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Menschlichkeit in Seenot

Menschlichkeit in Seenot

Bereits 2008 versuchte eine internationale Flottille überlebenswichtige Güter nach Gaza zu liefern — sie wurde dabei auf hoher See von der israelischen Marine brutal geentert und an dem Vorhaben gehindert.

Im August 2008 erreichten zwei Boote mit 44 Aktivisten Gaza — die ersten internationalen Schiffe seit 42 Jahren! Es folgten danach vier weitere erfolgreiche Anlandungen, drei weitere Schiffe wurden von der israelischen Marine aufgebracht, teilweise mit brutaler Gewalt.

2010 gab es mit ursprünglich acht Schiffen die größte Flottille, die von den Häfen von Athen, Istanbul und Agios Nikolaos/Kreta gestartet waren. Sie hatte etwa 10.000 Tonnen Hilfsgüter an Bord, über 700 Passagiere aus 36 Ländern, darunter Abgeordnete aus verschiedenen Staaten, viele Journalisten, Aktivisten.

Am 31. Mai 2010 griffen israelische Soldaten die Free Gaza Flottille in internationalen Gewässern an.

Die Mavi Marmara, ein ehemaliges türkisches Fährschiff und mit fast 600 Passagieren das größte Schiff der Flottille, wurde von Helikoptern aus attackiert und geentert, wobei neun Aktivisten, acht Türken und ein US-Amerikaner, getötet wurden. Viele wurden verletzt.

Insgesamt sollen an der „Operation Seebreeze“ 1.000 israelische Soldaten auf vier Kriegsschiffen und 30 Zodiacs beteiligt gewesen sein. Neben Schusswaffen wurden Tränengas- und Blendgranaten, Farbgeschosse (paint ball guns) und gummiummantelte Stahlgeschosse eingesetzt.

Vor der Abfahrt hatten die Hafenbehörden die Fracht akribisch kontrolliert, um mögliche Waffentransporte auszuschließen. Es war absolut verboten, Waffen oder Munition mit an Bord zu nehmen. Wie sich später bei der Untersuchung des Gepäcks der Passagiere und der Löschung der Fracht durch die Israelis im Hafen von Ashdod herausstellte, hatten alle Reisende dieses Verbot befolgt. Entgegen der israelischen Beschuldigungen gab es an Bord keine Waffen, nur Küchenmesser, wie auf Fähren üblich.

In Deutschland wurde die Flottille von IPPNW (Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges — Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V.) unterstützt, der Deutschen Sektion von pax christi und von einigen palästinensischen Organisationen (Deutsch-Palästinensische Gesellschaft, Palästinensische Gemeinde Deutschland, Deutsch-Palästinensische Medizinische Gesellschaft). Der fünfköpfigen deutschen Delegation gehörten Mathias Jochheim (IPPNW) an, Nader El-Saqa (Palästinensische Gemeinde), Norman Paech, Völkerrechtler und zwei Abgeordnete der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Inge Höger und die Autorin.

Ich hatte damals meine Teilnahme in einer Pressemitteilung auch mit dem Hinweis auf die Genfer Abkommen begründet, um auf die Relevanz des Völkerrechts hinzuweisen. Heute, im Jahr 2025, scheint Internationales Recht keine Rolle mehr zu spielen.

„Nach Artikel 55 und 56 des Vierten Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten hat Israel die Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung in Gaza mit Nahrungs- und Arzneimitteln sowie die Aufrechterhaltung der medizinischen Infrastruktur mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen. Als Kollektivstrafe gegen die Zivilbevölkerung verletzt die Blockade auch Art. 33 des Abkommens. (…) Die Flottille ist ein Plädoyer für die Achtung menschenrechtlicher und völkerrechtlicher Normen, ohne deren Durchsetzung ein dauerhafter und gerechter Frieden in der Region noch lange Utopie bleiben wird.“ (1)

Wir fünf Deutsche reisten zunächst auf zwei Jachten unter US-amerikanischer Flagge, den Challenger-Booten I und II, und setzten später nach technischen Problemen auf die Mavi Marmara über, die unter der Flagge der Komoren fuhr.

Frühmorgens am 31. Mai 2010 wurden die Passagiere über Lautsprecher auf Englisch und Arabisch aufgefordert, sich in die Aufenthaltssäle zu begeben und jeden Widerstand zu unterlassen. Die Israelis hätten das Kommando über das Schiff übernommen. Wir Frauen, die aus Sicherheitsgründen auf dem untersten Deck eingeschlossenen waren, mussten in das obere Deck kommen, wurden einzeln untersucht und mit Kabelbindern um die Handgelenke gefesselt. Alles, auch unsere Handys, wurde uns abgenommen. Wir mussten nach draußen auf die Außengänge gehen, wobei wir Frauen und die männlichen Europäer auf den Bänken sitzen durften, während die anderen Passagiere in Reih und Glied knien mussten.

Der Toilettengang wurde willkürlich erlaubt oder verboten. Die Verletzen wurden an mir vorbei auf das Sonnendeck gebracht und zwar auf den Bahren liegend mit dem Kopf nach unten, was bei Schwerverletzten durchaus den Tod hätte bedeuten können.

Nach vielen Stunden auf hoher See nahm die Mavi Marmara Kurs auf Ashdod. Helikopter brachten weitere Verstärkung heran, unter anderem auch Hunde. Die Kaperung der anderen Schiffe zur gleichen Zeit verlief zwar ohne Tote, aber mit großer Gewalt. Die israelischen Soldaten benutzten Taser (Elektroschockwaffen) und Gummigeschosse, schlugen etliche Passagiere mit den Kolben ihrer Waffen, sodass sie bluteten, fesselten sie mit Kabelbindern und stülpten ihnen Kapuzen über. (2)

Es gab damals viele Protest gegen diesen völkerrechtswidrigen Überfall in internationalen Gewässern und die Brutalität der Soldaten und Soldatinnen gegenüber den Zivilisten. Etliche Prominente wie der schwedische Schriftsteller Henning Mankell sowie die bekannte Knesset-Abgeordnete Hanin Zoabi waren unter den Passagieren.

Dadurch, dass uns allen die Kameras und Handys abgenommen wurden, konnten wir keine Fotos machen, sodass die Berichterstattung einseitig durch die Israelis erfolgte.

Israelische IOF-Angehörige (Israeli Occupation Forces, in Israel werden die Streitkräfte IDF, israelische Verteidigungskräfte genannt) bescheinigten uns Aktivisten große Gewalttätigkeit durch Messer und Eisenstangen und wiederholten immer wieder, dass sie sich verteidigen mussten.

Das Argument von der „Selbstverteidigung“ benutzen auch noch heute deutsche Politiker, um den Vorwurf des Völkermords zu entkräftigen.

Um die angebliche Gewalt durch die Free-Gaza-Aktivisten zu untermauern, fälschten israelische Medienexperten für die Öffentlichkeit bestimmte Videos, wie mir Kameraleute erklärten.

Da es einigen Journalisten gelang, ihre Filme vor den Israelis zu verstecken, gibt es Aufnahmen von dem Überfall.

Damals veröffentlichten die Medien, auch etliche deutsche, zahlreiche Artikel, in denen sie den israelischen Überfall und die Brutalität gegenüber den Passagieren heftig kritisierten.

Den beeindruckendsten Kommentar schrieb der Haganah-Veteranen Dov Yirmiya der israelischen Friedensbewegung Gush Shalom. Unter dem Titel „Grenzenlose Schande“ äußerte er sein Entsetzen:

„Ich bin einer von den noch übrigen Haganah-Veteranen, die in der britischen Armee gedient haben und danach zu den Initiatoren der illegalen Einwanderung für die Holocaustüberlebenden gehörte. Wir kämpften gegen die Mächte des siegreichen Großbritannien für das Recht, an den Küsten dieses Landes anzukommen. Ihre Kriegsschiffe und Soldaten, die gerade gegen den schlimmsten aller Feinde gekämpft und sie besiegt hatten, gingen nun dazu über, unsere Boote mit Wut und Haß zu bekämpfen, unsere Boote, die von den Küsten Italiens voll Überlebender aus der Nazihölle in dieses Land abfuhren. Die Kriegsschiffe jagten hinter ihnen her, schlossen sie ein, manchmal zerdrückten sie sie, schossen auf sie, töteten und verletzten viele ihrer Passagiere. Und jetzt habe ich mit Schrecken und gebrochenem Herzen eine Wiederholung derselben Szenen beobachtet — doch mit umgekehrten Rollen. Es sind die Soldaten und Matrosen der Militärkräfte, die sich rühmen, die 'israelischen Verteidigungskräfte' zu sein. Sie sind nun die Verfolger und Mörder.

Es gibt keine Grenze für die Schande, die Grausamkeit und die Heuchelei, die unsere kriminellen Akte mit Lügen und Bösartigkeit einhüllen. Ich bin bis in die Tiefen meines Herzens betroffen … wie konnten wir nur so tief fallen? Wie sind wir zu einem ungerechten und grausamen Volk geworden, aus einem von Verfolgten zu einem, der verfolgt?

Doch! Ich hätte es erwarten können. 19 Jahre lang waren wir mit dem System einer Militärregierung über die arabische Minderheit einverstanden, die nach dem Unabhängigkeitskrieg bei uns geblieben ist. Sie wurde von uns enteignet und diskriminiert. Dann folgten 43 Jahre von berauschendem nationalistischem Draufgängertum, das nach dem Sieg von 1967 wie eine abhängig machende Droge unser Volk durchdrang und die Großisrael-Bewegung an die Macht brachte, die seitdem in Israel herrscht. Unsere goldene Gelegenheit, als Sieger mit dem palästinensischen Volk Frieden zu schließen, verschwand im Nu. (…) Die riesige Bürde von Ungerechtigkeit und wahnsinniger Niederträchtigkeit, die das sikarische [fanatisch nationalistische, die Red.] Israel sich aufgeladen hat, bringt eine Katastrophe. Schon in voraussehbarer Zukunft ist Israel dabei, seine Überlebenschancen zu zerstören. Das Menetekel der Zerstörung steht schon mit Blut an der Wand. Wehe unseren Kindern, unseren Enkeln und Urenkeln, denen wir solch eine Erbschaft hinterlassen.“ (3)

Lockerung der Blockade?

Zweieinhalb Wochen nach der brutalen Erstürmung der Flottille durch das israelische Militär verkündete die israelische Regierung eine Lockerung der Blockade und sagte zu, Materialien für „zivile Projekte“ in den Gazastreifen zu lassen. Da es sich bei der Lockerung eher um eine verbale Ankündigung handelte und dringend benötigte Waren und Materialen immer noch nicht zugelassen wurden, appellierten 23 europäische Hilfsorganisationen im November 2010 an die internationale Gemeinschaft, Israel zur „sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Aufhebung der Blockade“ zu bewegen. Die angebliche Lockerung der Blockade im Juni 2010 habe fast nichts bewirkt, so ihre Kritik.
Auch der ehemalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) forderte damals eine vollständige Aufhebung der Blockade und betonte, dass die von Israel angekündigte Lockerung der Blockade „ausdrücklich nur ein erster Schritt sei“.

Bundestagsbeschluss auf Ende der Blockade

Selbst der Deutsche Bundestag hat im Juni 2010 auf den Überfall reagiert und einmütig einen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem Titel „Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären — Lage der Menschen in Gaza verbessern — Nahost-Friedensprozess unterstützen“ angenommen und die Bundesregierung dazu aufgefordert, mit Nachdruck auf ein Ende der Gaza-Blockade hinzuwirken.

„Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

3. die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik bei ihren Initiativen zur Verbesserung der humanitären Lage in Gaza mit allem Nachdruck zu unterstützen und sich innerhalb der Europäischen Union insbesondere dafür einzusetzen, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen damit beauftragt wird, mit Israel über den Zugang nach Gaza auch auf dem Seeweg und die Schaffung entsprechender technischer Voraussetzungen mit dem Ziel zu verhandeln, dass unter Wahrung der Sicherheitsinteressen Israels von den Vereinten Nationen benötigte Güter nach Gaza eingeführt werden können;

4. die Forderung der Europäischen Union nach einer sofortigen Aufhebung der Gaza-Blockade mit Nachdruck zu unterstützen und darauf hinzuwirken, dass Israel die Positivliste von Gütern, deren Einfuhr möglich ist, in eine Negativliste verbotener Güter wie Waffen und waffenfähiges Material umwandelt;“ (4)

Leider folgten dem Beschluss keine Taten, aber ein Hinweis darauf kann als Argumentationshilfe im Kontext der Antisemitismus-Resolutionen des Bundestags durchaus hilfreich sein. Diese haben so wenig Gesetzeskraft wie der „Blockade-Antrag“. Angesichts der heutigen Debatten und Beschuldigungen sowie Verfolgungen von sogenannten „Pro-Palästinenser-Aktivisten“ ist dieser Antrag bemerkenswert und würde wohl heute vom Bundestag nicht angenommen.

Wir fünf Teilnehmer der Free Gaza Flottille reichten schon im Juni 2010 bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe Strafantrag „gegen Unbekannt“ wegen Entführung, Freiheitsberaubung und Beschlagnahme von Eigentum ein. Die Bundesanwaltschaft hat unseren Antrag fünf Jahre geprüft, um ihn dann zurückzuweisen, da der Angriff völkerrechtsgemäß gewesen sei.

Ein Überfall auf zivile Schiffe mit vielen Passagieren in internationalen Gewässern soll „völkerrechtsgemäß“ sein?

Der Angriff war ein Verstoß gegen das Völkerrecht, weil der Überfall sich eindeutig gegen Zivilpersonen und zivile Schiffe richtete, die nach den Genfer Konventionen geschützt sind.

Auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag untersuchte den Überfall der israelischen Armee auf die Mavi Marmara. 2013 brachten die Komoren, unter deren Flagge die Mavi Marmara lief, den Fall vor den IStGH. Die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda entschied jedoch, keine Anklage zu erheben, da der Fall „nicht schwerwiegend genug“ sei.

„Das sahen die Richter anders und forderten sie 2017 erneut auf, den Vorgang noch einmal zu untersuchen. Doch Bensouda blieb bei ihrem Votum und weigerte sich, eine Anklage gegen Israel einzureichen. Im September 2019 wiesen die Richter Bensouda nochmals an, den Überfall bis zum 2. Dezember 2019 zu untersuchen und gegebenenfalls Anklage zu erheben.“ (5)

Soweit bekannt, wurde danach nichts mehr unternommen.

Gaza — die Krise für die Humanität

Nach 2010 hat sich die Situation in Gaza und Palästina immer weiter verschlechtert. Die internationale Gemeinschaft ebenso wie die Regierungen der Mitgliedsstaaten der EU haben völlig versagt. UN-Generalsekretär Antonio Guterres äußerte bereits am 6. November 2023:

„Dieser Albtraum in Gaza ist mehr als eine humanitäre Krise. Es ist eine Krise für die Menschheit, für die Humanität.“

Die UN-Sonderberichterstatterin, Francesca Albanese, ließ angesichts der Repression gegen Kritiker der Bundesregierung und ihrer Komplizenschaft mit der rechtsextremen israelischen Regierung folgendes verlautbaren:

„Es scheint in Deutschland eine Art Paranoia zu geben, was kritische Auseinandersetzung betrifft mit dem, was Israel tut. Viele Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt sprechen sich dagegen aus, was in ihrem Namen geschieht. Aber Deutschland bringt selbst Israelis und jüdische Menschen zum Schweigen, die sich öffentlich gegen Israels Politik positionieren. Anstatt Israel mit den gleichen Maßstäben zu messen wie andere Länder, lässt man die Regierung ungestraft weitermachen.“ (6)

Das war noch vor ihren Auftrittsverboten an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München und an der Freien Universität im März 2025!

Warnung an die deutschen Freunde

Ich möchte hier an die Warnung von Amos Goldberg, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem und Holocaustforscher, erinnern, der bereits im November 2019 einen Brief an „Meine deutschen Freunde“ in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte, Titel: „Deutschlands Politik sollte nicht der Ungarns, Polens und Israels ähneln“.

Hintergrund war der Bundestagsbeschluss, der die Bewegung für einen Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel mit Antisemitismus gleichsetzte. Goldberg betonte, dass „viele, wenn nicht die meisten Antisemitismusforscher, darunter die Professoren Wolfgang Benz und Moshe Zimmerman, geltend machen, dass BDS als solches nicht antisemitisch sei“. Er kritisierte die Kündigung des Kontos der Organisation „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ durch die deutsche Bank für Sozialwirtschaft, weil die Bank „zu dem Schluss kam, dass diese Juden wegen ihrer Unterstützung von BDS eigentlich selbst Antisemiten seien“.

Ein ungeheuerlicher Vorwurf, aber die Repression gegen kritische Juden geht heute noch weiter. Etliche jüdische Intellektuelle, Künstler erhielten und haben Auftrittsverbote. Goldberg weiter:

„Es sind aber nicht nur Juden und Palästinenser im Nahen Osten, die den Preis für Passivität zahlen. Die Deutschen bezahlen auch selbst. Mit Hunderten von jüdischen und israelischen Gelehrten beobachte ich, wie das politische System in Deutschland rapide die freie Rede erodiert, wenn es um Israel und Palästina geht, und wie der öffentliche Diskurs in Diffamierung und Rufmord abgleitet. (…) Ich warne meine Freunde in Deutschland wegen unserer Erfahrungen in Israel: Es steht noch mehr Ärger bevor, falls Sie die Grundsätze der Demokratie, die Meinungsfreiheit und eine prinzipientreue Außenpolitik nicht energisch verteidigen. Wenn Sie nicht für diese Werte kämpfen, gerade auch im Kontext sensibler Themen, könnte sich Deutschland in fünf oder zehn Jahren in ein weiteres illiberales Bollwerk verwandeln. Seine Politik könnte dann der Israels, Ungarns und Polens ähneln.“ (7)

Leider hatte Goldberg mit seiner Prophezeiung recht. Die Meinungsfreiheit wird immer weiter eingeschränkt, Aktivisten, die gegen den Völkermord in Gaza protestieren, werden teilweise brutal zusammengeschlagen und juristisch mit dem Vorwurf der Volksverhetzung verfolgt, einige werden von Ausweisung bedroht, die Reihe der Repressionen ist lang. Pazifisten und Kriegsgegner, die gegen die Waffenexporte nach Israel und in die Ukraine sowie gegen die Aufrüstungspläne protestieren, werden als „Putinversteher“ oder als „aus der Hölle gefallene Engel“ beschimpft. Das Wort „Frieden“ ist zum Unwort mutiert, die Deutschen sollen „kriegstüchtig“ werden, und das 80 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus!

Aussetzung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens

Wenn der politische Wille da wäre, könnten die Bundesregierung und die EU Israel für ihre Verbrechen sanktionieren und Waffenlieferungen sowie andere Unterstützungsmaßnahmen sofort einstellen. Die EU könnte sofort das EU-Israel-Assoziierungsabkommen suspendieren, das in Artikel 2 beide Vertragspartner zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet.

Josep Borrell, ehemaliger Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission, hat dazu einen aufrüttelnden Text verfasst, der am Ostersonntag, dem 20. April 2025, in der spanischen Zeitung El Pais erschien. Darin kritisiert er mit scharfen Worten den Genozid und bezeichnet die Vertreibung der Bevölkerung in „verbotene Zonen“ als die „größte ethnische Säuberungsaktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“. Laut Borrell hat Israel Katz, der damalige israelische Außenminister, die EU-Kommission bereits Anfang 2024 über den Plan von Präsident Donald Trump zur „freiwilligen Migration der Bewohner Gazas“ in Kenntnis gesetzt.

Angesichts der massiven Verstöße gegen das Völkerrecht kritisiert Borrell die Untätigkeit der EU und bekennt, dass es ihm „als Hoher Vertreter der EU für Außenpolitik nicht gelungen (ist), den Rat oder die Kommission dazu zu bewegen, auf die massiven und wiederholten Verstöße gegen das Völkerrecht und das humanitäre Recht durch die Regierung Netanjahu zu reagieren, im Gegensatz zu unserem Vorgehen angesichts der Aggression Putins gegen die Ukraine“.

Borrel führt weiter aus:

„Bis zum Ende meiner Amtszeit konnte ich feststellen, wie sehr diese Politik der Doppelmoral die Position der EU in der Welt geschwächt hat. Nicht nur in der muslimischen Welt, sondern auch in Afrika, Lateinamerika und Asien. (...) Spanien und einige wenige andere europäische Länder haben ihre Stimme erhoben und die Kommission aufgefordert, zu prüfen, ob dieses Verhalten mit den Verpflichtungen aus dem Assoziierungsabkommen vereinbar ist. Als Antwort erhielten sie nur Schweigen. Das schlechte Gewissen einiger europäischer Länder in Bezug auf den Holocaust, das zu einer ‚Staatsräson’ geworden ist, um die bedingungslose Unterstützung Israels zu rechtfertigen, könnte uns zu Komplizen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit machen.

Ein Grauen rechtfertigt kein anderes. Und wenn wir nicht wollen, dass die Werte, die wir zu verteidigen vorgeben, jegliche Glaubwürdigkeit verlieren, kann die EU nicht weiterhin tatenlos zusehen, wie sich das Grauen in Gaza fortsetzt und das Westjordanland ‚gazaifiziert’ wird. Entgegen der öffentlichen Debatte und trotz des völligen Mangels an Empathie einiger ihrer Verantwortlichen verfügt die EU über zahlreiche Hebel, um gegen die israelische Regierung vorzugehen: Wir sind ihr wichtigster Handelspartner in Bezug auf Investitionen und den Austausch von Personen. Wir liefern mindestens ein Drittel der Waffen, die sie einsetzt, und haben mit Israel das umfassendste Assoziierungsabkommen geschlossen. Aber auch dieses ist, wie alle anderen, an die Einhaltung des Völkerrechts und insbesondere des Humanitären Rechts geknüpft. Wenn wir wollen, können wir handeln. Und wir haben schon zu lange gewartet. Viele Israelis, die sich bewusst sind, dass Netanjahus Flucht nach vorn langfristig die Sicherheit und das Überleben des Staates Israel gefährdet, wären uns dafür dankbar.“ (8)

Aus Borrells Worten wird eine große Frustration deutlich. Aber es ist auch zu fragen, warum er nicht viel eher und viel lauter seine Stimme erhoben und die Aussetzung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens gefordert hat. Als Außenbeauftragter der EU-Kommission hatte er viel Gewicht und Einfluss, den er meiner Auffassung nach nicht genutzt hat.

Wenn nicht die Politiker die Suspendierung des Assoziierungsabkommens fordern, müssen die europäischen Zivilgesellschaft diese Forderung laut erheben. Der Artikel 2, die beide Vertragspartner zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet, ist ein gutes Argument dafür.

Statt laute Kritik an dem Morden in Gaza und der Gewalt und Vertreibung im Westjordanland zu üben, hat die EU kürzlich 1,6 Milliarden Euro für Gaza und das Westjordanland bis 2027 bewilligt, wobei mehr als 50 Prozent an die Palästinensische Autonomiebehörde gehen. Das werden viele Palästinenser wie ein Schlag ins Gesicht wahrnehmen!


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Quellen und Anmerkungen:

(1) http://ipk-bonn.de/downloads/21. Mai
(2) Mehr Infos zur Free Gaza Flottille: „Free Gaza — eine aktuelle Erinnerung an eine ungelöste Aufgabe“—„Zehn Jahre nach dem israelischen Massaker an Menschenrechtsaktivisten“, Bericht von Prof. Dr. Norman Paech und Annette Groth https://bip-jetzt.de/2020/06/13/bip-aktuell-123-free-gaza-eine-aktuelle-erinnerung-an-eine-ungeloeste-aufgabe/
(3) Dov Yirmiya: „Grenzenlose Schande“, junge Welt, 29. Juni 2010 https://www.jungewelt.de/artikel/146664.grenzenlose-schande.html
(4) https://dserver.bundestag.de/btd/17/023/1702328.pdf
(5) Norman Paech: „Free Gaza Flotille, Rechtsfreier Raum Israel? Internationaler Strafgerichtshof will Überfall auf die »Gaza Freedom Flotilla« 2010 untersuchen“ https://www.jungewelt.de/artikel/362333.free-gaza-flotille-rechtsfreier-raum-israel.html
(6) UN-Sonderberichterstatterin: »Schwelle zum Völkermord erreicht«, Francesca Albanese über Israels Vorgehen in Gaza, Deutschlands Verantwortung und die Vorwürfe gegen ihre Person, Interview: Hanno Hauenstein 23. April 2024 in Neues Deutschland https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181657.gaza-krieg-un-sonderberichterstatterin-schwelle-zum-voelkermord-erreicht.html
(7) https://www.fr.de/meinung/appell-meine-deutschen-freunde-12851166.html
(8) Dieser Text von Josep Borrell erschien am Ostersonntag, 20. April 2025, in der spanischen Zeitung El Pais unter dem Titel „Semana de pasion en Gaza“, der deutsche Text basiert auf der französischen Übersetzung, die Claude Gregoire vom Comite pour une Paix Juste au Proche-Orient, Luxemburg, angefertigt hat.
https://www.sand-im-getriebe.org/media/pages/artikel/thema-israel-palastina/20312d04c0-1745650129/josep-borrell-passionswoche-in-gaza-20-april-2025.pdf
https://elpais.com/internacional/2025-04-20/semana-de-pasion-en-gaza.html

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