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Gedanken einer Monade

Gedanken einer Monade

Nicht Wissen ist der Zement der Wahrheit, sondern Nichtwissen.

Über mir ein Himmel, wie er sich nur in der Kühle eines Novembertages auftut: blau. Nicht blassblau, nicht tiefblau, einfach blau. Mit losgelösten hellweißen Wolken, die von ihrer Form und Größe her darauf schließen lassen, dass sie in ein und derselben Manufaktur gefertigt wurden. Magritte war verliebt in sie. Gottfried Wilhelm Leibniz fällt mir ein und seine Monaden-Theorie. Sie besagt, dass die Welt aus unteilbaren geistigen Substanzen besteht, den Monaden eben. Diese Wolken erinnern mich an sie. Jede Monade, so Leibniz, ist ein geistiges Atom, das die ganze Welt in sich widerspiegelt und von Wahrnehmungen durchdrungen ist. Obwohl sie im Verbund segeln, haben sie keinerlei Kontakt zueinander. Dennoch sind ihre internen Prozesse perfekt aufeinander abgestimmt.

Was einem nicht alles durch den Kopf geht, wenn man sie ziehen sieht. Wenn man sieht, wie sie sich verschieben, ihre Form verändern und an den Rändern golden aufblitzen, sobald sie der Sonne in die Quere kommen. Was bin ich froh, niemals in Versuchung geraten zu sein, für irgendetwas eine Erklärung finden zu wollen. Stattdessen habe ich mich, einer Monade gleich, ein Leben lang von Wahrnehmungen durchdringen lassen, die wohlige Schauer auszulösen vermögen. Je älter ich werde, desto schlüssiger erscheint mir jener Satz, den ich vor Jahren in einem Artikel als provokantes Statement gegen die krampfhaften Bemühungen gesetzt hatte, mit der wir fort Geschrittenen dem Leben auf die Spur zu kommen versuchen, was nur Schwindel im Kopf verursacht — weil sie Schwindel sind. Der Satz lautet: Nicht Wissen ist der Zement der Wahrheit, sondern Nichtwissen!

Niemand soll denken, dass er die Wahrheit ertrüge. Er würde verglühen, falls sie sich ihm mit einem Schlage offenbarte. Es ist gerade die Unwissenheit, die uns schützt.

Die Geheimnisse entziehen sich dem Verstand, nur die Poesie darf sich ihnen in bescheidener Weise nähern. Poesie klingt, sie erklärt nicht. Sie ist der Resonanzboden für die Schwingungen des Lebens.

Nichts von dem Weltbild, das wir uns gemalt haben, hat Bestand. Die Farben auf dem Gemälde zerfließen, als sei es einem Säureattentat zum Opfer gefallen. Festgebackene Meinungen, Gerechtigkeitsfantasien, die Vorstellung von Gut und Böse, ja selbst die Vorstellung von Liebe — das alles rinnt über den goldenen Rahmen eines falsch verstandenen Lebens und tropft auf den Boden der Realität, wo es sich in einer unansehnlichen Lache wieder vereint.

Die Wissenschaft begreift das Leben als Versuchskaninchen, dem man seine Geheimnisse auf dem Seziertisch zu entreißen versucht. Das ist dumm und anmaßend. Wir können noch so tief in den Mikro- oder Makrokosmos steigen, wir können die Dinge in Zahlen fassen oder ihnen Namen geben, dem göttlichen Mysterium kommen wir damit nicht auf die Spur. Es sind nur Zahlen und Namen, es sind nur Etiketten.

Etiketten sind keine Wahrheiten, Etiketten haben keine Seele. Und sie berauben uns der Ehrfurcht. Ein ehrfürchtiger Mensch weiß, dass sich das Mysterium Leben niemals zu Wissen reduzieren lässt.

Bewusstsein ist keine Frage des Lernens, es ist eine Frage des Verlernens geworden. Nichtwissen ist der Zement der Wahrheit, capice?

Wenn ich den Schöpfer um etwas bitten dürfte, so wäre es der Wunsch, eine Schutzfolie um das menschliche Gehirn zu wickeln, die den Lärm der Welt außen vor lässt. Bevor die Folie übergestülpt werden kann, muss unser Gehirn allerdings einer gründlichen Reinigung unterzogen werden. Der Herr müsste sozusagen mit der Drahtbürste in sämtliche Gehirnwindungen gehen, um den Gedankenschrott von Jahrhunderten zu lockern, bis dieser als Feinstaub zu Boden rieselt, den Nacktmullen und anderem Getier zum Fraß. Jetzt, erst jetzt, finden wir langsam in die Zeugenschaft, die uns das Leben entspannter betrachten lässt, als zu Zeiten, da das Ego nur Zerrbilder von ihm produzierte. Die Zeugenschaft ist ein Zustand, ein Geschenk, das verabreicht wird, sobald wir den Vorhof zur Stille betreten.

Wenn der Verstand beiseite tritt und sich ausschließlich der Aufgabe widmet, die ihm zugewiesen wurde, nämlich den Verkehr zu regeln und uns sicher durch die Wirren des Lebens zu führen, wenn das passiert, übernimmt das Herz. Es macht uns mit dem ersten kosmischen Gesetz vertraut, das da lautet:

„Nicht nur das, was wir tun, sondern auch, was wir denken und fühlen, steht mit allen anderen Taten, Gedanken und Gefühlen sämtlicher Mitwesen auf diesem Planeten in ständiger Verbindung und bedingt einander, sodass aus diesem Konglomerat der jeweils augenblickliche Zustand der Welt erwächst.“

Alles, wirklich alles, ist auf der Erde langfristig auf Frieden und Harmonie ausgerichtet, es gibt keinen „Ausweg“ — außer der Selbstzerstörung. Frieden und Harmonie sind im Angebot, greifen wir zu. Und wenn es uns nicht im Kollektiv gelingt, wonach es leider aussieht, so ist es doch für jeden Einzelnen möglich, seinen pulsierenden Frieden zu finden. Dazu muss man ein Gefäß bleiben, das man nicht mit unnötigen Gedanken und falschen Postulaten abfüllen darf.

Zum Schluss drängt es mich, meinen Verstand noch schnell um Entschuldigung zu bitten. Immerhin verfügt er über Erinnerungen. Erinnerungen haben nichts mit den „Erkenntnissen“ zu tun, die er sich fahrlässig, fast überheblich zurecht geschustert hat und die mir so vehement im Weg stehen. In Erinnerungen kann man schwelgen, das tue ich gerne. Sie geben mir das Gefühl, mich von der Lebenswirklichkeit meiner Mitmenschen nicht gänzlich entkoppelt zu haben. So denke ich aus unerfindlichen Gründen immer wieder an die Namen der HSV-Mannschaft, der ich einmal sehr nahe gekommen war, ohne sie richtig wahrnehmen zu können.

Es war 1961 im alten Stadion am Rothenbaum. HSV gegen VFB Oldenburg. Mein Vater hatte mich mitgenommen, nachdem ich zuvor beim Augenarzt gewesen war, quasi als Belohnung. Er hatte allerdings nicht bedacht, dass man mir zuvor Tropfen in die Augen geträufelt hatte, die mich die Außenwelt nur schemenhaft wahrnehmen ließen. Und so tobten meine Helden in ihren roten Hosen wie Geister durch mein Blickfeld. Ihre Namen haben mich nie verlassen. Ich benutze sie wie ein Mantra, wenn mich die Außenwelt wieder einmal mit Einkreisung bedroht, das wirkt:

Horst Schnoor, Jupp Posipal, Fritz Laband, Jochen Meinke, Klaus Neisner, Erwin Piechowiak, Jürgen Werner, Uwe Seeler, Charly Dörfel, Klaus Stürmer, Bernd Dörfel.

Voilà! Ich habe noch mehr solcher Tricks auf Lager, je nach Situation. Es gilt schließlich, mit den Menschen im Training zu bleiben, das verlangt die Akrobatik des Alltags.


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