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Heraus aus der Liebesfalle!

Heraus aus der Liebesfalle!

Wir sollten vermeiden, dass Traumata der Vergangenheit unsere Beziehungen in der Gegenwart überschatten. Austausch mit dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz.

Kerstin Chavent: Lieber Hans-Joachim Maaz, als ehemalige Krebspatientin habe ich im eigenen Körper erfahren, dass verdrängte und unausgedrückte Gefühle krank machen können. Nachdem ich lange Zeit geglaubt hatte, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wurde mir während meiner Genesung klar, dass ich nie wirklich gelernt hatte, meine Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen und zu respektieren.

Oft funktionierte ich so, wie andere es von mir erwarteten, beziehungsweise wie ich glaubte, dass sie es erwarten. Durch meine Krankheit wurde es für mich lebenswichtig, Zugang zu meinem authentischen Wesen zu finden und den Mut zu entwickeln, mich in der Einzigartigkeit, die jeden Menschen ausmacht, zu zeigen. Aus diesem Grund berührt mich Ihr Buch „Die Liebesfalle“. Es sensibilisiert für das unbewusste Wirken alter Muster in uns und macht Mut, in sich hinein zu fühlen und sich unverstellt mitzuteilen. Was war Ihre Motivation, ein solches Buch zu schreiben?

Hans-Joachim Maaz: Das Motiv, die „Liebesfalle“ zu schreiben, ist in meiner psychotherapeutischen Arbeit entstanden: durch die bittere Erfahrung, dass viele Menschen ihr Leben leidvoll erleben, ohne Kenntnis, dass sie sich selbst an ihrem Leben schuldig machen. Dass sie aus Untiefen ihrer Seele gespeicherte, aber unbewusst gewordene belastende Erfahrungen wiederholen. Sie waren Opfer frühkindlicher Verletzungen und wurden zu Tätern unglücklicher Lebensgestaltung.

Der Wiederholungszwang hat zwei wichtige Bedeutungen: Er macht aufmerksam auf Erlittenes — das ist eine Chance der Selbsterkenntnis, wenn man Antworten sucht, weshalb einem das eigene Leben so wenig befriedigend gelingt. Und die Reinszenierung von Konflikten ermöglicht eine emotionale Entlastung aus dem Gefühlsstau, tragischerweise nur am falschen „Objekt“. Jetzt müssen Partner, Freunde, Vorgesetzte herhalten, was mit den Eltern nicht ausgetragen werden konnte.

In der Wiederholung werden frühere Erfahrungen auf heutige Personen oder Situationen übertragen, die man dann stellvertretend beschuldigen und bekämpfen kann. Also potentielle Freunde und Partner werden mit den alten Erfahrungen beladen und man kann den Gefühlsstau aus kindlichen Frühverletzungen jetzt an Beziehungspartnern abreagieren.

Das ist dann eine unglückliche Form der emotionalen Entlastung mit der Tragik, potentiell freundliche, liebevolle, kreative Beziehungen mit Enttäuschung, Vorwürfen und Konflikten zu belasten.

Im Stellvertreter-Krieg wiederholt der Frühverletzte seine schmerzlichen Erfahrungen — und das ist das Tragische — weil er sich darin auskennt, aber bessere Beziehungen nie erfahren hat. Würde er sich wirklich auf Liebevolles einlassen, könnte er dies nicht freudig annehmen und genießen, sondern wäre schmerzlich an das frühe Defizit erinnert. Das ist das Paradoxon: Liebe, nach der man sich so sehnt, führt in den frühen Schmerz des Liebesmangels.

Deshalb organisiert oder provoziert man lieber — unbewusst — unglückliche Beziehungen. Und da man einem Beziehungspartner natürlich immer irgendwelche realen Fehler und Schwächen nachweisen kann, fühlt man sich mit den Vorwürfen und Enttäuschungen in der Partnerschaft im Recht und kann die eigenen übertriebenen Erwartungen, die Provokationen, das eigene Fehlverhalten nicht mehr erkennen.

So ist bei einem Partnerschaftskonflikt immer die wichtigste Frage: Und was ist mein Anteil? Sind meine Erwartungen berechtigt? Kein Partner, keine Partnerin können mütterliches oder väterliches Versagen ungeschehen machen. Sind meine Enttäuschungen realitätsgerecht oder benutze ich partnerliche Schwächen, um meinen aufgestauten Stress abzureagieren? Die eigene Reaktion ist dann unverhältnismäßig heftig! Kann ich akzeptieren, dass jeder Mensch anders ist und niemals meiner Idealvorstellung — die ja aus unerfüllter früher Bedürftigkeit resultiert — entspricht?

Partnerschaft ist immer weniger als ich mir wünsche, aber immer auch eine gute Chance für Ergänzung, Unterstützung, liebevolle Bestätigung und Augenblicke der Lust. Die „Liebesfalle“ beschreibt die berechtigte Sehnsucht nach Liebe, die häufig falschen Wege der „Liebe“ und die Chancen für liebevolle Beziehungen trotz aller Schwierigkeiten.

Wir alle tragen mehr oder weniger verheilte Wunden durch unser Leben. Die meisten von ihnen gehen auf ein Alter zurück, in dem wir Mutter und Vater hilflos ausgesetzt waren. Damit Verletzungen heilen können, nützt es wenig, den Eltern den Rücken zu kehren oder so zu tun, als sei alles so in Ordnung gewesen. Flucht oder Idealisieren lösen das Problem nicht und machen es auf Dauer noch schlimmer.

Doch selbst Menschen, die sich ausgiebig mit ihrer Psyche beschäftigen, kommen nicht immer an ihre alten Verletzungen heran. Der kanadische Psychologe Guy Corneau hat in seinem Buch „Abwesende Väter, Verlorene Söhne“ gründlich mit seiner Vaterbeziehung aufgeräumt, ist jedoch Zeit seines Lebens gegenüber der schlagenden und lieblosen Mutter der „Nice Guy“ geblieben. Wie kann es gelingen, sich von Schuldgefühlen und unerfüllten Liebessehnsüchten zu befreien und Mutter und Vater berührbar zu machen?

Ja, in den ersten Lebensjahren entscheidet die Qualität der mütterlichen und väterlichen Beziehungsfähigkeit über die persönlichkeitsstrukturelle Entwicklung des Kindes. Frühe Beziehungserfahrungen beeinflussen bis in die Gehirnentwicklung den Charakter des Menschen. Die entscheidende Frage ist, ob die elterlichen Beziehungsangebote helfen, das Selbst des Menschen zu spiegeln, zu fördern und seine Entwicklung zu unterstützen, oder wird ein Verhalten des Kindes erwartet, das weniger seine Möglichkeiten und Begrenzungen berücksichtigt, sondern den Vorstellungen und Erwartungen der Eltern entspricht. Das ist natürlich ein weites Feld, wie gesellschaftliche Normen, der Mainstream, politische Korrektheit, die Sozialsituation der Eltern Einfluss nehmen auf die Eltern-Kind-Beziehung.

Mit den Folgen früher Beziehungsstörungen kann kein Kind gut leben: Es wird krank, entwickelt Verhaltensstörungen, oder es passt sich durch Selbstentfremdung an und entwickelt ein falsches Selbst, um den Eltern zu gefallen und später in den Normen der Gesellschaft erfolgreich zu sein. Die Selbst-Entfremdung wird durch sekundäre, erlernbare Ich-Leistungen kompensiert. Damit scheint zunächst alles bewältigt — man wird gelobt, erfährt Anerkennung, macht Karriere — die Kindheit wird häufiger idealisiert, oder man wendet sich betont von den Eltern ab. Beides sind am Ende — auch wenn es zunächst erfolgreich scheint und äußere Anerkennung erfährt — unglückliche Lebenswege.

Um aus dieser „Lebensfalle“ zu entkommen, ist wichtig, dass man

  • seine Lebensgeschichte realitätsgerecht — ohne Idealisierung — zu erinnern lernt;
  • dabei akzeptiert, dass es keine wirkliche Heilung der Frühtraumatisierung gibt — das Erlebte kann nicht ungeschehen gemacht werden, aber die Folgen können besser reguliert werden;
  • dass mit der Erinnerung alle aufgestauten Gefühle — Wut, Hass, Schmerz, Trauer — zum Ausdruck gebracht werden können;
  • und erst mit der emotionalen Verarbeitung werden echte Beruhigung, unverzerrte Realitätswahrnehmung, Verständnis für die Eltern und Vergebung möglich.

Dies ist praktisch therapeutische Arbeit. Es braucht einen Empfänger, einen Zeugen, einen Ermutiger. Gerade die Gefühle aus der Frühverstörung und Selbstentfremdung haben eine existenzielle Bedeutung — es geht um Lebensbedrohung, existenzielle Vernachlässigung, Unterdrückung, um erfahrene Gewalt und Strafe, um seelische Nötigung und Kränkung — alles in allem um körperliche, seelische und soziale Misshandlungen.

Gerade die psychosoziale Traumatisierung geschieht oft unbemerkt, macht keine „blauen Flecken“ bei nach außen „sehr ordentlichen“ familiären Verhältnissen. Die Eröffnung des Gefühlsstaus braucht Schutz, Anleitung und haltende Begleitung. Das „normale“ Fluchen, Weinen und Trauern erreicht zumeist noch nicht die Gefühle der Frühstörung: das Lebensbedrohende, Herzzerreißende, Abgrundtiefe, Vernichtende. Aber wer einen Weg in den Abgrund mit Unterstützung gefunden hat, der wird auch selbstständiger seine Gefühlsarbeit fortsetzen können. Der Gefühlsstau ist reduzierbar, wenn die emotionalen Belastungen immer wieder mal einen Abfluss finden. Die Entlastung von den Folgen einer Frühtraumatisierung ist ein lebenslanger Prozess.

Solange es uns nicht gelingt, die durch unsere Eltern zugefügten Verletzungen zu erkennen und anzunehmen, sind wir nicht in der Lage, mit anderen gleichberechtigte und harmonische Beziehungen einzugehen. Die Partnerschaft, so schreiben Sie, wird zum „Nebenkriegsschauplatz, ein Feld der Unehre, auf dem die nie gelebte Liebe immer wieder mit Getöse zu Grabe getragen wird“. Die anfängliche Liebesbeziehung wird zur Liebesfalle, in der wir immer wieder versuchen, den alten Schmerz durch neuen erträglich zu machen. Wie wird es möglich, dieser Falle zu entkommen?

Dies habe ich soeben beschrieben: Erinnern, sich mitteilen, tiefe (frühe) Gefühle in Therapie aktivieren und bei schützender Begleitung zum Ausdruck bringen. Und bei jedem neuen Konflikt erst auf die „Gefühlsmatte“ gehen, um angemessen, realitätsgerecht mit dem Problem umgehen zu lernen und Verantwortung für den eigenen Anteil zu übernehmen (ich bin — auch — das Problem!).

Im Idealfall, so schreiben Sie, sollte Partnerschaft eine Art Geschäftsbeziehung sein, deren Basis es ist, dass wir einander brauchen. Das klingt nicht sehr romantisch. Vor allem aber sagt es aus, dass eine gute Beziehung Arbeit ist, in der immer wieder neu abgecheckt und verhandelt wird. Welche Voraussetzungen brauchen wir, um gemeinsam eine bessere Beziehungskultur zu entwickeln?

Das Romantische gehört in die Phantasie, in die Kunst und Kultur — nicht in die Partnerschaft. Partnerschaft als „Geschäftsbeziehung“ heißt: geben und nehmen, halbwegs ausgeglichen, zum Vorteil von beiden. Partnerschaft im Sinne der Beziehungskultur ist:

  • zuhören,
  • den anderen verstehen wollen,
  • sich selbst offen mitteilen (Ich-Botschaften),
  • Gefühle zeigen,
  • Hilfe anbieten und sich helfen lassen,
  • Unterschiede akzeptieren,
  • nichts als selbstverständlich nehmen,
  • sich um Kompromisse bemühen,
  • Getrenntes und Trennendes vorwurfsfrei leben und akzeptieren.

Die beste Voraussetzung für eine gute Partnerschaft ist, die eigenen Sehnsüchte, Hoffnungen, Erwartungen und Enttäuschungen nicht auf den Partner, die Partnerin zu richten, sondern für deren Erfüllung selber zu sorgen und Begrenzungen emotional zu verarbeiten (Bedauern, Schmerz, Trauer).

Für das Selbstmanagement kann eine Partnerschaft eine wesentliche Hilfe sein: durch verstehen, spiegeln, helfen, ermutigen, beraten, unterstützen, trösten. Es stimmt schon: Geteiltes (mitgeteiltes) Leid ist halbes Leid und gemeinsame Freude und Lust ist doppelter Genuss.

Partnerschaft ist immer weniger als man möchte, aber auch mehr als allein zu bleiben. Keiner muss eine leidvolle Partnerschaft ertragen, es sei denn, das Leid wird als Ersatzleid gebraucht, um den eigentlichen Gefühlsstau in unendlich kleinen Portionen der real aufgebauten Konflikte abzureagieren: das unendlich streitende Paar!

In Ihrer Arbeit geht es Ihnen um mehr als um das individuelle Wohl. Die Auseinandersetzung mit der Frage „Wer bin ich?“ ist die Basis für eine gesunde und friedliche Gesellschaft. Anstatt das Unverarbeitete, Ungeliebte auf andere zu projizieren und eine Kultur der Feindbilder am Leben zu halten, ist jeder von uns dazu aufgefordert, sich mit seinen eigenen Schatten zu beschäftigen. Das wirksamste Mittel gegen den Krieg, so schreiben Sie, ist die Kapitulation vor den innerseelischen Feinden, die da heißen: Minderwertigkeit, Unsicherheit, Entfremdung und Angst. Wie ist das zu verstehen?

So wie das eigene Belastende und Unverarbeitete als Sehnsucht und Enttäuschung in die Partnerschaft projiziert wird, so können auch Nachbarn, Freunde, Kollegen, Prominente, Politiker, Fremde, Andersdenkende zum Projektionsfeld gemacht werden.

Je größer der Gefühlsstau aus den Frühverletzungen ist, desto mehr braucht der Mensch einen Feind, an dem er sich stellvertretend abreagieren kann. Kollektiv entstehen so der „Erzfeind“ und der „Klassenfeind“, der „Jude“, der „Kommunist“, der „Kapitalist“, der „Populist“, der „Nazi“.

In solchen kollektiven Feindbildern versammeln sich individuelle Verletzungen zu einem gemeinsamen Projektionsfeld, das massenpsychologisch hysterisiert „hilft“, individuelle Verletzungen jetzt ideologisiert, politisiert, moralisierend oder im Religionswahn auszutragen. Gewalt in der Gesellschaft, Kriegslust, Revolutionen sind immer energetisch getragen von einem persönlichen Gefühlsstau, der im kollektiven Wahn eine Ausdrucksform findet.

Aktuell sehe ich einen hysterisierten „Kampf gegen Rechts“, in dem die realen Bedrohungen durch Rechtsextremismus benutzt werden, um die Affekte der ungelösten, der bedrohlichen Konflikte und Fehlentwicklungen der Gesellschaft (Energiewende, Finanzpolitik, Klimaveränderung, EU-Konflikte, Migration, soziale Ungerechtigkeiten und anderes) projektiv unterzubringen, sich stellvertretend abzureagieren und sich von den wirklichen, realen Gefahren abzulenken.

Ähnlich hysterisch wird auf die Klimaproblematik reagiert: Statt sich ernsthaft auf die weltweiten Folgen der Klimaveränderung vorzubereiten — was nahezu unlösbar scheint, aber zwingend notwendig wäre — werden symptomatische Maßnahmen (wie Dieselverbot, Kohleausstieg, CO2-Steuer) zur Rettungsillusion mit hoher affektiver Besetzung (Gefühlsstau!) aufgebaut.

Der individuelle Gefühlsstau sucht fast immer nach kollektiven Bewegungen, um sich in einer Gesinnungsgemeinschaft endlich gut fühlen oder Böses schuldfrei austragen zu können. Wer seine eigene Minderwertigkeit, Unsicherheit, Entfremdung und Angst nicht wissen möchte, muss diese praktisch bei anderen finden, denunzieren und bekämpfen. Wer dies tut, ist kein Demokrat! Aber man kann auch Hoffnung und Sehnsucht, Liebe und Humanität, die in einem Selbst unerfüllt geblieben sind, in kollektiver Verehrung auf Stars, Prominente und Politiker projizieren und sich als Verehrer, Fan und Gutmensch eine Erfüllung vormachen.

Was passiert ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Die Narben der seelischen Verletzungen, die wir in unserer Kindheit erlebt haben, bleiben immer. Welche Rolle spielt dabei unsere Fähigkeit zur Resilienz? Ich denke dabei an die Arbeit des jüdisch-französischen Psychologen Boris Cyrulnik, der erlebte, wie seine Eltern im Konzentrationslager umkamen, und der seine Kindheit in Heimen, Pflegefamilien und Internaten verbringen musste. Was sind Ihrer Erfahrung nach Voraussetzungen dafür, „trotz allem“ ein glückliches Leben zu führen?

Mit einem „trotz allem“ kann man sich autosuggestiv viel vormachen. Es gibt eine aufgesetzte, gemachte Resilienz (die „heldenhafte“), mit der man durchaus auch gefeiert werden kann und sich darüber stabilisiert, bis man dann doch mal krank wird oder zusammenbricht (wenn die Scheinwerfer erloschen, die Mikrofone geschlossen und das Interesse erlahmt sind!). Eine echte Resilienz ist nur bei nicht erlittener Entfremdung möglich oder durch die zuvor beschriebene emotionale Verarbeitung der Frühstörung.

Ich habe erfahren, dass kein Weg daran vorbeiführt, dem Übel „in die Augen zu sehen“. Wer etwa im Falle von Krebs die Sprache des Körpers ignoriert und so weitermacht wie bisher, der riskiert sein Leben. Wir können dieser Realität nicht entfliehen. Gegen etwas anzukämpfen, das sich uns in den Weg stellt, führt zu Krieg und Entzweiung. Heilend jedoch wirken Harmonie, Frieden, Sanftheit und Verbindung. Was kann helfen, die Widerstände, sich mit dem Dunklen und Bedrohlichen in sich zu konfrontieren, zu überwinden?

Meistens bedarf es wirklich einer Krise durch Krankheit, Tod eines Angehörigen, Scheidung, Arbeitslosigkeit, Berentung und anderes, um innezuhalten und nach Ursachen und Lösungen zu forschen. Dann braucht man Informationen, Wissen, Beratung und Hilfe. Allein Wissen und Vernunft reichen in aller Regel nicht, die Widerstände gegen notwendige Lebensveränderungen zu überwinden. Das liegt daran, dass die Widerstände eine zentrale Schutzfunktion ausüben, sehr belastende Erkenntnisse über das eigene Leben zu verhindern.

Wenn es sich um Frühtraumatisierung handelt, sind lebensbedrohliche Erfahrungen abgespalten, verdrängt, verleugnet. Wir müssen bedenken, dass nicht nur Ablehnung und Gewalt gegen ein Kind schwerste Traumatisierung bedeuten, sondern bereits eine von außen kaum erkennbare Lieblosigkeit, Einschüchterung, Kränkung, ein Nicht-Verstehen des Kindes, das damit die Erfahrung machen muss: Ich bin nicht liebenswert, nicht in Ordnung, nicht gut genug.

Wir wundern uns mitunter über unerwartete Selbstmorde bei Jugendlichen, die aber ihre Quelle in frühester Ablehnung und Vernachlässigung haben. Dann reichen ein aktueller Liebeskummer oder Schulkonflikt schon aus, um die früh erlittene Ablehnung im Selbstmord zu vollenden („ich bin es nicht wert!“). Die wichtigste Hilfe ist ein empathischer Kontakt, der Zuhören und Verstehen bietet und emotionalen Ausdruck ermöglicht.

Heilung kann nur erfolgen, wenn Gehirn und Herz zusammenwirken. Es reicht nicht aus, sein Leiden zu analysieren und logisch-rational zu verstehen. Wir müssen noch einmal in die alte Verletzung hinein, sie noch einmal durchfühlen. So gibt es keine Entwicklung ohne Schmerz und Trauer. Das ist schwer zu schlucken in einer Gesellschaft, die sich buchstäblich zu Tode amüsiert und alles Unangenehme auszuklammern versucht. Besonders deutlich wird dies in unserem Verhältnis zum Tod und der zunehmenden Begeisterung für das transhumanistische Ideal. Wie können wir wieder in den Zyklus des Lebendigen zurückfinden?

Sie sagen es: Schmerz und Trauer sind unvermeidbar, wenn die eigene Entfremdung, die sich nicht nur im gemachten Amusement — das ist etwas völlig anderes als Freude und Lust durch Selbstverwirklichung und Befriedigung natürlicher Bedürfnisse —, sondern vor allem auch in den narzisstischen Kompensationen durch materielles Wachstum — kaufen, besitzen, verbrauchen — im „Haben statt Sein“ (nach Erich Fromm) ihren Ausdruck findet.

Noch schlimmer ist, so hat es Horst-Eberhard Richter ausgedrückt: „Wer nicht fühlen will, muss hassen!“ Mit meinen Worten: Der Gefühlsstau als Folge früher Traumatisierung ist die dunkle Quelle für Feindbilder, Hetze, Gewalt und am Ende auch für Kriegslust.

Nur eine schwere Gesellschaftskrise eröffnet — wie eine schwere Erkrankung — eine Chance, bessere Lebensformen zu finden. Das ist leider nicht sehr optimistisch. Auch die Geschichte zeigt uns, dass manche Revolution sehr bald wieder in neuer gesellschaftlicher Fehlentwicklung endet. Um nicht zu resignieren, sehe ich zwei Möglichkeiten:

  1. Das persönliche Bemühen, die eigene Selbstentfremdung zu erkennen und zu vermindern. Das bedeutet aber auch — um die Sprache der aktuellen gesellschaftlichen Indoktrinierung zu verwenden — die Repression durch politische Korrektheit zu überwinden und sich manchen Anfeindungen auszusetzen. Ich interpretiere das Schicksal des Jesus von Nazareth so: Er wurde getötet, weil er sich für Liebe und Frieden engagiert hat. Und das bedroht alle Menschen, die ohne Liebe und nicht friedfertig aufgewachsen sind und daran nicht erinnert werden wollen. Sie haben sich längst in einer lieblosen Welt eingerichtet, in der man auch mit Abhängigen und Bedürftigen gute Geschäfte machen kann und für den kompensierenden Kampf um Macht und Bedeutung viel investiert hat.

  2. Das politische Bemühen, sich in jeder Hinsicht für eine Kindheit, für Eltern-Kind-Beziehungen, für mütterliche und väterliche Beziehungsqualitäten, für optimale familiäre Betreuungsbedingungen (finanziell und emotional) zu engagieren, so dass die Frühtraumatisierung und Selbst-Entfremdung von Kindern als die zentrale Quelle für Erkrankungen, Fehlentwicklungen und Verhaltensstörungen vermindert werden können.

Pessimismus ist nach meiner Erfahrung realitätsgerecht, bezogen auf die bestehende Gesellschaftspathologie. Aber wir sind nicht ohnmächtig und müssen nicht resignieren. Selbsterkenntnis ermöglicht, in Würde zu leben, und ein Engagement für Beziehungskultur schafft sinnvolle Aufgaben.

Um in einer Zeit, wie wir sie gerade erleben, die Hoffnung nicht zu verlieren, helfen mir Bilder, Rituale und symbolische Akte. Ich stelle mir zum Beispiel vor, das Damoklesschwert über meinem Kopf in die Hand zu nehmen. Nicht um gegen etwas oder jemanden anzukämpfen, sondern um die Schichten von mir abzuziehen, die hart und undurchlässig geworden sind. So kann das Licht, für mich die Quelle jeder Art von Heilung, wieder hindurchfließen.

Als sehr hilfreich im Alltag empfinde ich Methoden wie EFT (Emotional Freedom Techniques), Ho’oponopono (hawaiisch etwa: „in Ordnung bringen“) oder Tipi (Technik zur Identifizierung unbewusster Ängste auf Körperebene). Wesentlich ist für mich die Vorstellung, meine „innere Familie“ zusammenzubringen, mir in gewisser Weise selbst Mutter und Vater zu sein und auf die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes zu achten. Welche Gedanken, Bilder und Handlungen haben Sie, um das Versprengte, Abgespaltene wieder nach Hause zu holen?

Ich stimme Ihnen grundsätzlich zu. Mit den von Ihnen zitierten Methoden aber habe ich keine Erfahrung. Ich helfe mir und lasse mir helfen, durch „Mattenarbeit“, das heißt immer wieder mal aufgestaute Gefühle durch psychotherapeutische Körpertherapie zu aktivieren und auszudrücken. Also eine Form ständiger (oder bei Bedarf) emotionaler Reinigung.

Die dabei aufkommenden Bilder, Erinnerungen muss ich aussprechen, besprechen, klären — dabei ist Begleitung nützlich bis erforderlich. Ich führe regelmäßig „Zwiegespräche“ nach Michael Lukas Moeller — um mich unverstellt und unzensiert mitteilen zu können und ebenso vom Gesprächspartner zu empfangen. Auch Träume zu verarbeiten und Bilder zu imaginieren, wie ich es aus der KIP (Katathym-imaginative Psychotherapie) kenne, hilft mir, zu erkennen, zu verstehen, zu verarbeiten und immer wieder zu integrieren. Und integrieren heißt, das Unangenehme, Beschämende, Defizitäre zu akzeptieren und durch Gefühlsarbeit (Wut, Schmerz, Trauer) verarbeiten zu lernen.

Dieser Prozess ist niemals abgeschlossen: Die Welt verändert sich, die eigenen Lebensbedingungen verändern sich, so dass man sich immer mit den eigenen Möglichkeiten und Behinderungen neu finden muss.

Lieber Hans-Joachim Maaz, ich danke Ihnen für diesen Austausch und wünsche mir für uns alle, diesen Weg mit Neugierde und Vertrauen weiter zu gehen.



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