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Künstliche Aufregung

Künstliche Aufregung

„Experten“ überteiben mit ihren Prophezeiungen zur KI derart, dass man einen Mangel an natürlicher Intelligenz befürchten muss.

Vor etwa 60 Jahren sagte der amerikanische Forscher Marvin Minsky (1927 bis 2016) vorher, dass künstliche Intelligenz in etwa einer Generation entwickelt werden könne. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts hätte das also soweit sein müssen. War da etwas von künstlicher Intelligenz zu sehen? Nein!

Also versuchen wir es mit einer neuen Vorhersage: Nach Ray Kurzweil, technischer Direktor bei Google, also besonders vertrauenswürdig, ist 2029 das Jahr, in dem künstliche mit menschlicher Intelligenz gleich gezogen haben wird. Das werde ich also (hoffentlich) noch erleben; wenn nicht menschliche Intelligenz unseren Planeten bis dahin zugrunde gerichtet hat. Ich bin gespannt.

Doch noch einige Fragen

Steht die Menschheit mit künstlicher Intelligenz denn wirklich vor einer der aufregendsten Revolutionen ihrer Geschichte? Wie aufregend waren denn der Übergang zum aufrechten Gang, zur Sesshaftigkeit oder die Erfindung des Feuers, der Dampfmaschine, des Flugverkehrs oder der Elektrizität? Hat die Erfindung der Atombombe die Menschheit kalt gelassen oder wenigstens die vor 50 Jahren erfolgte Landung auf dem Mond? Ich neige zur Zurückhaltung bei Aussagen, die die Entwicklung der Menschheit betreffen.

Gefragt werden sollte in diesem Zusammenhang insbesondere nach den Voraussetzungen für die Realisierung von Künstlicher Intelligenz. Ohne Zweifel sind dafür Computer notwendig, die um Klassen leistungsfähiger sind als die gegenwärtig vorhandenen. Die Leistung der Computer hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich erhöht. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich diesen Artikel auf einem Laptop schreibe, der deutlich leistungsfähiger ist als der Hochleistungs-Computer, auf dem ich Ende der sechziger Jahre am Deutschen Rechenzentrum in Darmstadt die Programme für meine Diplomarbeit geschrieben habe.

Grundlage für die Verbesserung war das Moorsche Gesetz, nach dem sich Leistungsfähigkeit der Computer alle zwei bis drei Jahre verdoppelt. Ein Ende dieser Entwicklung ist allerdings abzusehen.

Selbstverständlich wird nach neuen Technologien gesucht, mit denen die Leistungsfähigkeit der Computer weiterhin im bisherigen Tempo entwickelt werden kann. Gesucht ist aber noch nicht gefunden. Auch über die Weiterentwicklung der Software wird das versucht und es sind große Fortschritte erreicht worden. Insbesondere im Hinblick auf die künstliche Intelligenz hofft man, sich durch Nachbildung des Aufbaus und der Funktion des menschlichen Gehirns dem Ziel zu nähern.

Was wissen wir über den Aufbau unseres Gehirns?

„Das Gehirn besteht — neben anderen Zellarten — aus geschätzten 100 Milliarden Neuronen, die über eine geschätzte Billiarde Synapsen miteinander in Verbindung stehen. Dazu kommt eine schier unüberschaubare Zahl von Botenstoffen (Amine, Neuropeptide, Aminosäuren und Gase), welche die Nervenübertragung durch Wechselwirkung mit einer Hundertschaft verschiedener Rezeptoren orchestriert und reguliert. Und nicht zu vergessen: ebenso viele Hormone, zuständig für die mittel- und langfristige Modulation biologischer Vorgänge, sowie Tausende von Regulationsgenen. Ganz zu schweigen von spezifischen Transportmechanismen, molekularen Speicherorganen und einer ganzen Armada von Enzymen. Zudem mehren sich die Hinweise, dass nicht nur Neuronen, sondern auch ganz andere Zelltypen des Gehirns für Bewusstseinsprozesse, insbesondere für Gedächtnisfunktionen fundamental wichtig sein könnten“ (1).

Die Komplexität ist riesig und Lichtjahre von dem entfernt, was heute technisch erreichbar ist. Zudem ist das Gehirn ja kein isoliert arbeitendes Organ, sondern in den Körper eingebunden. Ob es jemals gelingt, einen auch nur annähernd gleich leistungsfähigen Computer zu bauen, ist mehr als fraglich.

Wie das Gehirn arbeitet, ist trotz der vollmundigen Aussagen einiger Gehirnforscher höchstens in Ansätzen verstanden. Aber in Silicon Valley weiß man, dass der Computer etwa 2030 der menschlichen Intelligenz überlegen sein wird.

„Selbst wenn es gelänge, das biologische Gerüst des Gehirns und die zu ihm vermittelten biochemischen Funktionsprozesse zu rekonstruieren, dürfte das spezifische ‚Arbeitsniveau’ der Bewusstseinstätigkeiten noch lange nicht erreicht sein. Es gibt in der Hirnforschung begründete Ahnungen über Wirkungskorrelationen, aber kein Wissen über konkrete Funktionszusammenhänge. Im Verhältnis des tatsächlichen Erkenntnisstandes zu den realen Gehirnfunktionen, verhält es sich nicht anders, als wenn ein Familienvater die Skizze eines Autos aufs Papier wirft und dann seinen Kindern sagt: ‚Freut euch darauf, morgen können wir damit in den Urlaub fahren‘“ (1).

Selbstverständlich hat es in den letzten Jahren wie auch in den Jahren zuvor große Weiterentwicklung gegeben, was die Leistung von Computern betrifft.

Das als Fortschritt zu bezeichnen, fällt mir schwer, weil es sich zu oft um Weiterentwicklungen handelt, die der Überwachung oder der Ausforschung der Nutzer dienen.

Gesichts- und Spracherkennung und die Nutzer-Profilbildung haben ein qualitativ höheres Niveau erreicht. Das gilt auch für die Übersetzung; allerdings nur für Sachtexte. Die adäquate Übersetzung von Literatur, insbesondere von Poesie, ist noch in weiter Ferne. Große Fortschritte hat es auch beim überflüssigen autonomen Fahren gegeben, eine der Rettungsaktionen für das Automobil.

Wenn ich mir aber anschaue, wie sich die Meisen auf meinem Balkon in der Welt bewegen und zudem, sich mit Nahrung versorgen, Junge aufziehen, ohne eine technische Infrastruktur zu benötigen, ist es einfach lächerlich, was bei autonomem Fahren bisher erreicht wurde.

Nur mithilfe umfangreicher Infrastruktur werden Leistungen möglich werden, die wie autonomes Fahren aussehen, aber am digitalen Gängelband erfolgen. Ich bin mal gespannt, wann die autonomen Autos in der Lage sind, das Reh, das plötzlich auf die Straße tritt, rechtzeitig zu erkennen und einen Unfall zu vermeiden.

Dass die Infrastruktur aufgebaut werden wird, ist zu erwarten; bei den die Umwelt schädigenden Elektroautos wird die Zahl der Ladestationen ja auch schnell erhöht. Auch wenn die Infrastruktur noch nicht ausreicht, um in absehbarer Zeit autonomes Fahren zu ermöglichen, so reicht sie doch schon jetzt aus, um das Auto zu einem wirksamen Werkzeug der Überwachung zu machen. Das leistet die menschliche Intelligenz.

Ist der Fortschritt aber wirklich so groß? Ich denke nicht, er sieht größer aus, als er ist. Eisenbahn, Auto, Elektrizität, Wasserversorgung, Digitalkamera, Raumfahrt, das alles wird heute als normal wahrgenommen. Für die Mondlandung habe ich mir noch die Nacht um die Ohren geschlagen. War sie ein Quantensprung?

Angst vor Technik?

Dass Menschen Angst vor technischen Neuerungen haben, ist nichts Neues. Autos und Eisenbahnen haben die Menschen zunächst in Angst versetzt, die erst verflogen ist, nachdem die Verwendung alltäglich und geregelt wurde.

Erinnern Sie sich an Seveso oder Bophal? Vor der Chemischen Industrie sollte man Angst haben, die allerdings verdrängt ist. Verdrängt ist auch die Angst vor dem Auto, obwohl weltweit alle 23 Sekunden ein Mensch durch einen Autounfall stirbt (2). Das sind 3.700 Menschen am Tag oder 1,37 Millionen im Jahr. Und eine derartige Mordwaffe ist im zivilen Leben nicht verboten? Wenn ich dann noch den rasanten Zuwachs der SUVs sehe, die vor allem von alten Männern gefahren werden, bei denen sich wohl keine Altersweisheit herausgebildet hat, habe ich vor dem Auto Angst. Und dabei habe ich hier nur einen kleinen Ausschnitt der durch das Auto verursachten riesigen Schäden für Mensch und Umwelt erwähnt.

Und: Intelligenten Menschen macht beispielsweise die Atombombe immer noch Angst.

Angst vor künstlicher Intelligenz?

Künstliche Intelligenz und ihre Methoden der statistischen Analyse haben keinen eigenen Willen. Künstliche Intelligenz ist nicht intelligent. Sie ist daher nicht in der Lage, eigene Ambitionen und Interessen zu haben, zu täuschen oder zu lügen. Mit anderen Worten, künstliche Intelligenz sollte uns nicht mehr Angst machen als Statistik. Das bedeutet nicht, dass sie harmlos ist. Künstliche Intelligenz und ihre Algorithmen sind nicht neutral, sondern reflektieren die Absichten und die unbewussten Vorurteile des Teams von Programmierern und Datenwissenschaftlern sowie der Parteien, die an der Implementierung dieser Technologie beteiligt sind.“

Nicht vor der künstlichen Intelligenz muss man also Angst haben, sondern vor dem, wozu die entstandenen Möglichkeiten genutzt werden. Sie werden genutzt zum immer weiteren Ausbau der Ausforschung und Überwachung. Leider unter mehr oder minder großer Mitwirkung der Bürger im Lande, die danach zu gieren scheinen.

Ein weiterer Bereich, vor dem man Angst haben sollte, sind die militärischen Anwendungen. Waffen, die vollständig dumm sind, werden als intelligent bezeichnet.

Bomben, Drohnen, Raketen, Roboter und so weiter. Die Kommunikationsmöglichkeiten für ihren Einsatz werden immer stärker ausgeweitet. Ausgeweitet werden auch die Fähigkeiten zur Führung eines Cyber-Krieges, durch den es jetzt schon möglich ist, zivile Infrastruktur wie Kraftwerke, Wasserwerke, Krankenhäuser, ... unerkannt aus der Ferne lahm zu legen. Ein behaupteter Cyberangriff durch Russland kann beispielsweise als Kriegsgrund genommen werden. Der Golf von Tonking ist ins Netz verlagert.

Das alles ist nicht durch die Künstliche Intelligenz entstanden, sondern durch die Menschen, die derartiges planen, entwickeln und dann einsetzen. Es ist auch kein Quantensprung, sondern die ungebrochene Fortsetzung einer fatalen Entwicklung. Man denke an den Giftgaseinsatz im Ersten Weltkrieg, die industrielle Massenvernichtung von Menschen oder die Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg, den Agent Orange Einsatz in Vietnam, die Verwendung von Uran-Munition im Jugoslawien-Krieg und in den Irak-Kriegen. Die Liste ließe sich lang fortsetzen.

Man muss sich also um die Menschen kümmern und ihr Wirken gegebenenfalls bekämpfen, wenn es um die Entwicklung und Gefahren Künstlicher Intelligenz geht. Um einen Quantensprung handelt es sich keinesfalls. In einem Interview mit Wolfgang Wahlster, Leiter des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), ist zu lesen:

„Ich bin kürzlich mit einem selbstfahrenden Testfahrzeug eines deutschen Herstellers schon mit 170 km/h auf der Autobahn gefahren und möchte weiterhin auch individuelle Mobilität mit hoher Geschwindigkeit nutzen.“

Wenn solche Menschen für die Entwicklung der künstlichen Intelligenz in Deutschland verantwortlich sind, kann einem schon angst und bange werden.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Felix Hasler: Neuromythologie: Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung
(2) Klaus Gietinger: Vollbremsung: Warum das Auto keine Zukunft hat und wir trotzdem weiterkommen


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