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Hinter der Kasse

Hinter der Kasse

Jeder kennt sie, jeder braucht sie, kaum einer würdigt sie: die Supermarkt-Kassenkraft. Oft genug muss sie sogar eine falsche Politik gegen die Kunden durchsetzen.

Roberto De Lapuente: Sie arbeiten für einen großen Discounterkonzern, wir lassen den Namen mal weg. Glauben Sie, dass der Chef des Unternehmens, eine milliardenschwere Gestalt, dieselben Sorgen teilt wie Sie, wenn Sie zur Arbeit kommen?

Maria Collin: Also, ich glaube, dass er auch Sorgen hat, aber natürlich nicht dieselben Sorgen wie ich. Um Geld sorgt er sich wahrscheinlich nicht. Er hat andere Sorgen — er hat ja auch viel Verantwortung, würde ich sagen. Nein, unsere Sorgen sind nicht dieselben.

Sie gehören zu einer besonders unsichtbaren Spezies der Arbeiterklasse, obwohl man jeden Tag auf jemanden wie Sie trifft: Sie sind Kassiererin. Nehmen Sie sich selbst als unsichtbar wahr?

In den Medien und in der Öffentlichkeit auf jeden Fall. Auch in Filmen zum Beispiel. Wenn man sich das anguckt, dann wird die Kassiererin dort meistens eher als ungebildet, schroff und auch frustriert dargestellt, eher so als Randerscheinung. Aber im Alltag finde ich schon, dass ich durch die Kundschaft gesehen werde. Es gibt natürlich solche und solche Kunden — aber von vielen wird man als Kassiererin auch wertgeschätzt. Gerade von den Stammkunden.

„Die Aufstiegschancen sind begrenzt“

Ist es denn nicht so, dass man Ihnen mit Handy am Ohr begegnet, während Sie Ihre Arbeit machen?

Doch, natürlich. Viele tragen Ohrstöpsel — und als Kassierer weiß man dann einfach gar nicht, hört er mich, hört er mich nicht? Man fühlt sich dann teilweise schon nicht respektiert. Ich glaube, das nehmen diese Menschen gar nicht mehr so wahr. Die leben einfach in einer anderen Welt. Anders kann ich mir das nicht erklären. Gerade bei den jüngeren Leuten, die haben da keinen Bezug mehr zu, dass man eigentlich respektvoll miteinander umgehen soll. Vor 50 Jahren war es noch so, dass man sogar den Hut abnahm, bevor man jemanden begrüßt hat.

Wenn ich sage, Sie seien Kassiererin, dann ist das wohl zu knapp gefasst. Sie machen schon ein bisschen mehr, oder?

Auch als Kassierer sind wir natürlich für fast alles zuständig. Wir verpacken Ware, räumen weg, kümmern uns um die Entsorgung von Ware — auch von Ware, die die Kunden in den Regalen liegen lassen, weil ihnen die Schlange an der Kasse zu lang ist. Das kommt sehr häufig vor. Sie legen die Waren einfach irgendwo hin. Und wir verräumen sie wieder — oder werfen sie weg, denn oft lassen sie auch Kühlware einfach liegen. Wir werfen eine Menge weg aus diesem Grund. Außerdem reinigen wir viel und setzen teilweise auch instand. Und dann haben auch die Kunden Fragen, die wir beantworten.

Ich frage das immer wieder — und Sie haben es etwas vorweggegriffen: Die Kassiererin oder der Kassierer kommen in der Unterhaltungsindustrie, als Protagonisten eines Films zum Beispiel, selten bis gar nicht vor. Dabei gibt es allein in Deutschland über 3,1 Millionen Menschen, die im Einzelhandel arbeiten (Statistisches Bundesamt, Stand 2022), das sind knapp 7 Prozent aller Beschäftigten im Lande. Nicht alle sitzen dabei an der Kasse, arbeiten aber in Supermärkten und Läden. Haben Sie eine Erklärung für diese Ignoranz?

Das hat viele verschiedene Ursachen. Es hat in den letzten Jahrzehnten auch einen ganz massiven Wandel gegeben. Also wenn man sich die Bedingungen noch vor 15 oder 20 Jahren anguckt, da war die Bezahlung oft sehr schlecht. Meistens waren es auch Frauen, die in dem Beruf arbeiten. Mittlerweile sind auch mehr Männer dabei. Gott sei Dank. Die können die schwereren Waren packen.

Da greift die Rollenverteilung noch.

Das ist ja auch eine gute Verteilung. Dafür können wir andere Sachen besser. Jedenfalls ist die Bezahlung heute besser geworden. Jedoch wird jetzt darauf geschaut, dass weniger Personal eingesetzt wird. Dadurch gibt es viel mehr Druck. Und die Aufstiegsmöglichkeiten sind auch begrenzt.

„Die Arbeit an der Kasse ist sehr stupide“

Wie so viele, die von ihrer Hände Arbeit leben, waren auch Sie während der Corona-Jahre nicht im Homeoffice. Sie waren also systemrelevant. Hat sich Ihr Arbeitsalltag in jener Zeit denn verkompliziert? Wuchs die Belastung?

Ja. Aber am Anfang gab es extrem viel Schokolade von den Kunden für uns. Selbst ehemals griesgrämige Kunden kamen auf uns zu und beschenkten uns auf einmal mit Schokolade. Wir waren regelrecht verstört wegen dieser ganzen Aufmerksamkeit. Wir haben ja einfach nur unsere Arbeit gemacht. Viele durften ja nicht zur Arbeit gehen. Wir schon. Und wir waren froh, dass wir dieses Glück hatten. So hatten wir soziale Kontakte. Viele hatten das nicht. Anfangs war das positive Feedback total hoch. Irgendwann kippte die Stimmung …

Keine Schokolade mehr?

Nein, keine Schokolade mehr! Die Leute wurden sogar aggressiv, haben sich gegenseitig kontrolliert. Ich habe eine Schlägerei wegen Klopapier miterlebt. Irgendwann Ende 2020. Die Kunden wurden panischer. Eine Kollegin hatte eine Herzschwäche, die durfte keine Maske tragen. Da sind Kunden auf uns zugekommen und haben aggressiv gefordert, dass die Frau jetzt eine Maske tragen soll. Dann hat sie tatsächlich eine getragen. Diese Stimmung war wirklich schlimm und hat mir große Angst gemacht. Ich habe mich sehr gewundert, dass die Menschen nicht zusammengehalten haben.

Kunden, die wie Ordnungsbeamte auftreten: Ist der dauernde Kundenkontakt nun ein Segen — oder eine Belastung?

Sowohl als auch. Natürlich kann es anstrengend sein, weil man ja halt wirklich im Durchlauf ist. Die Arbeit ist, gerade wenn man an der Kasse sitzt, sehr stupide. Man ist im Prinzip so eine Art Maschine. Und man kriegt manchmal gar nicht mehr mit, was man eigentlich wirklich tut, sondern man denkt über alle möglichen Sachen nach, aber nicht, dass man jetzt hier sitzt und kassiert. Die Gedanken schweifen ab, weil man die Sachen schon so automatisch tut …

Das heißt, Sie sind im Kopf eigentlich irgendwo, zum Beispiel zu Hause?

Genau. Aber es ist schon anstrengend mit der Kundschaft. Auch was die Sprachbarrieren betrifft, das ist mittlerweile auch ein großes Thema, dass viele überhaupt gar nicht verstehen, was wir sagen. Noch nicht mal auf Englisch. Wir sind ja auch international besetzt. Haben auch Arabisch sprechende, Spanisch sprechende und Russisch sprechende Leute unter den Kollegen. Aber die kann man auch nicht immer rufen. Wir stoßen da an Grenzen, und die Leute werden frustriert. Wir können aber auch nicht stundenlang mit den Leuten diskutieren. Manchmal fragen wir in die Warteschlange hinein, ob jemand da ist, der die Sprache spricht.

„Ranking macht Angst vor Arbeitsverlust“

Im Vorgespräch sagten Sie mir, dass Sie eigentlich nicht schlecht bezahlt werden, Ihr Arbeitgeber drücke aber die Stunden, so gut er kann. Und noch etwas hat er sich ausgedacht: Er hat ein Ranking-System eingeführt, bei dem jeder Kollege transparent sehen kann, wie es auch um andere Kollegen bestellt ist. Wollen Sie das nochmal kurz erklären?

Das Unternehmen erklärt das mit dem Ziel der Entwicklung des Personals, also dass man die ganzen Nummern für Obst und Gemüse und so weiter immer wieder in diesem Lernprogramm lernt. Und da gibt es dann so eine Art Ranking dafür, wie schnell ich war. Wie viel ich davon gewusst habe, das wird alles aufgenommen in ein Computersystem. Dann kann man sich in diesem Ranking angucken, wie gut oder schlecht man war. Und das geht dann sozusagen in die Bilanz der Filiale ein. Es gibt so eine Art Leistungsranking für jede Filiale, daran will man festmachen, wie gut diese Filiale ist — das ist so ein Entwicklungsmantra. Man bekommt es aber in Gesprächen dann auch gesagt, dass man im Ranking nicht so gut sei.

Ich habe richtig verstanden, dass jeder Mitarbeiter Einblick ins Ranking anderer Mitarbeiter hat? Was macht das mit der Belegschaft? Spürt man etwa Konkurrenzdenken und wird voreingenommen gegen die Kollegen?

Genau, es ist alles offen. Konkurrenz entfacht das weniger, aber es macht Angst vor Arbeitsverlust. Für mich ist das eher so ein indirektes Druckmittel, um den Leuten ein bisschen Angst einzujagen, dem Sinne nach: „Wenn du das und das nicht erreichst, dann …“.

Wie ist es denn grundsätzlich im Discounter mit dem Thema Datenschutz bestellt? Findet das überhaupt statt?

Da hat sich auch über die Corona-Zeit ein bisschen was aufgelöst. Es wurden zum Beispiel offen Listen ausgelegen, in die Kollegen einsehen konnten, wer geimpft ist und wer nicht.

Es gibt auch ein Ranking zur Erfassung der Kassenschnelligkeit?

Ja, auch das geht wieder in die Leistungsbilanz der Filiale. Es geht dabei nicht nur um die Geschwindigkeit der Produkte, die da drübergezogen werden, sondern auch zum Beispiel, wann man auf Kartenzahlung drückt. Das wussten wir anfangs zum Beispiel nicht. Unser Chef hat uns das gesteckt, ohne dass er das durfte. Das heißt, wir drücken auf Kartenzahlung, und je länger der Kunde braucht, die Karte herauszuholen und in das Terminal zu stecken, desto schlechter für unsere Zeit.

„Diebstahl ist einkalkuliert“

Das heißt, Sie müssten den Kunden eigentlich antreiben, damit Sie eine gute Zeit haben.

Oder ich warte so lange, bis ich auf Kartenzahlung drücke, bis er die Karte endlich gefunden hat.

Eine letzte Frage, Frau Collin: Immer öfter installieren nun Supermärkte automatisierte Kassenbereiche. Ist das nun ein Segen, weil damit stupide Arbeit wegfällt — oder ein Schlag für die Beschäftigten in der Branche?

Für die Branche ist es kein Schlag, sondern es ist kalkuliert. Das wird kommen. Und es wird wahnsinnig viel Personal arbeitslos werden. Der Diebstahl, der damit einhergeht, so wurde mir mal gesagt, wird auch einkalkuliert. Das sei immer noch günstiger als einen Kassierer hinzusetzen, der die Personalkosten hochtreibt. Neulich habe ich erst in einem Artikel gelesen, dass Finnland — ich glaube, es war Finnland — das wieder rückgängig machen will, weil sich tatsächlich der Diebstahl so massiv erhöht hat, dass es sich anscheinend doch nicht mehr lohnt, diese automatischen Kassen aufrechtzuerhalten.

Übrigens: Die Linke hat im Mai eine „Kleine Anfrage“ an die Bundesregierung gestellt. Sie wollte mehr über die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel erfahren. Sie fragte auch, welche Erkenntnisse über Selbstbedienungskassen und Scan&Go-Systeme vorliegen. Und falls keine vorliegen, warum diese Daten nicht erhoben würden. Die Bundesregierung antwortete, es gebe tatsächlich keine Erkenntnisse, und begründete das mit dem Satz: „Um die Belastung der Meldepflichtigen zu begrenzen, findet eine Erhebung daher nicht statt.“ Das ist äußerst zuvorkommend von der Bundesregierung.

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Arbeiter? Klasse! Der Podcast für die Ungehörten: Maria Collin, Kassiererin


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Quellen und Anmerkungen:

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