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Gnade vor Recht

Gnade vor Recht

Die Bundesregierung beschwört die Verantwortung aus dem Holocaust als Grund für die Unterstützung Israels. Die Naziverbrechen selbst wurden aber nur unzureichend aufgearbeitet. Exklusivauszug aus „Nakba 2.0“.

Auch Kanzler Scholz stellte zehn Tage nach dem Massaker der Hamas am 17. Oktober 2023 fest: „Die deutsche Geschichte und unsere aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung machen es uns zu unserer Aufgabe, für die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel einzustehen“ (1). Das gilt nach einem Beschluss des Bundestages sogar als Staatsräson. „Das ist einmalig in der Welt“, sagt die Rechtstheoretikerin Marietta Auer, Direktorin Rechtstheorie des Max-Planck-Instituts in Frankfurt am Main. Staatsräson bedeute eigentlich, das Überleben des eigenen Staates stehe über allem oder werde über alles gestellt. „Und das Interessante hier ist, dass stellvertretend das Überleben eines anderen Staates zur eigenen Staatsräson gemacht wird.“ Auer betont, dass es sich dabei um einen politischen, keinen rechtlichen Begriff handle (2).

Hätte die oberste Verantwortung nicht sein müssen, die Verantwortlichen für den beispiellosen Massen-mord — und andere Opfer des deutschen Faschismus — zu verfolgen und schonungslos zu verurteilen? Genau das geschah aber nicht. Regierungen, Justiz, Wirtschaft und Gesellschaft Nachkriegsdeutschlands sorgten vielmehr dafür, dass auf dem Boden des bundesdeutschen Rechtsstaates die überwältigende Mehrheit der Täter und der Verantwortlichen für die Ermordung von sechs Millionen Juden nicht zur Verantwortung gezogen wurden.

a) Die bedeutendsten Prozesse fanden Mitte der 1960er-Jahre statt, also 20 Jahre nach Kriegsende. In die-sen zwanzig Jahren konnten die allermeisten Mörder in Ruhe ihren bürgerlichen Berufen oder ihrer Arbeit als Handwerker oder Arbeiter nachgehen. Die Judenvergaser waren voll integriert als Kaufleute, Ärzte, Sparkassenangestellte, Tischler und so weiter.

b) Man geht „von rund 200 bis 250.000 (…) Tätern des Holocaust aus“ (3).

„Gegen die meisten von ihnen ist gar nicht erst ermittelt worden, (…). Aber auch die meisten Ermittlungen, etwa 90.000, wurden eingestellt. Eingeleitet und durchgeführt wurden ein paar hundert. Schuldsprüche und Ermittlungsverfahren stehen in einem numerischen Verhältnis von 1:99.“ (4)

962 Schuldsprüche bezogen auf 200 bis 250.000 Täter bedeuten, dass vom Kriegsende bis August 1994 nur einer von mindestens 208 Holocaust-Tätern zu Gefängnis verurteilt wurde. Jörg Friedrich nennt das die „kalte Amnestie“.

c) „Aus dem System der östlichen Vernichtungslager, die zusammen mit den Einsatzgruppen ein Drittel des Weltjudentums ausgelöscht haben, wurden von der bundesrepublikanischen Justiz rund zwei Dutzende Mörder gegriffen und verurteilt.“ (5)

Insgesamt wurden in den NS-Prozessen 174 Menschen wegen Mordes verurteilt und 778 wegen Beihilfe zu Tötungsdelikten (6). In Auschwitz wurden zwei Millionen Menschen ermordet, überwiegend Juden. In fünf Prozessen verurteilten die Richter nur elf Angeklagte als Mörder. Im Vernichtungslager Treblinka wurden 900.000 jüdische Menschen ermordet. Acht Personen wurden als Mörder verurteilt. Im Vernichtungslager Majdanek wurden 200.000 Menschen getötet. Die Justiz entdeckte einen einzigen Mörder.

Wie kann es sein, dass ein in der Geschichte beispielloser Massenmord von so wenigen Mördern verübt wurde?

Um als Mörder verurteilt zu werden, mussten gemäß § 211 Strafgesetzbuch (StGB) Mordlust, Freude an Tötungen, Heimtücke, Grausamkeit oder andere niedrige Beweggründe individuell nachgewiesen werden. Wenn diese Merkmale fehlten, Morde also teilnahmslos, in Ausübung von beruflichen Pflichten, als Verantwortung gegenüber Vorgesetzten ohne individuelles Zutun ausgeübt wurden — zum Beispiel Zyklon B einem Raum zuzuführen, in dem 2.000 Menschen auf ihren Erstickungstod warteten oder Selektion für die Vergasung —, war es eine vorsätzliche Tötung, kein Mord, sondern nur Totschlag. Wenn jemand des Mordes in diesem eingeschränkten Sinne individuell überführt war, musste eine lebenslängliche Freiheitsstrafe verhängt werden.

Wer teilnahmslos als Gehilfe der Judenmord-Gaskammermaschine wirkte, machte sich nur des Totschlags mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren schuldig. Bei 80 Prozent der Mörder stellten die Richter nur Pflichterfüllung beim Töten fest. Gustav Münzberger zum Beispiel wurde in einem Treblinka-Prozess wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 300.000 Personen zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt und kam wegen guter Führung nach sechs Jahren frei (7). Den Mord an 137 Juden büßte er mit einem Tag Gefängnis.

Der § 211 StGB war Nazi-Recht. Es galt in der Fassung vom 4. September 1941 (!!). Erst Mitte der 2010er-Jahre wurde er geändert. Mit der Fassung des § 211 StGB vom 4. September 1941 „steht außer Frage, dass in den Gesetzesformulierungen („Mörder ist, wer...“ beziehungsweise „ohne Mörder zu sein“) die nationalsozialistische Strafrechtsideologie, insbesondere die Tätertypen-Lehre ihren Niederschlag gefunden hat.“ (8)

d) Die Endlösung der Judenfrage bestand in einem industriellen Massenmord. Alle an der Mordmaschine Beteiligten haben sich nach Auffassung des hessischen Generalstaatsanwalts Dr. Fritz Bauer, dem Organisator der Auschwitz-Prozesse, des Mordes schuldig gemacht (9), war doch der Zweck der Arbeitsverhältnisse, die sie eingegangen waren, die tägliche Ermordung von Menschen in großem Umfang.

Zur Verfolgung von industriellem Massenmord gab es keinen Straftatbestand außer dem § 211 StGB. Die Verfolgung des Massenmords hatte keine dazu passende gesetzliche Grundlage außer dem von den Hitlerfaschisten geschaffenen § 211 StGB. Das Grundgesetz schloss in § 103 Absatz 2 sogar ausdrücklich rückwirkendes Recht aus: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“— „Der Grundgesetzartikel 103 Absatz 2 wurde zum juristischen Freibrief für ungezählte NS-Täter“ (10). War Fritz Bauer mit seiner Opposition gegen diesen Grundgesetz-Paragrafen ein Verfassungsfeind?

Der Holocaust konnte also mithilfe des Grundgesetzes nach dem Krieg nur auf der Basis des im Hitlerfaschismus geltenden, vor dem Holocaust verabschiedeten § 211 StGB verfolgt werden.

In den Judenvernichtungslagern nach individuellen Straftaten zu suchen, war jedoch völlig sinnlos und gegenüber den Ermordeten und den Überlebenden völlig verantwortungslos.

Doch der bundesdeutsche Rechtsstaat, den Bauer als feindliche Umgebung wahrnahm, entdeckte Mörder nur bei Bestien wie etwa beim kaufmännischen Angestellten Friedrich Wilhelm Boger, dem Erfinder der Boger-Schaukel, die lustvolle Prügelorgien bis zum Tode erleichterte. Je weiter Menschen, die die Massenvernichtung von Menschen organisiert haben, vom Tötungsvorgang entfernt waren, galten sie dem Rechtsstaat nicht als Mörder. Gegen keinen der nach dem Krieg noch lebenden Teilnehmer der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 wurde Anklage erhoben. Ihre Pensionsansprüche blieben ungekürzt. Aufgabe der Konferenz war, „die Deportation der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas zur Vernichtung in den Osten zu organisieren und die erforderliche Koordination sicherzustellen“ (11).

(...)„Am Diskutieren von Vernichtungsabsichten ist noch kein Jude gestorben. Das war die herrschende Rechtsauffassung. (…) Wer sie (die Vernichtung) plant, ist straffrei bis hinein in die Wannsee-Konferenz. Strafbar ist nur die Leugnung einer so gut wie ungestraft gebliebenen Endlösung.“ (12)

Der Protokollant der Wannsee-Konferenz war SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Reinhard Heydrichs Referent für „Judenangelegenheiten“. Auch er galt dem bundesdeutschen Rechtsstaat nicht als Mörder, da er keine persönlichen Exzesse begangen hatte, sondern nur als Gehilfe ohne niedere Beweggründe. Eichmann war nach seinem Eingeständnis ein Automat, eine Maschine, kein Mörder. Wäre er in Deutschland und nicht in Jerusalem im April 1961 vor Gericht gestellt worden, hätte er nur wegen Beihilfe verurteilt werden können.

Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), die Gestapozentrale, war die antisemitische Schaltzentrale für die Umsetzung des Willens der „Haupttäter“ Hitler, Himmler und Heydrich, alle europäischen Juden umzubringen. Seine Aufgabe war, die zu Ermordenden den Vernichtungslagern zuzuführen. Nicht nur das Lagerpersonal war am Massenmord beteiligt, sondern auch Behördenpersonal fernab der Lager.

„Die Verurteilung des Lagerpersonals ist ohne die Verurteilung des Behördenpersonals ein falsches Alibi.“ (13)

Dem Behördenpersonal mit der Gestapo als Kern wurde die Amnestie durch die Hintertür geschenkt. Da unter dem Behördenpersonal kein Mörder mit niederen Beweggründen zu finden war, waren auch die 70.000 Gestapoleute, die zu Prozessbeginn im Jahre 1968 noch lebten, nur ordnungsliebende Hilfskräfte ohne niedere Beweggründe. Sie konnten also maximal nur mit 3 bis 15 Jahren Gefängnis bestraft werden.

Doch im Oktober 1968 beschloss der Bundestag, dass alle Taten unter dem Titel „Beihilfe zum Mord“ nach 15 Jahren als verjährt galten. Niemand will gewusst haben, was das bedeutete. Dabei war es ganz einfach. Am 8. Mai 1960 waren alle Taten verjährt, die mit einer Haftzeit von 15 Jahren bedroht waren — also auch der Totschlag und seine Beihilfe für KZ-Mord-Bürokraten. Der lange Jahre vorbereitete RSHA-Prozess sollte 1968 beginnen. Zu spät. Er platzte. Das Verfahren gegen Werner Best, den Stellvertreter Heydrichs, wegen 8.000-fachen Mordes wurde 1982 eingestellt. Bruno Streckenbach, verantwortlich für die Einsatzgruppen in Russland, angeklagt, den Tod von einer Million Menschen verursacht zu haben, verschied 1977 friedlich in Hamburg. Die verbliebenen 70.000 Gestapoleute waren amnestiert. Die Bundesregierung sprach von einer „Panne“ (14).

e) Judenmörder wurden also in aller Regel ohne Verfahren faktisch freigesprochen oder in seltenen Fällen nur wegen Beihilfe zum Mord an Zehn- oder Hunderttausenden Juden verurteilt. Wem haben sie eigentlich Beihilfe geleistet, indem sie für den ordnungsgemäßen Ablauf der Tötungsvorgänge sorgten? Es waren vier Menschen, die seit vielen Jahren tot waren. Diese Monster hießen Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich und Hermann Göring. Ihnen konnte zwar kein individueller Mordexzess nachgewiesen werden, sie waren aber dennoch die Haupttäter. Ohne Mörder zu sein, waren sie das Zentrum einer Mordmaschine von dabei „Helfenden“, die Beihilfe für sie leisteten und selbst dadurch nicht zur Mördern wurden.

Das alles blendet Reinhard Müller (FAZ) völlig aus und erklärt stolz: „Der demokratische Rechtsstaat (…) war die unmittelbare Antwort auf mörderischen Totalitarismus“ (15), denn er geht vom „Prinzip der Würde aller Menschen“ aus. „Aller“ Menschen? Skrupellosigkeit ist eine hohe Kunst.


Dieser Text erschien zuerst auf KLARtext.

Anmerkung der Redaktion: Bei diesem Beitrag ist uns ein Fehler
unterlaufen: Tobias Weißert ist nicht der Autor, sondern er hat uns den Text
seiner Freunde übermittelt. Die Autoren sind die Betreiber des Klartext-Blogs und dort einzusehen.

Auszug aus „Nakba 2.0? Israel: ethnische Säuberung als politisches Programm und die deutsche Staatsräson“ im Eigenverlag.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/pressestatement-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-seines-besuchs-im-staat-israel-am-17-oktober-2023-in-tel-aviv-2230822
(2) www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/deutsche-staatsraeson-was-bedeutet-das-eigentlich,TtnrdpA
(3) Hans-Jürgen Döscher: Mordende Verwaltung, FAZ 16. August 2016
(4) Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last, Deutscher zu sein, Hamburg 1987, 136; Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie, München 1994, 367
(5) Jörg Friedrich: Die kalte Amnestie, NS-Täter in der Bundesrepublik, München 1994, 359
(6) Friedrich 1994, 367; Michael Ratz: Die Justiz und die Nazis, Zur Strafverfolgung von Nazismus und Neonazismus nach 1945, Frankfurt 1979
(7) www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/pressestatement-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-seines-besuchs-im-staat-israel-am-17-oktober-2023-in-tel-aviv-2230822
(8) www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/deutsche-staatsraeson-was-bedeutet-das-eigentlich,TtnrdpA
(9) Hans-Jürgen Döscher: Mordende Verwaltung, FAZ 16. August 2016
(10) Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987, 136; Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie, München 1994, 367
(11) https://de.wikipedia.org/wiki/Wannseekonferenz
(12) Friedrich 1994, 501
(13) Friedrich 1994, 436
(14) Friedrich 1994, 434-438;
(15) Reinhard Müller, www.faz.net/aktuell/politik/inland/antisemitismus-und-angriffe-auf-juedische-einrichtungen-fortwaehrende-schande-19365504.html

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