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Gewerkschaft als Handlanger bunter Revolution?

Gewerkschaft als Handlanger bunter Revolution?

Gericht in St. Petersburg verbietet unabhängige Gewerkschaft „MPRA“, die mit Streiks einen vorbildlichen Tarifvertrag erkämpfte.

Gewerkschaft mit Pionierrolle

Im nachsowjetischen Russland hat die MPRA eine Pionierrolle. 2007 erkämpfte die Gewerkschaft im Ford-Werk Wsjewoloschsk bei St. Petersburg in einem 25 Tage dauernden Streik eine Lohnerhöhung von elf Prozent. Außerdem setzte die Gewerkschaft in dem Ford-Werk einen Tarifvertrag durch, der für die Gewerkschaften in anderen Automobilbetrieben zur Richtschnur wurde.

Mit Monatslöhnen von umgerechnet 900 Euro liegt das Ford-Werk bei St. Petersburg im oberen Bereich der Löhne für russische Arbeiter und Arbeiterinnen.

Mitte der 2000er Jahre schossen die Produktionsstätten europäischer und japanischer Autokonzerne in Russland wie Pilze aus dem Boden. In den Großräumen Moskau und St. Petersburg begannen fast alle bekannten ausländischen Automobilkonzerne Tochterunternehmen aufzubauen, in denen sie ihre Autos für den russischen Markt endfertigen ließen.

Die gute Wirtschaftskonjunktur in Russland führte zu einem stark steigenden Absatz von ausländischen Autos. In den meisten der neuen Werke gab es aber weder Gewerkschaften noch Tarifverträge. Diese mussten erst mühsam erkämpft werden. Die ausländischen Arbeitgeber stimmten der Bildung von Gewerkschaften nur wiederwillig zu (3).

Wegen der sinkenden Einkommen ging die Nachfrage nach Autos in Russland in den letzten Jahren stark zurück. Die Auto-Produzenten begannen Mitarbeiter zu entlassen. Der Zeitpunkt um – das erste Mal in der nachsowjetischen Geschichte – eine Gewerkschaft zu verbieten, ist günstig gewählt. Offenbar geht man davon aus, dass es keinen großen Widerstand geben wird.

Der Leiter der MPRA, der charismatische Schweißer Aleksej Etmanow, hat angekündigt, dass man die Entscheidung des Stadtgerichts von St. Petersburg anfechten und zur Not bis vor das Oberste Gericht ziehen wird. Außerdem kündigte Etmanow an, die Gewerkschaft unter dem Namen „MPRA-Aktion“ neu zu registrieren.

Vorwürfe: „Ausländischer Agent“ und „politische Tätigkeit“

Die Richterin des Stadtgerichtes St. Petersburg begründet das Verbot der MPRA mit zwei Argumenten. Zum einen habe die Gewerkschaft über die Jahre 470.000 Euro vom internationalen Gewerkschaftsdachverband IndustriALL (4) mit Sitz in Genf erhalten und sei damit ein „ausländischer Agent“. Die MPRA hätte sich freiwillig als „ausländischer Agent“ registrieren lassen müssen. Außerdem sei die MPRA „politisch tätig“, was in ihrem Statut nicht vorgesehen sei.

Was die finanziellen Beziehungen zum Dachverband IndustriALL betrifft, nennt MPRA-Chef Etmanow andere Zahlen.

Gegenüber der Nowaja Gaseta erklärte Etmanow, dass seine Gewerkschaft jährlich Mitgliedsbeiträge in Höhe von 1.470 bis 3.700 Euro an den internationalen Dachverband in Genf zahle. Von der IndustriALL habe die MPRA in den letzten beiden Jahren nur umgerechnet 5.147 Euro bekommen. Das Geld sei für Schulungsmaßnahmen für Gewerkschaftsmitglieder ausgegeben worden.

Der Richterspruch gegen die MPRA ist delikat, denn noch neun weitere russische Gewerkschaften sind Mitglied des internationalen Dachverbandes IndustriALL. Und diese neun Gewerkschaften stehen nicht im Verdacht von Radikalität. Sie sind zugleich Mitglied im staatsnahen russischen Gewerkschaftsdachverband FNPR, der zwanzig Millionen Mitglieder hat.

Beobachter fragen sich, ob nun auch andere Gewerkschaften in Russland unter Druck kommen werden.

Das Verbot der MPRA wurde außerdem begründet mit deren „politischer Tätigkeit“, die im Statut der Gewerkschaft nicht vorgesehen sei. Die Richterin im Stadtgericht von St. Petersburg beanstandete, dass die MPRA Unterschriftensammlungen zur Unterstützung von kleinen Transport-Unternehmen durchführte, die gegen die Einführung einer Fernstraßenmaut für Lastwagen protestieren. Beanstandet wurde auch ein Aufruf gegen die Schließung von Krankenhäusern in Moskau im Jahre 2016 sowie eine Unterschriftensammlung für eine gesetzliche Indexierung der Löhne, die damit an die Inflationsrate gekoppelt werden sollen.

Kritik am Verbot vom staatsnahen Gewerkschaftsdachverband

Unterstützung bekam die MPRA von Aleksandr Scherschukow, dem Sekretär das Gewerkschaftsdachverbandes FNPR, der in der Tradition der sowjetischen Gewerkschaften steht und in der Lohnpolitik zurückhaltend ist. Auf der Website der FNPR-Zeitung „Solidarnost“ erklärte Scherschukow das Urteil des Stadtgerichts von St. Petersburg als „deutlich nicht richtig und schädlich“. Man könne die Forderung nach einer gesetzlich festgelegten Indexierung der Löhne an die Inflation nicht als politisch bezeichnen, sagte der FNPR-Sekretär.

Nach dieser Argumentation könne man jegliche Gewerkschaftsforderung, welche die Bedingungen der Arbeitswelt betrifft, als politisch bezeichnen.Was die Zahlungen des internationalen Gewerkschaftsdachverbands IndustriALL an die MPRA beträfe, so ständen diese unter dem Schutz einer Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf.

Die FNPR-Zeitung „Solidarnost“ veröffentlichte zudem Auszüge aus einer Erklärung der International Trade Union Confederation (ITUC) mit Sitz in Brüssel, wonach das Verbot der MPRA eine „klare Verletzung des Vereinigungsrechts“ darstellt, „welches in der Konvention der International Labor Organisation Nr. 87 garantiert ist.“

Das Verbot schaffe einen „sehr schlechten Präzedenzfall für Russland im internationalen Maßstab“, erklärte ITUC-Generalsekretärin Sharon Barrow. Die russische Regierung wird in der Erklärung aufgefordert, „seine Verpflichtung zum Schutz fundamentaler Rechte auszuüben.“

Wer steckt hinter dem Verbot?

Der Leiter der MPRA im Gebiet St. Petersburg, Igor Temtschenko, erklärte gegenüber der Nowaja Gaseta, dass hinter dem Urteil gegen die MPRA vermutlich Anatoli Artamanow, der Gouverneur des südlich von Moskau gelegenen Gebietes Kaluga, steckt. Artamanow hat im Gebiet Kaluga zahlreiche ausländische Firmen – darunter VW – in einer Sonderwirtschaftszone angesiedelt.

Offenbar wolle der Gouverneur den Einfluss der MPRA, die bei „Volkswagen Kaluga“ eine starke Betriebsorganisation hat, verringern .

Bereits im März 2016 strahlte der örtliche Fernsehkanal Nika TV den Film „Die Mechanik der Gewerkschaft“ aus. Ohne Quellen zu nennen wird in dem Film behauptet, dass die MPRA von der amerikanischen Organisation USAID Geld bekam. Schulungsmaßnahmen der MPRA würden auch von der Friedrich-Ebert- und der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert. Auf den Demonstrationen der MPRA sehe man auch die rot-schwarzen Flaggen der Anarchisten. Dass Anarchisten auch Autos anzünden, wurde in dem Film mit Bildern „belegt“.

In dem „Enthüllungsstreifen“ kommt auch ein Wirtschaftsexperte zu Wort, der warnt, dass die Tätigkeit der MPRA die Investitionsbereitschaft ausländischer Investoren im Gebiet Kaluga bremst. Hinter der Tätigkeit einer Gewerkschaft ständen „nicht selten“ Konkurrenten, die anderen Unternehmen schaden wollten.

Die Arbeitsplätze von mehreren tausend Menschen im Gebiet Kaluga seien gefährdet, warnt in dem Streifen eine Stimme aus dem Off. Die Mitglieder der MPRA wüssten nicht, dass sie von ausländischen Mächten benutzt werden könnten, um in Russland eine Revolution – wie in der Ukraine – zu organisieren. Um diese Gefahr zu unterstreichen zeigte der Fernsehkanal Bilder von brennenden Barrikaden in Kiew 2013/14.

Die russischen Gewerkschaften

Nach der Auflösung der Sowjetunion übernahm die neugegründete Föderation der unabhängigen Gewerkschaften (FNPR, heute 20 Millionen Mitglieder) das Eigentum des sowjetischen Gewerkschaftsverbandes. Die FNPR hat ein enges Verhältnis zur Kreml-nahen Partei Einiges Russland und führt die alte Tradition der Betriebsgemeinschaft aus Sowjetzeiten fort.
In der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurden jedoch noch weitere Gewerkschaften gegründet, die eher das Prädikat „unabhängig“ verdienen, wie zum Beispiel die 1995 gegründete Gewerkschaft „Konföderation der Arbeit“ (KTR) mit heute zwei Millionen Mitgliedern.


Quellen und Anmerkungen:

(1) http://www.ntv.ru/video/1552391/
(2) https://mpra.su
(3) Siehe Ulrich Heyden/Ute Weinmann, Opposition gegen das System Putin, Zürich 2009, S. 135-160
(4) Die Mitgliedsverbände des IndustriALL haben heute insgesamt 50 Millionen Mitglieder in 140 Ländern. Von den deutschen Gewerkschaften sind die IG Metall und die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Mitglieder der IndustriALL. IndustriALL wurde 2012 gegründet. Gründer waren die Internationalen Gewerkschaftsdachverbände IMF (Internationaler Metallgewerkschaftsbund), ICEM (International Federation of Chemical Energy, Mine and General Workers´ Unions) und ITGLWF (International Textile, Garment an Leather Workers' Federation).


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