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Kinder, die auf Displays starren

Kinder, die auf Displays starren

Der Bestseller „Generation Angst“ von Jonathan Haidt weiß nichts von Überwachung und Zensur, ist aber trotzdem ein Muss für Eltern, Lehrer und Politiker.

Kontakte halten und vertiefen. Kreativität entwickeln. Ich habe das einst selbst geschrieben, Ende der Nullerjahre (1). Meine Studenten sind zu den Leuten nach Hause gegangen und haben sich zeigen lassen, wie das im Alltag läuft. Eine Frau hatte „das Internet“ im Keller versteckt und eine andere im Küchenschrank, neben Staubsauger und Schnapsflaschen. Alle hatten etwas dazugelernt, und manche verdienten sogar etwas Geld, über Ebay zum Beispiel.

Wir haben schon damals eine „Netzgeneration“ gefunden, das aber eher mit der Individualisierung und der Dienstleistungsgesellschaft begründet und weniger nach den Folgen gefragt. Die Kommunikation wird unverbindlicher, okay, und der Handlungsdruck wächst. Google wusste bereits vor 15 Jahren alles besser, und die Leute fingen an, Bücher wegzuwerfen, weil ja ohnehin alles im Netz zu sein schien. An Propaganda und Zensur hat keiner unserer Gastgeber auch nur einen Satz verschwendet.

Dieses Thema fehlt auch bei Jonathan Haidt — genauso wie der Überwachungskapitalismus, der Umbau von Schulen und Universitäten oder eine Ideologie, ausgetüftelt in den späten 1960ern von den üblichen Verdächtigen (2), die den Alten alle Übel dieser Welt in die Schuhe schiebt und sie so von Kindern und Enkeln trennt. Zu komplex darf es nicht werden auf dem US-Sachbuchmarkt und systemkritisch ohnehin nicht. Die Talkshows lieben Jonathan Haidt, und viele Eltern hängen ihm an den Lippen, weil er das in Worte fasst, was sie daheim erleben. Dass Kollegen ihre Köpfe schütteln, hat nicht nur mit Neid zu tun.

Anders als die meisten Forscher schaut Haidt eher auf die Geräte als auf die Inhalte und damit auf Wirkungen, die über den Tag hinausweisen. Und er verlässt sich nicht auf das, was die Menschen ankreuzen, wenn sie befragt werden. Als Wiedergänger von Marshall McLuhan (3) und Neil Postman (4) ist Jonathan Haidt nur bedingt vermittelbar in einer akademischen Medienforschung, die sich auf den Einzelnen konzentriert und hier wiederum auf Wissen und Fühlen, Glauben und Handeln.

Haidts wichtigste These: Die Plattformen haben eine Kindheit produziert, die nichts mit dem zu tun hat, was die Älteren erleben durften, als sie jung waren.

Die Plattformen, nicht das Internet an sich. Dieser Unterschied ist wichtig, weil Haidt den Bruch nicht irgendwann in den 1990ern sucht oder in den Nullern, sondern sich auf die frühen 2010er festlegt. Das Smartphone, Apps und Viralität, ermöglicht durch Likes und Retweets, eingeführt von Facebook und Twitter jeweils 2009 und schnell von der Konkurrenz übernommen. Im gleichen Jahr die ersten Push-Nachrichten und bald fast flächendeckend schnelles Netz. 2010 dann Instagram. Erst jetzt, sagt Jonathan Haidt, gab es einen Anreiz, jeden Post zu optimieren. Erst jetzt war es möglich, „Prestige auf der Basis von Klicks anderer“ zu messen, weil die Plattformen ganz bewusst eine „Rückkopplungsschleife zur sozialen Bewertung“ eingebaut haben und damit den Menschen an einer „verwundbaren Stelle“ treffen (Seite 81). Wir müssen wissen, was andere von uns halten. Der Mensch ist ein Vergleichstier, das permanent Rückmeldungen braucht, um sich seiner selbst sicher zu sein. In der „wirklichen Welt“, sagt Jonathan Haidt, läuft das völlig anders als in der virtuellen (Seite 21):

- Hier eine überschaubare Zahl von Körpern, die sich im gleichen Takt bewegen, so „Hinweise für das richtige Timing“ geben und außerdem zu „Gemeinschaften“ gehören, in die man „nicht ohne Weiteres“ hineinkommt und denen man auch nicht auf die Schnelle kündigen kann.

  • Und dort Sprache und allenfalls noch Bilder, gar nicht so selten schon technisch produziert, asynchron, oft parallel und in unverbindlichen Beziehungen, aber zumindest potenziell an die ganze Welt gerichtet.

Haidts Thema ist eine Jugend, die gerade dabei war, erwachsen zu werden, als die Dinge kippten. Vorher frische Luft, Langeweile und Zeit, um all das zu lernen, was der Mensch braucht, um in Gruppen klarzukommen. Und nun plötzlich das Smartphone.

Dazu Eltern, die schon in den 1990ern begonnen haben, „ihre (weniger zahlreichen) Kinder als kostbare und empfindliche Rennwagen anzusehen und sich selbst als Boxenmannschaft, die verbissen daran arbeitet“, ihr Auto zum „Sieg“ zu bringen, in den USA ein Synonym für einen Platz an einer der Elite-Unis (Seite 110). Akademiker und Menschen, die dies gern geworden wären, werden nicken, wenn sie das lesen. Das Kind als Projekt. Jonathan Haidt wettert gegen einen Sicherheitskult, dem selbst der Spielplatz ein Graus ist und erst recht ein Schulweg ohne Begleitung. Und er weiß, dass die Plattformen „die effizientesten Konformitätsmaschinen“ sind, „die jemals erfunden wurden“ (Seite 80). Lass Eltern, Mentoren, Trainer reden, jahraus, jahrein. Die Maschinen sagen innerhalb von Stunden, was gut und richtig ist. Wer da ausschert, stirbt den digitalen Tod.

Jonathan Haidt spricht von einer „großen Neuverdrahtung“, die Mädchen etwas stärker trifft, weil sie Beziehungsmenschen sind, die perfekt sein wollen, deshalb eher auf Standards schauen, die von außen gesetzt werden, und außerdem allergisch reagieren, wenn es um Gesicht und Körper geht.

Jungs, so habe ich Haidt verstanden, verkraften es, wenn ein Penisbild kursiert. Trotzdem. Es geht offenbar weiter mit dem „langen Abstieg der Männer“ (5), zu beobachten schon seit den 1970ern in einer Wirtschaft, die weniger Muskeln braucht, in einem Bildungssystem, das Stillsitzen belohnt, und in einer Bewusstseinsindustrie, die Probleme hat mit männlichen Vorbildern. Videospiele und Pornos, da ist sich Jonathan Haidt sicher, beschleunigen den Rückzug der Jungs aus der „physischen Welt“ (Seite 229) und verhindern außerdem, dass sich eine „Praxis in Eigenverantwortlichkeit“ entwickelt (Seite 242). Seine vier apokalyptischen Plattformreiter für beide Geschlechter: Vereinsamung, Schlafmangel, Fragmentierung der Aufmerksamkeit und Abhängigkeit.

So oder so: Haidt hat ein Argument, das auch Zweifler überzeugen dürfte, von der Forschung aber in aller Regel übersehen wird, weil es sich schlecht messen lässt. Wer auf den Bildschirm starrt, verpasst all das, was Heranwachsende früher gemacht haben. 64 Onlinestunden pro Woche hat eine Postbank-Studie 2023 für 16- bis 18-Jährige ermittelt. Fast zehn Stunden pro Tag. Da bleibt wenig Zeit, um miteinander zu sprechen, sich zu berühren, gemeinsam etwas zu riskieren und so auch zu lernen, wo die eigenen Grenzen sind. Als Professor sieht Jonathan Haidt im Hörsaal und im Seminarraum, was all das mit den jungen Leuten macht. Ich kann das nur bestätigen. In seinen Worten: Die Studenten sind vom Entdeckungs- in den Verteidigungsmodus gewechselt. Wo einst Neugier herrschte und die Lust auf Leben, regiert seit ein paar Jahren nackte Angst.

So ein Buch würde in den USA kein Bestseller werden und kein Gegenstand aufgeregter Debatten, wenn es keine Lösungen hätte für das große Drama. In Kurzform: Lasst die Kinder miteinander spielen, ohne dass Erwachsene sich einmischen, und haltet sie so lange wie möglich von den Plattformen fern. Konkreter: Internet-Volljährigkeit mit 16. Vorher kein Account, der es erlaubt, das eigene Leben hochzuladen. Schulen ohne Smartphone. Pausenhöfe, die es erlauben, ein Kind zu sein, und Angebote, die auf Jungs zielen. Eltern, die all das wissen und bei Haidt für jede Altersgruppe Tipps finden. Den Digitalkonzernstaat übersieht der Autor. Vielleicht hat das mit seiner akademischen Disziplin zu tun. Die Sozialpsychologie fragt normalerweise nicht nach dem Zusammenspiel von Unternehmen und Regierungen und auch nicht nach dem Interesse dieses Paares, öffentliche Kommunikation und Bevölkerung zu kontrollieren. Vielleicht ist dieser Elefant im Raum aber einfach auch zu groß.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Michael Meyen, Senta Pfaff-Rüdiger (Herausgeber): Internet im Alltag. Qualitative Studien zum praktischen Sinn von Online-Angeboten, Lit, Münster 2010
(2) Siehe Hauke Ritz: Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Russland eine kulturelle Dimension?, in: Wissenschaftliche Beiträge des Ostinstituts Wismar, Ausgabe 3/2014
(3) Siehe Marshall McLuhan: Understanding Media, McGraw-Hill, New York 1964
(4) Siehe Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode, S. Fischer, Frankfurt/Main 1985
(5) Siehe Richard Reeves: Von Jungen und Männern, Xenomoi, Berlin 2023

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