Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Brechts taube Fingerspitzen

Brechts taube Fingerspitzen

Als Bertolt Brecht 1941 in die USA emigrierte, musste er feststellen, dass in Hollywood kein episches Theater, sondern Melodramatik gefragt war — auch aufgrund einer besonders ohnmächtigen Arbeiterklasse.

„Obgleich nicht dem Inhalte, wohl aber der Form nach, ist der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler“ (Kommunistisches Manifest).

In seinem Exil erlebte und erlitt Bertolt Brecht, wie seine in Deutschland erarbeiteten Standards, antiromantischen Bühnentechniken und Talente an den Rand gedrängt blieben. Er muss sich oft gefragt haben, warum sogar die „Dreigroschenoper“ in den USA nur mäßigen Erfolg hatte. Und warum die „Hollywoodianer“ ihn und sein episches Theater nicht akzeptierten. Antonio Gramsci hätte ihm eine Antwort geben können: Er hatte beschrieben, wie Alexandre Dumas‘ „Graf von Monte Christo“ — ein Trivial-Klassiker von „großer Rache kleiner Leute“ — stets nach revolutionären Niederlagen große Auflagensteigerungen erlebte.

Niederlagen hatte die US-Arbeiterbewegung haufenweise eingesteckt. Nicht nur in den Knochenmühlen des „Red Scare“, einer aggressiv antikommunistischen Vorphase des McCarthyismus. Hinzu kamen auch die weltkriegsbedingten Überlagerungen sozialer Widersprüche durch das Militärische — für Hollywood-Ästhetik ein idealistisch-idealer Nährboden für Atomisierung und Ohnmacht.

Werktätige Publikumsgruppen waren entsprechend süchtig geworden nach Schmachtschinken und Happy Ends in orchestralem Weihrauch. In sein „Arbeitsjournal“ notiert Brecht 1942: „Zum ersten Mal seit zehn Jahren arbeite ich nichts Ordentliches.“

Schriftsteller traf das Exil härter als bildende und musizierende Künstler — wenngleich auch Francisco de Goya und Arnold Schönberg dort schwere Einbußen beim widerspenstigen Schaffen erlitten. Der „Form nach national“ (Manifest) heißt eben auch: ästhetisch. Zumal bei unzureichender Fremdsprachigkeit. Und besonders dann, wenn Dichter — wie Brecht — von heimatlichen Publiken für ihren festen Formwillen verwöhnt worden waren, den sie im Ausland kaum so einfach zurückschrauben wollten und konnten.

So ungeheuer mühsam ist die Bühnenarbeit mit fremd(sprachig)em Publikum, weil konkrete Erkenntnisse aus der Geschichte der nationalen Klassenkämpfe so gründlich durchgearbeitet sein mussten, bis sie auch in die Fingerspitzen „vor Ort“ gelangen. Und das betrifft vor allem den Umgang mit Ohnmachtsgefühlen als Vektoren von Geschmäckern.

Brecht zählte nun nicht zu jenen pro-proletarischen Schriftstellern, bei deren Songs in der letzten Strophe die Revolution ausbricht. Ilja Fratkin fragt:

„Warum findet in Brechts Schaffen das Heroische, der bewusste Vorkämpfer des Fortschritts, frei von Fehlern, von Schwankungen und Vorurteilen, so verhältnismäßig selten direkte Gestaltung?“ (Seite 271, Bertolt Brecht, Weg und Methode; Röderberg-Verlag 1977).

Er beantwortet das Fehlen revolutionärer Helden mit historischem Realismus in einer Anmerkung Brechts zum Stück „Die Gesichte der Simone Machard“, dass 1940 „die Franzosen wie vor den Kopf geschlagen waren, demoralisiert, fassungslos“. Aber in Hollywood mangelte es Brecht offenbar an Verständnis für die „Fassungslosigkeit“ eines Volks und dessen heimliches Hypozentrum, die Werktätigen, deren Bewusstsein sich — laut Georg Lukács, Louis Althusser und Bertolt Brecht selber — vor allem in Korrelation zu organisatorischer Stärke entfaltet.

Obwohl Brecht ein kluges Fingerspitzengefühl für den allgemeinen Umgang mit zurückgebliebenem Denken hatte und eben nicht zu jenen Künstlern zählte, die das Ästhetische dabei überschätzten oder gar, wie Adorno, autonomisierten, blieb ihm die konkrete „nationale Form“ der Ohnmacht in den USA fremd.

In „Hollywood-Elegien“ und „Arbeitsjournal“ notierte er schiere Verzweiflung. Ohne allerdings die kommerzielle Publikumsakzeptanz als Spiegel der schwachen werktätigen Organisiertheit fassen zu können: 1941 erreichten zum Beispiel die US-Kommunisten 0,2 Prozent.

Werner Mittenzwei schrieb in seinem großartigen Zweibänder „Das Leben des Bertolt Brecht oder der Umgang mit den Welträtseln“ (Aufbau, 1986):

„Wenn die Organisationen der unterdrückten Klasse zerstört oder umfunktioniert sind, argumentierte Brecht, bleibe dem einzelnen Arbeiter gar nichts anderes übrig, als vorerst einmal nach Zeichen auszuspähen, die die Brüche der diktierenden Klasse erkennen lassen. (…) Selbst dann aber stünden, so Brecht, erst sehr allgemeine, nicht klassenkämpferische Aufgaben“ (Seite 140).

Aber das Sich-Einlassen auf diese polizeilichen und unterhaltsamen Zerstreuungen gelang Brecht eben nur im Deutschsprachigen; anhand der ästhetischen Vorlieben und Lernlüste, in Tuchfühlung mit den in heimischen Geschmäckern abgelagerten Ohnmachtserlebnissen.

Warum ist die Ohnmacht bei alldem so wichtig? Weil Mensch nur lernt, was geht. Er schaltet ab bei dem, was er seinem Eingriff für dauerhaft verschlossen hält. Brecht schrieb zwar: „Keinen Gedanken verschwende an das Unabänderliche!“ Aber was ist schon auf Dauer unabänderlich? Unorganisierte und einzeln Niedergeschlagene entwickeln einen organischen „Pessimismus des Denkens“. Den „Optimismus der Tat“ (frei nach Gramsci) befördert ein optiveres Denken — aber organisiert.

Der allgemeine Umgang von Aufklärern mit der Ohnmacht mag angelesen werden, die Tuchfühlung damit ist punktuell und zunächst regional zu erwerben, oft nur in einem Dorf — wie beim Exil-Dichter Oskar Maria Graf — oder in einem Betrieb, wie im „Proletkult“. Und zwar, weil Ohnmacht einerseits zwar Verinnerlichung struktureller Entfremdung als Ergebnis des unmerklich aus persönlichem Eigentum und Eigenheit entnommenen Kapitals/Mehrprodukts/Arbeitskraft ist, aber andererseits historisch konkret gewachsen. Somit auch veränderbar, vorausgesetzt das angesprochene Ego wird aus der Vereinzelung geöffnet.

Der Ohnmacht zu Leibe zu rücken, heißt für Künstler und andere Psychologen, was Friedrich Engels einem guten Handwerker zuschreibt, dass die ständige Nutzung eines Werkzeugs dieses schließlich „wie einen natürlichen Teil der Hand scheinen“ lässt.

Ähnlich gehört das Fingerspitzengefühl zum Instrumantarium eines gelehrigen Kreativschaffenden.

Für Brecht in Hollywood waren die kommerzielle Auftragslage und die hartnäckigen Klischees erdrückend. Dort waren längst die betriebswirtschaftlich liberalen Wall-Street-Erzählungen vom „Selfmade-Manager“, dem „Tellerwäscher als Millionär“ und vom „klassenlosen“ Aufstieg des Willensstarken eingefleischt in der Alltags-Ästhetik von Superhelden, Western, Liebesdramen und harmonistischen Happy Ends. Ohne zwar damit automatisch gleich Kitsch geworden zu sein, wie einige künstlerische Migranten schimpften; das Wort Kitsch gab es im Englischen nicht mal und musste aus dem Deutschen erst übernommen werden. Aber sozialer Protest blieb rare Schmuggelware in Hollywood.

Mittenzwei beschreibt Brechts Scheitern, seinen Neid auf kommerzielle Drehbuchautoren in Los Angeles und seinen Trotz beim Festklammern am epischen Theater. Aber nirgends erklärt das Genie sich und anderen aus den spezifischen Ohnmachtsgefühlen des Publikumsalltags, warum die Hollywood-Drehbuchmacher mit rückständigen Spannungsbögen so viel erfolgreicher blieben. Am 3. April 1942 vermerkte Brecht, dass in Hollywood sogar aktuelle Lyrik zu „Flaschenpost aus einem Elfenbeinturm“ würde. „Damit“, so Mittenzwei, „wollte er ausdrücken, sie habe für ihn nur Sinn, wenn sie in eine andere Zeit übermittelt werden könne“ (Seite 137).

Die deutschen Migranten trafen sich in Debattierklübchen. Was aber niemandem — und schon gar nicht Brecht — ein Ersatz sein konnte für die einstigen Berliner Diskurse mit Erwin Piscator, Willi Bredel, Johannes R. Becher, Wolf, Ernst Busch und Anna Seghers über eine in die heimischen Klassenkämpfe eingreifende Kunst. Allerdings entfalteten sich im Exil regelrechte Liebesgeschichten. Die gab es mit Leon Feuchtwanger und Charles Laughton. Brecht schätzte besonders Charlie Chaplins Nähe bei sich oder im Hause Feuchtwangers, mehr als etwa die Gespräche mit Alfred Döblin oder Max Horkheimer. Chaplin, der Brecht zwar verehrte, wusste aber auch, laut Hanns Eisler, mit dem epischen Theater wenig anzufangen. Er fand es wohl zu deutsch und nicht dramatisch genug. Der Brite Chaplin hatte bereits seit 1914 in den USA gewirkt, zwar als begeisterungsfähiger Sozialist, aber auf Hollywood eingestellt, auch nach dem Stummfilm.

Brecht wird nachgesagt, „Einfühlung“ in toto negativ gesehen zu haben. Zumal es unter Aufklärern das unausrottbare Missverständnis gibt, dem Rückständigen entgegenzutreten, hieße, der Tuchfühlung mit dem Rückständigen auszuweichen. Aber eigentlich wehrte sich Brecht nur gegen jene Einfühlung, welche kritische Distanz verzehrt, verzerrt und verziert. Und gelegentlich übertrat er seine eigenen Vorgaben. Jede Regel lebt von ihrer Ausnahme. Wo etwa Einfühlung als Besinnung nur jene nachdenkliche Phase markiert, die die Ruhe vor dem Erkenntnissprung ist. Mario Adorf erläuterte mir, wie Brecht ihm einst abgeraten hatte, sich allzu sklavisch nach seinen „epischen Regeln“ zu richten. Im Falle von dem großen Schauspieler Charles Laughton hatte Brecht sogar selber in Los Angeles mit der Umschreibung seines „Galilei“ einen fürs Epische übergroßen Raum für die Entfaltung darstellerischer Persönlichkeit eingeräumt.

Ohnmacht bewirkt strukturelle Erkenntniseinbußen — bis hinein in psychotische Fragmentierungen. Insofern deutet Kommerzialität immer auf ein geschicktes Spiel mit der Ohnmacht hin!

Umgekehrt: Die Nichtbeachtung von Ohnmacht beeinträchtigt ästhetische Wirkung. Ohnmacht zu überwinden heißt: Lust auf Erkenntnis mit Perspektive auf ein Verändern-Können. Das gilt für aufklärende Bühnenkünstler wie Wahlkampfmanager. Das eigene Publikum oder die Wählerschaft aus der Passivität holen zu wollen, wird dann zum Lippenbekenntnis, wenn keine Machtperspektive dabei rausspringt. Ohne real erfassbare Kraft sprießen aus Ohnmacht allenfalls Omnipotenz-Fantasien, die nur beschwerlich wieder für reale Veränderungsperspektiven einzufassen sind.

Das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) brachte sich im Sommer 2024 nach großen Anfangserfolgen um jede Perspektive für die Ohnmächtigen, als es zwar „Frieden mit Russland“ zur Hauptlosung erklärte, dann aber nur mit den Parteien verhandelte, die den Krieg befeuerten. Nicht einmal Gespräche mit der AfD geführt zu haben, ließ am Stammtisch und im Betrieb die Ohnmächtigen ohne wenigstens einen Stinkefinger gegen die Macht. Aber vor allem ohne Erkenntnis, mit wem aus der eigenen Misere herausgeführt werden kann.

Die Menschen sind höchst misstrauisch gegenüber einem „Wünsch Dir was“ der Dichter. Noch aversiver reagieren sie auf Wahlversprechen, wenn keine reale Machtperspektive dahintersteht, keine potenziellen Partner für Straße und Koalitionen benannt und angesprochen werden. Sie fühlen sich dann als alleingelassene Zuschauer, mit deren Wünschen nur gespielt wird. Ohne die nächsten Schritte und Übergänge anzugeben, bleibt ihre Welt unabänderlich. Religiosität, Omnipotenz-Vorstellungen und andere Mythenbildung gedeihen.

Walter Benjamin schrieb in „Der Autor als Produzent“, der Autor müsse als Produzent Einfluss auf den Produktionsapparat gewinnen. Das gilt auch für politische Organisationen. Freilich: Davon waren die proproletarischen Migranten in Hollywood so weit entfernt, wie wir es heute vom Brecht-Theater sind.

Hollywood- und Broadway-Techniken sind für uns aktuell bestimmender als V-Effekt und Ähnliches. Organisieren wir gleichwohl Umstände, unter denen wir wieder an Brechts zivilisatorisch-ästhetische Standards, seine Flaschenpost anknüpfen können. Oder seien wir zumindest aufgeschlossen dafür.


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.

Weiterlesen

Es reicht!
Thematisch verwandter Artikel

Es reicht!

Solange wir unsere Schattenseiten nicht sehen wollen, wird sich die Welt nicht zum Besseren wenden. Eine Antwort auf den Aufruf von Manova, das Politische privat zu machen.

Medikamentöses Vergessen
Aktueller Artikel

Medikamentöses Vergessen

Bei der Behandlung des als „Demenz“ bekannten Krankheitsbildes sind pharmazeutische Produkte nicht die Lösung, sondern die Ursache.

Das Versagen der Linken
Aus dem Archiv

Das Versagen der Linken

Im Rubikon-Exklusivinterview führt der Verleger, Autor und Journalist Hannes Hofbauer aus, warum linke Bewegungen keinerlei Widerstand leisten und wie sich Big Pharma immer mehr Einfluss erkauft.