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Jenseits des Glaubens

Jenseits des Glaubens

Zeitgemäße Spiritualität orientiert sich an ethischem Handeln oder an unmittelbaren Erfahrungen der Verbundenheit — nicht hilfreich ist das Wiederkäuen von autoritär vermittelten Inhalten.

„Ich versuchte, ihn zu finden am Kreuz der Christen, aber er war nicht dort. Ich ging zu den Tempeln der Hindus und zu den alten Pagoden, aber ich konnte nirgendwo eine Spur von ihm finden. Ich suchte ihn in den Bergen und Tälern, aber weder in der Höhe noch in der Tiefe sah ich mich imstande, ihn zu finden. Ich ging zur Kaaba in Mekka, aber dort war er auch nicht. Ich befragte die Gelehrten und Philosophen, aber er war jenseits ihres Verstehens. Ich prüfte mein Herz, und dort verweilte er, als ich ihn sah. Er ist nirgends sonst zu finden.“

Dieses berühmte Zitat stammt von Rumi (1207 bis 1273), dem Mystiker, Dichter und Begründer des Ordens der tanzenden Derwische, geboren im Perserreich, später zu Hause im Konya, in der heutigen Türkei. Der von ihm poetisch zum Ausdruck gebrachte Gedanke scheint alle Religionen als unzureichend zu verwerfen, selbst diejenige, aus deren Kulturkreis Rumi selbst stammte: den Islam. Denn auch in Mekka, so schreibt der Dichter, ist Gott nicht zu finden. In keiner Institution und in keinem Gebäude, das ihm als „Gefäß“ dienen soll. Selbst heilige Schriften und ihre frommen Ausleger versagen angesichts des „Eigentlichen“. Gibt es also keinen Weg zu Gott? Rumis Ansatz ist ein radikal subjektiver. In unserem Herzen, so der Dichter, könnten wir „ihn“ finden. Damit ist auch Wesentliches über den Unterschied zwischen Mystik und Religion ausgesagt.

Mystik: Ursprung und Kern von allem

Mystik ist die unmittelbare und persönliche Verbindung eines Menschen zur Natur, zu anderen Menschen, zu Gott, zum Göttlichen oder Ewigen. Verschiedene Stufen von Kommunikation und Verbundenheit können in das Gefühl von Einheit, von völliger Verschmelzung mit dem Anderen münden. Mystik ist somit nicht — wie Scholastik oder Dogmatik — ein bestimmter Zweig der Theologie, den man studieren könnte. Sehr gelehrte Männer können als Mystiker völlig unbegabt sein, so wie mancher „Laie“ ganz spontan zu Erleuchtungserfahrungen gekommen sein soll.

Es gibt dazu zum Beispiel charakteristische Zen-Geschichten wie die des späteren Patriarchen Huineng, der im 7. Jahrhundert, ohne je ein religiöses Studium absolviert zu haben, aus der Klosterküche heraus zu höchsten Aufgaben berufen wurde. Im christlichen Raum ist Mystik vor allem verbunden mit Namen wie Meister Eckhart, Theresa von Avila oder Johannes vom Kreuz. Dies erweckte den Eindruck, Mystik sei etwas Mittelalterliches, was uns Heutige nicht mehr berührt, obwohl mystische Erfahrungen zu jede Zeit möglich und quasi immer „frisch“ sind.

Wichtig ist aber: Mystik hat nichts Dunkles oder Okkultes an sich, wie auch das Wortfeld „Mysterium“ (= mit dem Verstand nicht ergründbares Geschehen, unergründliches Geheimnis), „mysteriös“, „Mystery“ und so weiter nahelegt. Im Gegenteil würden viele Mystiker vermutlich sagen, dass es nichts Helleres und Beglückenderes gebe als die Begegnung mit dem Göttlichen. Beweisbar sind derartige Erlebnisse nicht. Hier ist aber entscheidend, dass Mystik als unmittelbare Erfahrung nicht automatisch in die Nähe von Esoterik gerückt werden darf, die ja meist mit dem Anspruch auftritt, eine erlernbare Geheimlehre oder gar Geheimwissenschaft zu sein. Auch eine Verbindung zu dem für viele Skeptiker obsoleten Begriff der Magie muss verneint werden. Magie meint meist die aktive Beeinflussung der Realität durch die Kraft des Willens, ist also mit der Absicht verbunden, Macht auszuüben.

Mystik bezeichnet dagegen das Einfließen des göttlichen Geistes in einen Menschen, der sich diesem Prozess eher passiv hingibt.

Im Sinn des Wortes auf dem Neuen Testament, das Jesus zugeschrieben wird — „Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, dass ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat“ — geht die „Initiative“ bei mystischen Erfahrungen nach Deutung derer, die dergleichen für sich in Anspruch nehmen, in letzter Konsequenz von Gott aus. Es geht also nicht so sehr darum, Übungen als „erlebniserzwingende Maßnahmen“ zu kultivieren, als darum, offen und durchlässig zu werden, keinen unnötigen Widerstand zu leisten gegen das, was geschehen will.

Mystiker leben gefählich

Mystik ist als Begriff insofern nahe an der Spiritualität, wenn man auch nicht sagen kann, dass beide Begriffe gänzlich identisch sind, da es historisch bedingte Bedeutungsschattierungen gibt. Mystiker sind von den Vertretern der institutionellen Religionen oft verfolgt, verketzert, sogar getötet worden. Der persische Sufi-Meister Al-Hallādsch (857 bis 922) wurde von seinen „Glaubensbrüdern“ für einen einzigen Satz gekreuzigt: „Anā l-ḥaqq“ — übersetzt etwa: „Ich bin die Wahrheit“, im übertragenen Sinn auch „Ich bin Gott“. Die Parallelen zu Jesus, der Ungeheuerlichkeiten wie „Der Vater und ich sind eins“ oder „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ausgesprochen haben soll, sind offensichtlich.

Mystik und Religion stehen und standen somit teilweise miteinander auf Kriegsfuß. Der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632 bis 1677), der aus einem jüdischen Elternhaus stammte, wurde 1656 von der Amsterdamer Synagoge mit einem Bann (Cherem) belegt. Grund waren seine von der Orthodoxie stark abweichenden Ansichten. So betrachtet Spinoza Gott recht unpersönlich als „Substanz“ und vertrat eine Philosophie des Pantheismus, also die Identität von Gott und Welt. Im Text des Bannfluchs heißt es:

„Nach dem Beschlusse der Engel und dem Urteil der Heiligen bannen, verwünschen, verfluchen und verstoßen wir Baruch de Espinoza, mit Zustimmung des heiligen Gottes, gepriesen sei Er, und dieser ganzen heiligen Gemeinde (…), mit dem Bannfluche (…). Verflucht sei er am Tage und verflucht sei er bei der Nacht; verflucht sei er, wenn er sich niederlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht, verflucht sei er bei seinem Ausgang und verflucht sei er bei seinem Eingang. Möge Gott ihm niemals verzeihen, möge der Zorn und Grimm Gottes gegen den Menschen entbrennen (…) und seinen Namen unter dem Himmel austilgen, und möge Gott ihn zu seinem Unheil ausscheiden von allen Stämmen Israels (…).

Wir verordnen, dass niemand mit ihm mündlich oder schriftlich verkehre, niemand ihm irgendeine Gunst erweise, niemand mit ihm unter einem Dach verweile, niemand auf vier Ellen in seine Nähe komme, niemand eine von ihm verfasste oder geschriebene Schrift lese.“

Eine aus moderner Sicht recht krude Form der Diskriminierung, jedoch typisch für die Wesensart vieler „Rechtgläubiger“ gegenüber Abweichlern — mag es sich um Auseinandersetzungen im 17. oder im 21. Jahrhundert drehen, um religiöse oder politische Fragen gehen.

Die Fälle von zu ihrer Zeit verfolgten „Ketzern“ zeigen aber, dass Vorurteile gegenüber den Religionen oder religiösen Menschen meist fehlgehen, weil sie Verallgemeinerungen hier verbieten. Eventuelle Aversionen gegen religiöse Institutionen müssen und sollten nicht auf die Mystik übertragen werden. Im Vergleich zu Spiritualität erscheint Mystik als der altmodischere und „dramatischere“ Begriff, was auch mit dem Begriff der „Unio mystica“ — dem Erleben der Einheit mit der Gottheit als Maximalziel — zurückzuführen ist. Obwohl es neben der Gottesmystik unter anderem auch Naturmystik und sogar mystische Sexualität gibt, verwende ich für den Alltagsgebrauch lieber „Spiritualität“, weil damit Geistigkeit oder Geistlichkeit in einem umfassenden, die gewöhnliche Realität liebevoll miteinbeziehenden Sinn bezeichnet werden kann.

Religion — Aus Verbundenheit wird Verbindlichkeit

Worin bestehen aber die Unterschiede zwischen Religion und Mystik beziehungsweise Spiritualität? Religion ist vom Wortsinn her eigentlich etwas sehr Schönes: „Rückverbindung“ heißt sie wörtlich übersetzt. Womit soll man sich rückverbinden? Mit dem Ursprung, der Quelle, Gott oder dem Göttlichen. Damit ist eine zuvor bestehende Trennung impliziert, mythologisch dargestellt als die „Vertreibung aus dem Paradies“. Der moderne, individualisierte Mensch lebt demnach im Exil eines entfremdeten Gefühls, nämlich der Isolation. Angst und Einsamkeit sind die quälenden Symptome seiner existenziellen „Geworfenheit“ in die materielle Welt. Seine Sehnsucht zieht ihn zurück zu einem seelischen Heimatraum, in dem er sich wieder angebunden fühlen kann, unverloren, ganz.

Religion kann im Gegensatz zu Spiritualität niemals rein weltlich im Sinne von „Geistigkeit“ gedeutet werden; etwas Göttliches, Heiliges, Ewiges ist nach Auffassung ihrer Anhänger immer ihr Gegenstand. Während sich die monotheistischen Religionen auf einen persönlichen Gott — im Islam: Allah — beziehen, der geschichtlich wirksam wird, indem er Menschen „anspricht“ und sich ihrer als Werkzeuge bedient, postuliert der Hinduismus die Identität der Einzelseele (Atman) mit der Weltseele (Brahman). Diese Identität ist für Hindus immer gegeben, sie muss durch spirituelle Techniken lediglich erweckt, bewusst gemacht werden.

Ich bin von der These ausgegangen, dass der schlechte Ruf von Religion auch die Spiritualität ungerechterweise in Mitleidenschaft gezogen hat. Diese Beobachtung rührt vom äußeren Erscheinungsbild der Religionen her, in unseren Breiten vor allem der christlichen Kirchen.

In Umkehrung einer Definition von Konstantin Wecker, Spiritualität sei die „Anarchieform der Religion“, kommt mir Religion häufig als die Diktaturform der Spiritualität vor.

Zumindest erscheint dort der „Heilige Geist“, der häufig poetisch mit dem fließenden Wasser verglichen wurde, in Strukturen festgefroren. Glaubenszwang, Gewissensausforschung, Hierarchien, Machtstrukturen und Rituale, deren Ausübung — wenn nicht durch unmittelbare Gewalt, so doch durch gesellschaftlichen Konformitätsdruck — aufgezwungen wird, prägen oft ihr äußeres Erscheinungsbild.

Sexuelle Gewalt, wie sie von einigen Priestern verschuldet wurde, ist nur die augenfälligste Verfallsform eines über Jahrhunderte von den Kirchen ausgeübten deformierenden Zugriffs auf die menschliche Seele. Besonders hervorzuheben ist hier die Manipulation durch Schuld und Scham. Tendenziell zeigt sich Religion oft als Gleichschaltung der Glaubensinhalte mittels wiederholter (Auto-)Suggestion, etwa in der Liturgie oder in der gebetsmühlenartigen Repetition mythologischer Gründergeschichten. Hinzu kommt die gerade von Marx und seinen Nachfolgern in den Mittelpunkt gerückte „Verschwörung“ zwischen kapitalistischer Ausbeutungsabsicht und religiöser Vertröstungstheologie.

Spaltende und verbindende Religion

Freilich ist das hier von mir gezeichnete negative Bild einseitig. Es berücksichtigt nicht die große Zahl aufrechter, sozial eingestellter Gläubiger und Priester, die Geborgenheit und Orientierung spendende Funktion der Gemeinde, das soziale Engagement der Kirchen und andere Vorzüge. Ich versuche hier aber gerade jene Aspekte zu benennen, die das Bild der Religion in den Augen vieler politisch Aktiver eingetrübt haben — und mit ihm das der Spiritualität. Spiritualität, wie ich sie verstehe, ist ja in vieler Hinsicht eher das glatte Gegenteil der dogmatischen Religion.

Spiritualität schafft einen freilassenden, nichthierarchischen Raum, in dem jeder eigene mystische Erfahrungen machen kann. Spiritualität ist wie Mystik somit zunächst eine einsame Angelegenheit, die im zweiten Schritt jedoch Verbindung schaffen kann, da spirituelle Einheitserfahrungen den Menschen darin schulen, sich mit der Natur, mit den Mitmenschen und mit dem ganzen Sein in einem liebevollen Zusammenhang zu erleben.

Religion stiftet im Gegensatz dazu vordergründig Gemeinschaft, inszeniert einen rituellen Gleichklang, hinter dessen Fassaden sich jedoch Einsamkeit und Nichtangebundensein verbergen können. Religion spaltet die durch „Gotteskindschaft“ natürlich Verbundenen künstlich in Gläubige und Ungläubige auf, in Mitglieder und Nichtmitglieder, Regeltreue und Regelübertreter. Auch die Verhaltensweisen der Menschen werden künstlich aufgespalten: in heilig und sündig, recht und unrecht, rein und unrein, koscher und nicht koscher und so weiter. Die Welt zerfällt so in eine korrekte und eine unkorrekte „Teilschöpfung“.

Der Kampf gegen die Regelübertretung ist für die Pharisäer aller Religionen stets ein projektiver Kampf gegen unterdrückte eigene, nicht linientreue Anteile. Da das Verbundenheitsgefühl bei den meisten Gemeindemitgliedern nicht durch eigenes mystisches Erleben unmittelbar gegeben ist, wird es durch die Krücke eines verkrampften Glauben-Wollens und Glauben-Sollens künstlich gestützt.

In freier Spiritualität ist jeder gleichsam Stifter, Priester und Anhänger seines eigenen, ganz persönlichen Glaubens. Religionen dagegen unterwerfen Tausende dem einmaligen mystischen Impuls eines Religionsstifters und den daraus von seinen „Nachfolgern“ konstruierten Lehrgebäuden und Überwachungshierarchien.

Aus natürlicher Verbundenheit wird so künstliche Verbindlichkeit. „Heilige Schriften“ und ihre Autorität können sogar dazu beitragen, ein freies spirituelles Leben zu unterdrücken, da jede von ihnen abweichende Erfahrung geleugnet oder zum Gedankenverbrechen gestempelt wird.

Eine Spiritualität, die nicht befreit, verdient ihren Namen aber nicht. Sie tendiert zu den Verfallsformen der Religion, etwa den Verbotskatalogen der Taliban, die unter anderem untersagen, Musik zu spielen und Drachen steigen zu lassen — überwacht von einer rigiden Religionspolizei. Diese Art von Religion wird durch Verengung ihrer Glaubensinhalte und Ausdrucksformen auf angeblich „Offenbartes“ nicht zum Befreier, sondern zum Zuchtmeister der Seele. Wir dürfen ihren anmaßenden Zugriff auf unser innerstes Erleben getrost zurückweisen.

Glaube — ein Missverständnis

Der am meisten überschätze und missverstandene Begriff in den Religionen ist „Glaube“. Gerade im Protestantismus wird ihm eine zentrale Stellung eingeräumt. Allein durch den Glauben (sola fide) in Kombination mit göttlicher Gnade (sola gratia) und der Heiligen Schrift (sola scriptura) soll sich nach Martin Luther die Erlösung vollziehen. Gegenüber dem Glauben tritt somit selbst die Verpflichtung zu ethisch korrektem Verhalten in den Hintergrund. Glaube befreit insofern von der rigiden Logik von Gesetz und Strafe; Luther entwertet damit aber auch den Bereich der konkreten Tat gegenüber dem Bereich der inneren Einstellung. Ist es nicht, um einen Menschen einzuschätzen, viel wichtiger, wie er handelt, als woran er glaubt?

In Gotthold Ephraim Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ geht es darum, welche der drei monotheistischen Religionen — Judentum, Christentum und Islam — die „wahre“ ist. Diese Frage wird anhand eines Settings in Jerusalem abgehandelt, in dem der muslimische Sultan Saladin regiert. Der weise Jude Nathan erklärt seine humane Auffassung auf der Basis der berühmten „Ringparabel“, die der Frage danach, welche der drei Religionen quasi das bevorzugte „Kind“ Gottes sei. Die Antwort ist, vereinfacht gesprochen: diejenige, die dies durch menschliches Verhalten unter Beweis stellt. Keinesfalls kann der durch Tradition verfestigte Glaube eines Kollektiv darüber Aufschluss geben, ob ein religiöses Bekenntnis wirklich noch den Geist des „Vaters“ vertritt.

Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?
Geschrieben oder überliefert! — Und
Geschichte muss doch wohl allein auf Treu
Und Glauben angenommen werden? Nicht?
Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind?

Im Prinzip sagt Nathan hier, dass wir das glauben, womit wir aufgewachsen sind, weil wir unseren Eltern und unserer Sippe zunächst am meisten vertrauen. Mit dem Wahrheitsgehalt einer Religion oder ihrem ethischen Gehalt hat das nichts zu tun.

Kann ich von dir verlangen, dass du deine
Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht
Zu widersprechen? Oder umgekehrt.

Toleranz und Humanität bedeuten, den traditionellen Glauben des anderen zunächst zu akzeptieren, weil er meist nicht anders kann, als ihm anzuhängen. Keinesfalls sollte aber irgendeine Glaubensvorstellung absolut gesetzt werden.

Bis heute herrscht zwischen den Weltreligionen teilweise das Gegenteil dessen, was Lessings „Ringparabel“ vorschlägt. Alle drei Religionen — Judentum, Christentum und Islam — scheinen eher darum zu wetteifern, wer sich am unmenschlichsten verhält. Zwar waren Auseinandersetzungen wie die Kreuzzüge, der Dreißigjährige Krieg oder die bis heute andauernden blutigen Fehden zwischen Juden und Palästinensern im Nahen Osten meist nicht in der Hauptsache auf den Streit zwischen religiösen Konzepten zurückzuführen — eher ging es um Macht- und Gebietsansprüche —, doch kann man mit Sicherheit sagen, dass all die gottgefälligen Leute nichts dabei fanden und bis heute finden, ihre Mitmenschen abzuschlachten. So als hätten all die „Offenbarungen“, wo sie der Menschlichkeit keinen Schaden zufügten, doch zumindest in keiner Weise geholfen.

Ist es angesichts des drastischen Versagens all dieser Gemeinschaften nicht im Grunde egal, was sie glauben, wie sie also den Gott nennen, in dessen Namen sie die Menschlichkeit wieder und wieder mit Füßen treten?

Ist es für jemanden, der vom Anhänger einer anderen Religionsgemeinschaft massakriert wird, von Bedeutung, ob der betreffende Mörder selbst an die Narrative glaubt, auf deren Basis das Massaker stattfindet?

„Es ist zu glauben“

Und einmal abgesehen von ethischen Fragen: Selbst den Glauben an ein wirklich gutes Konzept kann man normalerweise nicht erzwingen. Man kann ihn auch nur sehr bedingt suggerieren. Erzwungen werden kann nur die rituelle Repetition von Bekenntnisformeln, welche Glauben heucheln.

Glauben ist ein Wort der deutschen Sprache, das in höchst unterschiedlichen Bedeutungsschattierungen verwendet wird. Wer sagt, „ich glaube“, muss sich also bewusst machen, welche Definition des Begriffs für ihn zutrifft:

1. „Ich glaube“ synonym zu „Ich nehme an, ich vermute, ich halte für wahr“.

In diesem Sinn ist Glaube unbedenklich. Ich glaube zum Beispiel, dass es in diesem riesengroßen Universum irgendwo noch andere bewohnte Planeten gibt. Es erscheint mir plausibel, aber es ist auch möglich, dass es nicht stimmt, und ich bestehe nicht darauf, dass auch andere das glauben. Ich mache daraus kein Lehrgebäude mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit für andere.

2. „Ich glaube“ im Sinn von „ich habe erlebt“.

Eigene Erfahrung kann einem von anderen nicht abgesprochen werden, wir können sie aber auch nicht auf andere übertragen. Sie bleibt einmalig, individuell, ja intim. Ich glaube aufgrund einiger eigener Erlebnisse, dass es besondere „Energieerfahrungen“ bei Gebeten und Meditationen gibt. Es gibt sie verstärkt an besonderen Orten. Beschreibungen solcher Erfahrungen werden durch die Sprache gefiltert und sind somit auch an die Kultur gebunden, in deren Kontext sich die Sprachmuster gebildet haben. Ich könnte zum Beispiel sagen, die beschriebenen Energieerfahrungen deuteten auf die Präsenz des Heiligen Geistes hin. Wer eine besondere Erfahrung gemacht hat, könnte fordern, dass alle anderen ihn als einen Abgesandten des Heiligen Geistes anerkennen müssen. Aus moderner Sicht erscheint so ein Ansinnen vermessen.

3. Die dritte Form von Glauben ist im Kontext von organisierten Religionen die häufigste; sie meint „offizielle“, von religiösen Autoritäten vorgegebene Glaubensinhalte, die für eine bestimmte Gemeinschaft verpflichtend sind.

Repräsentiert wird sie zum Beispiel durch die vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger in einem Hirtenwort kurz nach der Jahrtausendwende verwendete Formulierung „Es ist zu glauben“. Es sei zu glauben, forderte der spätere Papst, „dass die pilgernde Kirche zum Heile notwendig ist“. Dies nicht zu glauben würde den Ausschluss aus der Gruppe der Rechtgläubigen zur Folge haben. Das Persönlichste, ja Intimste wird auf diese Weise in einen formellen, kollektiven und ritualisierten Kontext eingebracht, wird abfragbar, überprüfbar, kontrollierbar gemacht durch Machtinstanzen.

Auch bei der Schuldschöpfung, der Kreation von schlechtem Gewissen bei Gemeindemitgliedern, spielt der Glaube eine große Rolle, denn der Glaube als innere Realität ist nicht leicht mit dem Willen zu beeinflussen. Dies kann zur Folge haben, dass jemand in einen Zustand der Zerknirschung verfällt, weil er die geforderte Glaubensleistung nicht zu erbringen vermochte.

Ein so verstandener Glaube hat die Akzeptanz von Religion bei gebildeten, freiheitsliebenden Menschen sehr stark beeinträchtigt. „Es ist zu glauben“-Glaube fordert mit Recht zum Widerspruch heraus.

Auch das christliche Glaubensbekenntnis (Credo), gesprochen in jedem Gottesdienst, hatte in diesem Zusammenhang einen sehr zweischneidigen Effekt. Das rituelle Sprechen des Bekenntnisses legt den Verdacht nahe, dass jene Glaubensgewissheit, deren Ausdruck es sein möchte, in Wahrheit durch penetrant wiederholte Autosuggestion erst herbeigeführt werden soll. Auch setzt das Credo für mein Gefühl teilweise falsche Schwerpunkte: Gott ist darin ein Mann, ein himmlischer Vorgesetzter, dem es sich zu unterwerfen gilt. Sein Aufenthaltsort ist der Himmel. Jesus ist hat eine historisch einzigartige, unwiederholbare Verbindung zu ihm, was andere Religionen implizit entwertet. Seine Mutter war eine Jungfrau. Jesus Christus ist ein Richter der Menschen, vor dem man Angst haben muss. Die Kirche selbst ist heilig und anbetungswürdig und so weiter. Man findet darin jedoch nichts von einem Gott, der sich liebend in seine Schöpfung verströmt. Nichts vom „guten Hirten“ und einer grenzenlosen Vergebung, die stärker ist als jedes Regelwerk. Nichts von Nächsten- und Feindesliebe oder von der fundamentalen Skepsis Jesu gegenüber Macht und Hierarchien. Im Credo fehlt für mich vieles, was eine Religion, als deren Bekenntnis es dienen soll, für mich liebenswert macht.

Durch alle Wesen …

Jener Glaube, der bei Skeptikern — gerade auch bei politisch interessierten — immer wieder berechtigten Widerspruch auslöst, ist eigentlich nur Variante 3, der „Es ist zu glauben“-Glaube. Spiritualität, wie sie mir einleuchtet, ist dagegen undogmatisch, verhält sich gegenüber anderen „Spiritualitäten“ respektvoll und nimmt gegenüber nicht selbst erlebten Phänomenen eine eher agnostizistische Haltung ein. Man hält die Erlebnisberichte anderer für möglich, versteift sich aber auch nicht auf die Überzeugung, dass sie wahr sind. Was die eigenen, unmittelbaren Erfahrungen betrifft, so vertraut man ihnen, misstraut aber eher den Worten und Begriffen, in die der Verstand sie zu fassen versucht.

Eine solche Spiritualität ist ebenso unbeirrbar, wie sie im guten Sinn des Wortes demütig ist: sich stets der Grenzen ihrer eigenen Erkenntnisfähigkeit bewusst. Im Namen einer solchen Spiritualität können keine Kriege geführt werden, können Menschen nicht religionspolizeilich verfolgt und gemaßregelt werden. Es besteht kein Grund zu Misstrauen und übertriebener Ablehnung dagegen — nicht einmal seitens einer säkularen Linken, die die Grundannahmen und Erlebnisinhalte spiritueller Menschen nicht teilen kann.

Bei der Suche nach Worten für das, was schwer zu beschreiben ist und was ja auch gar nicht unbedingt beschrieben werden muss, helfen auch besonders inspirierte Dichter. Diesen gelingt es oft, in nicht abgenutzter, frisch wirkender Sprache neue Denk- und Erlebnisräume zu erschließen.

Dabei ist Literatur im besten Fall nicht Verkündigung von Für-wahr-Gehaltenem, sondern eine freilassende Anleitung zum Lauschen nach außen und nach innen.

Rainer Maria Rilke war ein Meister der sich nicht auf eine bestimmte Deutung versteifenden Andeutung. Ein berühmter Satz von ihm lautet:

„Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum.“

Rilkes Hoffnung ist außerdem ein „kapellenloser Glaube“, was suggeriert, um das Geistige herum müsse und solle man keine Mauern bauen.

Vielleicht sollte man noch weiter gehen und etwas anstreben wie eine glaubenslose Spiritualität.


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