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Operation „Weihnachtsmarkt“

Operation „Weihnachtsmarkt“

Sieben Jahre nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz gehen die Ermittlungen weiter. Ein Handy, das den Hauptverdächtigen belasten soll, ist im Fokus.

Bis um 11 Uhr am Morgen des 20. Dezember 2016 stand der 40 Tonnen schwere Sattelschlepper, der am Abend zuvor in den Weihnachtsmarkt gelenkt worden war, auf dem Breitscheidplatz an der Gedächtniskirche in Berlin. In der Nacht stellten die Ermittler in einem Loch der vorderen äußeren Karosserie ein Mobiltelefon der Marke HTC sicher. Dieses Gerät, das dem angeblichen Attentäter Anis Amri gehört haben soll, gilt als eines der Beweisstücke für die Täterschaft des Tunesiers. Die Geodaten des HTC-Telefons sollen belegen, dass es am 19. Dezember 2016 zwischen 19:30 Uhr und 20 Uhr zur selben Zeit denselben Weg von Berlin-Moabit zum Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg zurückgelegt hat wie der Lastwagen. Mit diesem Gerät soll Amri während der Anfahrt sogar ein Gespräch mit einem Vertreter des IS (Islamischer Staat) geführt haben, der ihn im Tatentschluss ermutigt haben soll.

Wie das Handy in das Loch der LKW-Karosserie gelangt ist, können die Spezialisten des BKA nicht beantworten. Sicher ist, dass es durch den Aufprall auf die Buden des Weihnachtsmarktes nicht dorthin gekommen sein kann. Was den Ermittlern bleibt, ist nicht mehr als eine Spekulation: Ist das Gerät bei der Bergung des toten Speditionsfahrers aus der LKW-Kabine gefallen und dann von jemandem in das Karosserieloch gesteckt worden? Überzeugt sind sie davon selber nicht. Tatsächlich stellt das Handy im Gegenteil eher ein mögliches Beweisstück dar für eine Tat- und Tatort-Manipulation.

Die Geodaten des Handys sollen laut Ermittlern auch ergeben, dass es „nach dem Anschlag“ in einer Funkzelle im Wedding eingeloggt war, wo sich in der Freienwalder Straße die Wohnung befand, in der Amri bis zum Anschlagstag mit drei anderen Männern zusammengewohnt hatte. Eine genaue Uhrzeit oder ein Zeitraum wird nicht genannt.

Die Wegmarken des HTC-Handys am Abend des 19. Dezembers 2016 wären demnach gewesen: Anfahrt im LKW zum Breitscheidplatz, danach Verbringung zu Amris Wohnung im Wedding, anschließend Rückkehr zum Breitscheidplatz und Platzierung in der LKW-Karosserie.

Und die Fragen, die sich aus dieser Geschichte ergäben, wären unter anderem folgende: Wer brachte das Handy nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz in den Wedding und warum? Wer brachte es anschließend vom Wedding wieder zum Breitscheidplatz, und wer steckte es in die LKW-Karosserie? War das ein und dieselbe Person? War es Amri? Waren es mehrere Personen?

Die Frage nach mehreren Beteiligten am Tatgeschehen stellt sich genau besehen bereits für die Anfahrt des LKW zum Breitscheidplatz, zumal fahren und gleichzeitig telefonieren selbst für einen geübten Fahrer eine Herausforderung ist. Zwei Zeugen wollen gesehen haben, wie der LKW beim Bahnhof Zoo noch einmal anhielt und ein Mann ausstieg, ehe das Fahrzeug dann den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche ansteuerte. Hatten also zwei Personen den LKW in ihre Gewalt gebracht, eine lenkte ihn, die andere bediente das Handy? Oder befand sich das Handy auf der Anfahrt zum Breitscheidplatz zwischen 19:30 Uhr und 20 Uhr etwa gar nicht im LKW, sondern möglicherweise in einem Begleitfahrzeug vor oder hinter ihm?

Die Auswertung der Funkzellen entlang der Fahrtroute des LKW ergab einmal, dass ein Autotelefon in einem BMW-Fahrzeug zur selben Zeit dieselbe Wegstrecke begleitete wie der Tat-LKW. Und bei einer zweiten Telefonnummer mit russischer Einwahl wurden ebenfalls zeitliche und räumliche Überschneidungen mit den Mobilfunkdaten im LKW festgestellt. In beiden Fällen hat das BKA die Ermittlungen nicht konsequent zu Ende geführt, um die Nutzer zu identifizieren. Es konnte die Unterlassung mit der Theorie vom Alleintäter Amri rechtfertigen, der ja angeblich keine Helfer oder Mittäter gehabt haben soll.

Wir brauchen für die mögliche alternative Tatgeschichte keine Verschwörungstheorie, geheime Akten oder anonyme Hinweisgeber. Sie ergibt sich allein aus den Aussagen von Vertretern des BKA in den Untersuchungsausschüssen sowie aus dem Bericht des Abgeordnetenhauses von Berlin. Öffentliche Quellen also, für jedermann nachvollziehbar. Im Ausschussbericht des Abgeordnetenhauses findet sich auf Seite 747/748 der Satz:

„Die Auswertung der Geodaten des HTC-Handys von Amri weisen darauf hin, dass er nach dem Anschlag in seiner Wohnung gewesen sein muss.“

Urheber des Satzes ist das Bundesinnenministerium, und da es um Ermittlungserkenntnisse geht, kommt als Quelle nur das BKA in Frage.

Offenbar hat das BKA gar nicht realisiert, was es da schreibt. Denn seine eigenen Erklärungen sind es, mit denen die offizielle Version vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz und dem Alleintäter Amri widerlegt werden. Was wir vor uns haben, ist mehr als eine Verschwörungstheorie: Es ist die Beschreibung einer Verschwörungspraxis.

Das Beweismittel HTC-Handy belegt jedenfalls eine Tatortmanipulation. Und die Frage nach der Person, die es vom Wedding zum Breitscheidplatz in Charlottenburg gebracht hat, ist genau genommen eine nach der Tätergruppierung. Hinter dem Terroranschlag mit dreizehn Toten und dutzenden Verletzten steht offensichtlich eine Operation mehrerer Täter. Waren daran auch bundesdeutsche Sicherheitsstellen beteiligt, inklusive V-Leuten der verschiedensten Behörden? In der später aufgelösten Fussilet-Moschee, von der aus der Anschlag geplant und durchgeführt wurde, waren unter den 40 bis 50 Moscheegängern mindestens sieben V-Leute von mindestens vier Sicherheitsorganen.

Eine Manipulation stand bereits am Anfang der Aufklärung des Anschlags. Nachdem Anis Amri als alleiniger Täter festgelegt worden war, wurde die Amri-Akte im LKA durch die Sachbearbeiter verändert, indem die strafbaren Erkenntnisse über ihn abgeschwächt und seine Komplizen aus der Akte eliminiert wurden. Aus einem gefährlichen Gruppentäter wurde ein weniger gefährlicher Einzeltäter gemacht.

Die Manipulationen durchziehen den Anschlagskomplex vollständig. Selbst nachdem der Untersuchungsausschuss des Bundestags im Frühjahr 2021 seine Beweiserhebung abgeschlossen und die öffentlichen Sitzungen beendet hatte, musste er in bitterer Weise feststellen, dass sogar er manipuliert worden war. Die Abgeordneten schrieben seit Wochen am Abschlussbericht, Mitte Juni sollte dieser dem Bundestagspräsidenten übergeben werden, als das Bundesinnenministerium Anfang Mai mitteilte, im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) habe man knapp 3000 Seiten umfassende Akten übersehen, die für den Ausschuss bestimmt gewesen seien. Ende Mai und Anfang Juni 2021 wiederholte sich die Demütigung der Legislative durch die Exekutive weitere zwei Mal. Das Material wurde so spät geliefert, dass die Abgeordneten damit nicht mehr arbeiten konnten. Der Sicherheitsapparat demonstrierte dem Parlament damit auch, dass dessen Erkenntnisse unvollständig sind und sein Untersuchungsbericht wertlos ist.

Immerhin entdeckten aufklärungsinteressierte Ausschussmitglieder bei der schnellen Durchsicht der Akten, dass es in der Fussilet-Moschee einen zweiten V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) gegeben hat. Mehrere ranghohe Zeugen des BfV hatten geschworen, es habe nur eine Quelle gegeben.

Diese eine Quelle beschäftigte sogar das Bundesverfassungsgericht. Weil das Innenministerium weder den Klarnamen der Quelle noch den ihres Führungsbeamten herausgeben wollte, riefen drei Fraktionen das oberste deutsche Gericht an. Das jedoch entschied pro Verfassungsschutz und pro Bundesinnenministerium. Der Quellenschutz gehe vor, ansonsten sei das Staatswohl in Gefahr. Wenn man dann allerdings erfährt, dass es um mindestens zwei Quellen in der Moschee ging, von der aus der Anschlag organisiert wurde, heißt das nichts anderes, als dass auch das Bundesverfassungsgericht vom Bundesverfassungsschutz und der Bundesregierung getäuscht und missbraucht wurde. Der Geheimdienst hat nicht nur der „Staatsgewalt Parlament“, sondern auch der „Staatsgewalt Justiz“ sein Wissen vorenthalten und ihnen gegenüber seine Dominanz demonstriert.

Damals im Frühjahr 2021 machte der Vertreter der Bundesanwaltschaft in der letzten öffentlichen Ausschusssitzung Ende März die überraschende Ankündigung, dass die Asservate von Anis Amri, die in Italien lagerten, weil der angebliche Attentäter dort vier Tage nach dem Anschlag am 23. Dezember 2016 ums Leben kam, nach Deutschland gebracht werden sollen, um hier kriminaltechnisch untersucht zu werden. Die Bundesanwaltschaft als federführende Ermittlungsbehörde reagierte damit auf die im Ausschuss wie unter Opfern zunehmende Skepsis gegenüber der Korrektheit der Ermittlungen wie der Einzeltäterschaft von Amri.

Die Amri-Asservate bestehen aus den Kleidungsstücken und anderen Gegenständen, dem Rucksack, aber vor allem auch aus der Pistole der Marke Erma, mit der der polnische Speditionsfahrer erschossen worden sein soll und mit der Amri auf die beiden italienischen Polizisten gefeuert haben soll, die daraufhin ihn getötet haben. Der Vertreter der Bundesanwaltschaft begründete die Untersuchung der Asservate in Deutschland damit, es solle ausgeschlossen werden, dass jemand anderes als Amri der Täter war. Man wolle auch Legendenbildungen vorbeugen, unter denen die Opfer und Hinterbliebenen leiden würden.

Der angestrebte Zweck muss sich allem Anschein nach schwieriger als gedacht erwiesen haben. Bis heute präsentiert die Karlsruher Behörde kein konkretes Ergebnis. Zunächst erfuhr man im Jahr 2021 nur, dass die Asservate in Deutschland vorlägen und „derzeit kriminaltechnisch untersucht“ würden. Danach hörte man Jahre lang gar nichts mehr. Im April 2023 teilt die Behördensprecherin auf Nachfrage mit, dass die „Untersuchung der aus Italien übersandten Asservate inzwischen vorläufig abgeschlossen“ wurde. Gefolgt allerdings von dem Satz: „Ich bitte um Verständnis, dass wir uns angesichts der insgesamt fortdauernden Ermittlungen zu Einzelheiten nicht äußern.“ Denselben Satz verwendet die Behörde immer noch, wenn sie nach Erkenntnissen gefragt wird.

Beleg, dass Amri der Täter war? Widerlegung von Legenden? Was sind das für Ermittlungen, die noch fortdauern? Jene im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Operation mehrerer Verfassungsschutzämter (BfV, LfV Berlin, LfV Mecklenburg-Vorpommern) unter dem Namen „Opalgrün“, hinter der sich mutmaßlich die Verstrickung der Organisierten Kriminalität in den Anschlag verbirgt? Oder handelt es sich um anhaltende Ermittlungen zur Tatwaffe Erma? Sie soll, was bisher aber weder bestätigt noch verneint wurde, in gesäubertem Zustand vorliegen. Das hieße, dass an der Pistole Spuren verwischt wurden.

Die Waffe war aus Ermittlersicht von Anfang an ein brisantes und widersprüchliches Beweismittel. Amri hatte sie zwar in seinem Besitz, neben seiner DNA und der DNA des polnischen Speditionsfahrers fanden sich aber noch DNA-Spuren von zwei weiteren Personen. Eine ist bisher nicht identifiziert, die andere gehört Kamel A., dem Hauptmieter der Wohnung, in der Amri bis zum Anschlagstag gewohnt hatte.

Seltsamer Weise zählte Kamel A. trotzdem nie zu den Tatverdächtigen. Allerdings hat das BKA die Ermittlungsakte zu ihm frisiert. Im Januar 2017 war festgestellt worden, dass sich an der Tatpistole DNA von Kamel A. fand. Er muss daraufhin von den Ermittlern mit diesem Befund konfrontiert worden sein. Im selben Monat, Januar 2017, hielten die Ermittler Kamel A.s Mitbewohner Khaled Abdeldaim, der sich mit Amri das Zimmer teilte, vor, Kamel A. habe von der Waffe gewusst. Abdeldaim entgegnete, er habe aber nichts davon gewusst. In den vorliegenden Akten gibt es fünf Vernehmungen mit Kamel A. Die nominell fünfte und letzte wurde im Januar 2018 durchgeführt. Dabei wird er darüber informiert, dass seine DNA an der Pistole gefunden worden sei. Und Kamel A. erklärt, er habe die Waffe noch nie gesehen. Diese fünfte Vernehmung erscheint wie eine Konstruktion.

Tatsächlich wurde Kamel A. insgesamt sechs Mal vernommen. Das sagte jedenfalls der zuständige Ermittler des BKA im April 2021 im Untersuchungsausschuss von Nordrhein-Westfalen. Eine sechste Vernehmung gibt es in den Unterlagen aber nicht. Es müsste sich um die von Januar 2017 handeln, in der A. zum ersten Mal mit dem Fund seiner DNA an der Pistole konfrontiert wurde. Das aber würde bedeuten, dass das BKA jene Vernehmung aus den Akten genommen hat und ein Jahr später angesichts der installierten parlamentarischen Untersuchungsausschüsse eine neue Vernehmung konstruiert und in die Akten eingefügt hat.

Hängen die Schwierigkeiten der Bundesanwaltschaft, sich zu den Ergebnissen der Untersuchung von Amris Asservaten und der Tatpistole zu äußern, mit diesen Manipulationen zusammen?


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