschaften gelegentlich Maß und Mitte (19) verlieren, dass es zu Massenhysterien kommt oder dass Menschen einer bestimmten Ausrichtung verfolgt werden.

Eine Vielzahl von Experimenten hat in den letzten Jahren gezeigt, wie begrenzt unsere Rationalität ist. Die tieferen Schichten unseres Bewusstseins geben uns oft vor, was wir zu denken haben (20). Hinreichend untersuchte und belegte psychologische Mechanismen wie Gerichtetheit, Fokussierung (21), Attribution Bias (22), Gruppendenken oder Confirmation Bias sorgen dafür.

Unsere Gedankenprozesse werden zum Beispiel oftmals durch das sogenannte Attribution Bias beeinflusst: Wir Menschen sind schnell bereit, eine Ursache anzunehmen, selbst wenn ein Geschehen zufallsgetrieben ist. Evolutionsgeschichtlich hatte das durchaus seinen Sinn: Wenn es im Gebüsch raschelte und eine schnelle Reaktion gefragt war, nahm man besser an, dass das Rascheln von einem Raubtier hervorgerufen wurde, selbst wenn sich später herausstellte, dass es nur der Wind gewesen war. Im anderen Fall hätte eine Überprüfung der Ursache Zeit und vielleicht sogar das Leben gekostet. Besser also, zunächst eine schädliche Ursache anzunehmen (23).

In Zeiten großer politischer und gesellschaftlicher Umbrüche wie der gegenwärtigen sind viele Menschen verunsichert und neigen dazu, an einfache Theorien und Ursachen zu glauben, „Verschwörungstheorien“, könnte man sie nennen (24). Das gilt für beide großen Lager. Was für die einen der „Populismus“ oder der „Nationalismus“ sind, sind für die anderen der „Deep State“, der „Globalismus“ oder die „Klimareligion“. Die Neigung, vorschnell Ursachen und Schuldige zu suchen, ist nicht sehr hilfreich.

Konservativ-freiheitliche Menschen überschätzen die menschliche Rationalität nicht, sondern wissen, dass eine Gesellschaft gelegentlich kippen kann. Das ist spätestens der Fall, wenn Leben, Freiheit und die Möglichkeit, sein Glück ungehindert zu suchen, nicht mehr gewährleistet sind.

Die Formulierung ist der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung übernommen: „life, liberty and the pursuit of happiness“ (25). Das Leben ist in unserem Land zum Glück noch nicht gefährdet, die körperliche Unversehrtheit gelegentlich, die körperliche Freiheit und Unverletzlichkeit der Privatsphäre selten — obwohl die Fälle zunehmen. Aber die ungehinderte Verfolgung des Glücks wird zunehmend eingeschränkt, wenn man Meinungen vertritt, die außerhalb des Mainstreams liegen.

In Artikel 3 (3) des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist festgelegt, dass „niemand (…) wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf (26).

Dies ist heute eindeutig nicht mehr der Fall. Politische Parteien bekommen keine Versammlungsräume mehr, Verträge werden gekündigt, ebenso Konten und Bankbeziehungen, Beschäftigungsverhältnisse aufgelöst, Existenzen vernichtet, wenn Menschen die „falsche“ Meinung vertreten.

Früher wurde der politische Gegner mit Argumenten bekämpft und als Mensch respektiert. Man hatte auch zumeist keine Probleme damit, mit einem politischen Gegner gesellschaftlich zu verkehren oder Geschäfte mit ihm zu betreiben. Heute gibt es nicht mehr Gegner, sondern Feinde, die man isolieren und ökonomisch ausgrenzen möchte oder denen man das Recht auf eine politische Meinung abspricht.

Auch Einschüchterung gehört dazu. Mein Vortrag „Deutschland im Spannungsfeld von Globalisierung und Geopolitik“ am 4. Dezember 2018 an der Universität zu Köln — eine geschlossene Veranstaltung — wurde von einem teilweise gewaltbereiten Mob verhindert, der skandierte: „Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda“ (27). Der Grund: obwohl CDU-Mitglied, galt ich als „AfD-nah“. Für die Inhalte interessierte sich niemand. Lieber greift man gleich zur mittlerweile geradezu inflationär geschwungenen „Nazi“-Vorwurf-Keule.

Totschweigen ist eine weitere beliebte Methode der Einschüchterung von Personen, die sich eine gewisse Medienpräsenz erarbeitet haben. Die öffentlich-rechtlichen Medien beziehen ihre Daseinsberechtigung nicht zuletzt daraus, dass sie die politischen Strömungen im Land angemessen abbilden sollen. Die Realität sieht anders aus. Die zur Zeit des Hambacher Festes von 2018 kleinste Oppositionspartei im Bundestag, die Grünen, waren zum Beispiel in den TV-Talkshows massiv überrepräsentiert, die Alternative für Deutschland, zu jener Zeit die größte Oppositionspartei, wurde dagegen kaum eingeladen. Hier wurde einer Partei bewusst eine große Bühne geboten, eine andere Partei bewusst kleingehalten (28). Auch das ist „Cancel Culture“ und mit dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes nicht vereinbar.

Bei der Einstellungspraxis für Journalisten im öffentlichen Rundfunk verhält es sich ähnlich. Bei den Journalisten verteilte sich laut einer Studie aus dem Jahr 2005 — es liegen nicht viele Erhebungen zu den politischen Selbsteinschätzungen von Medienschaffenden vor — die politische Sympathie wie folgt: Grüne 35,5 Prozent, SPD 26 Prozent, CDU 8,7 Prozent, FDP 6,3 Prozent, sonstige 4 Prozent, keine Partei 19,6 Prozent (29).

Umfragen bestätigen, dass in Deutschland mittlerweile ein Klima der Repression, Meinungsunterdrückung und sogar Angst herrscht. Im Jahr 2019 machte eine Allensbach-Umfrage Furore, nach der die Mehrheit der Deutschen öffentliche Aussagen zu kontroversen Themen vermeidet. Selbst privat wollen sich 40 Prozent aus Angst dazu nicht äußern (30). Eine Wiederholung der Umfrage im Jahr 2021 ergab, dass die Meinungsfreiheit nach Meinung der Bürger sich auf einem Rekordtief befinde (31). Es wäre also dringend notwendig, dass Mitglieder der Mehrheit sich ehrlich fragen, ob nicht derzeit tatsächlich repressive Zustände im Land herrschen.


Quellenund Anmerkungen

(1) Johann Georg August Wirth, Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. 2 Bände. Neustadt 1832.
(2) Holger Kreitling, Wo die schweigende Mehrheit „Bravo“ in die Menge brüllt, in: Die Welt, 5. Mai 2018, https://www.welt.de/politik/deutschland/article176099912/Neues-Hambacher-Fest-Wo-die-schweigende-Mehrheit-Bravo-in-die-Menge-bruellt.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023; dpa/lrs, „Neues Hambacher Fest“ startet mit Gegendemonstration, in: Die Welt, 5. Mai 2018, https://www.welt.de/regionales/rheinland-pfalz-saarland/article176093016/Neues-Hambacher-Fest-startet-mit-Gegendemonstration.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023; Holger Kreitling, Das „Neue Hambacher Fest“ ist eine Art Wacken-Festival für Politmetal, in: Die Welt, 4. Mai 2018, https://www.welt.de/politik/deutschland/article176071954/Patriotenmarsch-Das-Neue-Hambacher-Fest-ist-eine-Art-Wacken-Festival-fuer-Politmetal.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023; Johannes Bebermeier, Max Otte: „Es herrschen zensurähnliche Zustände“, in: t-online, 5. Mai 2018, https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_83704312/hambacher-fest-max-otte-es-herrschen-zensuraehnliche-zustaende-.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023; Justus Bender, „Zeigen, dass unser Vaterland lebt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Mai 2018, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/neues-hambacher-fest-zeigen-dass-unser-vaterland-lebt-15575247.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023; Marc Felix Serrao, Ein Fest für die Teilung Deutschlands, in: Neue Zürcher Zeitung, 6. Mai 2018, https://www.nzz.ch/international/schloss-mit-lustig-ld.1383674, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(3) Jan Petter, Warum heute viele AfD-Anhänger auf einen Berg laufen, in: Der Spiegel, 5. Mai 2018, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/max-otte-warum-zum-neuen-hambacher-fest-viele-rechte-und-afd-anhaenger-auf-einen-berg-laufen-a-00000000-0003-0001-0000-000002351980, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(4) Jens Thurau, Kapert die AfD das Hambacher Fest?, in: Deutsche Welle (DW), 4. Mai 2018, https://www.dw.com/de/kapert-die-afd-das-hambacher-fest/a-43645588, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(5) Serrao, Ein Fest für die Teilung Deutschlands (wie Anm. 2).
(6) Johann Braun, Hambacher Feste. Nationale Einheit und Freiheit gestern und heute. Köln 2019, 11-12.
(7) Braun, Hambacher Feste (wie Anm. 6), 16.
(8) Braun, Hambacher Feste (wie Anm. 6), 16-17.
(9) Braun, Hambacher Feste (wie Anm. 6), 36.
(10) Max Otte, Die Eröffnungsrede von Max Otte zum Neuen Hambacher Fest, in: YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=ZzLYEOmtA10&t=95s, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(11) Harald Welzer, Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Frankfurt/Main 2016.
(12) Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt/Main-New York 2018.
(13) Frank Schirrmacher (Hrsg.), Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Berlin 2015.
(14) Der Landesbeauftrage für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Rheinland-Pfalz, 40 Jahre Datenschutz in Rheinland-Pfalz — Jubiläumsveranstaltung im Landtag trifft auf enorme Resonanz, Pressemitteilung vom 10. November 2014, https://www.datenschutz.rlp.de/de/aktuelles/detail/news/detail/News/40-jahre-datenschutz-in-rheinland-pfalz-jubilaeumsveranstaltung-im-landtag-trifft-auf-enorme-reson/, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(15) Thomas Thiel, Insulaner auf dem Campus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 2018, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kommentar-die-diskussionsverbote-an-der-universitaet-siegen-15845056.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023; Dieter Schönecker, Der Schutz der Freiheit, in: Schweizer Monat, 22. Februar 2019, https://schweizermonat.ch/der-schutz-der-freiheit/, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(16) Privatinvestor Politik Spezial, Abschiedsvorlesung Prof. Dr. Max Otte am 15. Mai 2019 an der Hochschule Worms Gegendemonstration, Pressemitteilung vom 21. Mai 2019, https://www.openpr.de/news/1049524/Abschiedsvorlesung-Prof-Dr-Max-Otte-am-15-Mai-2019-an-der-Hochschule-Worms.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(17) Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Frankfurt/Main 1956.
(18) Gustave Le Bon, Psychologie der Massen. Stuttgart 1982, 10-45, 54-113.
(19) Wilhelm Röpke, Mass und Mitte. Erlenbach (Schweiz) 1950.
(20) Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012, 96-126.
(21) Christopher Chabris, Daniel Simons, Der unsichtbare Gorilla. Wie unser Gehirn sich täuschen lässt. München 2011.
(22) Alex Matthews, Fran Norris, When is believing „seeing“? Hostile attribution bias as a function of self-reported aggression, in: Journal of Applied Social Psychology 32 (2002), 1-32; Bertram Malle, Actor-observer asymmetry in attribution: A (surprising) meta-analysis, in: Psychological Bulletin 132 (6), 895-919 (2006).
(23) Matthews, Norris, When is believing „seeing“? (wie Anm. 22); Malle, Actor-observer asymmetry in attribution (wie Anm. 22).
(24) Keith Payne, The Broken Ladder: How Inequality Affects the Way We Think, Live, and Die. New York 2017.
(25) The Declaration of Independence (Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten), Declaration_ReadTheDeclaration.pdf (constitutionfacts.com), Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(26) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(27) Tobias Pastoors, So erlebte ich den Protest vor Auftritt von AfD-nahem Ökonom Otte, in: Focus online, 5. Dezember 2018, https://www.focus.de/politik/deutschland/an-der-uni-koeln-so-erlebte-ich-den-protest-vor-auftritt-von-afd-nahem-oekonom-otte_id_10027303.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(28) gb/si, Diese Politiker haben 2019 in Talkshows ihre Parteien vertreten, in: Handelsblatt, 30.12.2019, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/anne-will-und-hart-aber-fair-diese-parteien-waren-2019-am-haeufigsten-vertreten-platz-5-bis-6/25351462-2.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023; René Springer, AfD in öffentlich-rechtlichen Talkshows, https://rene-springer.info/afd-in-talkshows/, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(29) Jan Fleischhauer, Rot-grüner Mainstream: Die zwei Gründe, weshalb Journalisten viel linker als das Land sind, in: Focus online, 8.2.2020, https://www.focus.de/politik/deutschland/schwarzer-kanal/der-schwarze-kanal-warum-sind-die-meisten-journalisten-links_id_11639898.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(30) Zeit online u.a., Mehrheit vermeidet öffentliche Aussagen zu vermeintlichen Tabuthemen, in: Zeit online, 23. Mai 2019, https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-05/meinungsfreiheit-oeffentlichkeit-deutsche-ifd-allensbach-studie, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.
(31) o. A., Rekordtief: Noch nie glaubten so wenige Deutsche an die freie Meinungsäußerung, in: Focus online, 16. Juni 2021, https://www.focus.de/politik/deutschland/allensbach-umfrage-mehrheit-der-deutschen-ueberzeugt-die-meinungsfreiheit-ist-in-gefahr_id_13403028.html, Aufruf zuletzt am 1. März 2023.


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