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Zwischen Ende und Anfang

Zwischen Ende und Anfang

Neues entsteht in dem Moment, in dem die Dunkelheit am größten ist.

Die dunkelste Zeit des Jahres ist da. Vielen schlägt sie aufs Gemüt. Wie mit klammen Fingern greifen die kahlen Äste nach uns. Der Boden ist hart und gefroren. Daran kann auch die schönste Weihnachtsbeleuchtung nichts ändern. In unserer unruhigen und oft trostlos anmutenden Zeit mag es vielen nicht gelingen, Zuversicht zu empfinden und Freude.

Der Beginn des Winters steht für Abschied, Trauer, Tod. Die Frucht ist geerntet und in den Samen hinein gestorben. Das Leben zieht sich zusammen und konzentriert sich auf das Wesentliche. Etwas ist unwiderruflich vorbei. Das Neue hat noch nicht begonnen. Noch ist die Zeit der nächsten Blüte fern. Noch heißt es nicht: Lebe und entfalte dich!

Es ist die Zeit der Innerlichkeit und der Zurückgezogenheit, eine Zeit, sich an das wärmende Feuer zu setzen. An uns ist es, es am Brennen zu halten. Um uns daran zu wärmen, geben wir alles hinein, was uns in diesem Jahr zu viel geworden ist. Verbrennen wir, was wir nicht mehr brauchen, nicht mehr wollen, und streifen wir von uns ab, was uns schwer macht und auf dem Herzen lastet.

Im Lebensnetz

Während das Feuer verzehrt, was wir ihm anvertrauen, treten wir an das Kind heran, das in der dunkelsten Nacht geboren wird. Nicht mit Tränen empfängt es uns, sondern mit einem Lächeln. Von seiner Freude gilt es nun, sich anstecken zu lassen.

Nachdem wir die Weihnachtsfeste der vergangenen Jahre maskiert um den Baum herum saßen oder gar nicht zusammenkamen, nachdem die Trommeln der Angst und des Krieges die Weihnachtslieder übertönten, ist es nun an der Zeit, die Freudenfeuer zu entzünden.

Es gelingt uns nur, wenn wir echt sind, authentisch, und ganz präsent in diesem Augenblick. Wenn wir die Verkleidungen einmal abgelegt haben, das Grübeln und Sorgen, erfahren wir ein tiefes Glück, eine nicht zu beschreibende Freude. In Kontakt mit einem Lebensgefühl, nach dem wir gleichermaßen alles sind, was um uns herum ist, alles, was einmal war, was ist und was sein kann, spüren wir: Wir gehören dazu.

Im ewigen Moment der Gegenwart kann nichts verloren gehen. Alles ist da. Alles ist im Samenkorn angelegt. Es muss sich nur entwickeln, herauswickeln (lateinisch „evolvere“, wörtlich: herauswälzen). Auch wenn es noch nicht sichtbar ist: Es fehlt uns an nichts. Das sagt uns diese Zeit. Wir haben nichts zu verlieren als die stets sich im Wandel befindende Form. Was auch geschieht: Wir sind und bleiben ein Teil davon. Niemand fällt aus dem Lebensnetz heraus (1).

Unendliche Geschichte

So können wir die Angst ablegen in der dunkelsten Nacht und in ihr einen Moment der schöpferischen Kraft erfahren. Nicht zwischen Alpha und Omega, zwischen dem ersten und dem letzten Buchstaben des klassischen griechischen Alphabets, wird das Neue erschaffen. Im Anfang befindet sich das Ende schon. Was geboren wurde, muss sterben. In jeder Geburt ist der Tod schon enthalten.

Das Neue entsteht in dem Raum zwischen dem letzten und dem ersten Buchstaben, zwischen Ende und Anfang.

Hier, in der tiefsten Dunkelheit, erfahren wir das schöpferische Potenzial. Das können wir uns jetzt zum Geschenk machen: Begeben wir uns ganz und gar hinein in die Leere zwischen Omega und Alpha und entfachen wir den Funken für eine neue Geschichte.

In dieser Geschichte sind wir keine Opfer, deren vermeintliche Ohnmacht sie dazu treibt, sich bei jeder Gelegenheit künstlich aufzublasen, sondern echte schöpferische Wesen, die das Zeug dazu haben, sich ihre Welt nach ihrem Bilde zu schaffen. So können wir das aktuelle Narrativ beenden, nach dem wir immer gebeugter gehen, bis wir schließlich zu hackable animals werden, zu Tieren die, nach ihrem Nutzen eingeteilt, noch eine Weile leben dürfen oder sterben müssen.

Es werde Licht

Die alte Geschichte führt uns dorthin, woher wir zu kommen glauben: in eine sinnlose Leere. An uns ist es, die Evolutionsgerade gewissermaßen umzudrehen und unsere Geschichte in Richtung der Fülle zu lenken, in eine neue Fruchtbarkeit und Vielfalt, in der jedes Lebewesen seinen einzigartigen und angestammten Platz hat und unersetzlich ist: in den Urwald, dorthin, wo das Leben im Zusammenwirken der Elemente unaufhörlich pulsiert und sich immer wieder aus sich heraus erschafft.

Ziehen wir uns die Schleier von den Augen und lernen wir zu schauen. Trennen wir uns von dem, was uns dicht macht und unsere Herzen verschließt. Entfernen wir die Hindernisse, die das Licht daran hindern, sich auszubreiten. Lassen wir es in dieser dunkeln Zeit in uns Licht werden. Öffnen wir unsere Herzensräume und lassen wir in ihnen das Blei des zu Ende gehenden Jahres zu Gold werden.

Während des Zweiten Weltkrieges, in einer Zeit tiefster Dunkelheit, trafen sich vier ungarische Freunde, drei davon jüdischer Herkunft. Regelmäßig tauschten sie darüber aus, was ihnen Hoffnung gab, Orientierung, Kraft und einen Sinn im Leben, bis plötzlich einer von ihnen rief: Achtung, jetzt spreche nicht mehr ich! Inmitten abgründiger Grausamkeit und lebensverachtender Zerstörung empfingen sie die himmlische Botschaft, die alle Spaltungen überwindet und die erlösende Einheit verwirklicht (2).

Was auch immer uns in dieser Dunkelheit noch begegnen mag: Stoßen wir es nicht von uns. Nehmen wir es an und lassen es sich in unserem Herzen verwandeln.

In diesem Raum ist alles möglich. Machen wir uns das zum Geschenk. Lassen wir es einfach geschehen und bewahren wir uns die Zuversicht, dass es zu unserem Besten ist und zum Besten aller, die mit uns sind.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://zeitpunkt.ch/tiefenzeit
(2) Gitta Mallasz: Die Antwort der Engel, Daimon 2018

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