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Pflücke den Tag!

Pflücke den Tag!

Vom besinnungslosen Amüsement zum bewussten Erleben des Augenblicks.

Carpe Diem! — vor 2.000 Jahren forderte der enthusiastische Ausruf des römischen Dichters Horaz dazu auf, die kurze Lebenszeit jetzt zu genießen und es nicht auf den nächsten Tag zu verschieben. Der Appell ist im Laufe der Zeit zur Legitimation hemmungsloser Völlerei und sinnentleerten Zeitvertreibs verkommen. Nach mir die Sintflut.

Mit dieser Haltung bereiten wir unserer Zivilisation ihr Ende. Wir haben uns amüsiert, was das Zeug hält, und stehen heute vor der Auslöschung unserer eigenen Spezies. Noch versuchen wir, uns von dieser Tatsache abzulenken und fliegen eifrig dorthin, wo die Welt noch einigermaßen in Ordnung scheint. Mit aller Macht pressen wir die Augen zusammen, klammern uns an das alte Lebensmodell und wollen nicht wahrhaben, was schulschwänzende Kinder längst erkannt haben: Der Kaiser ist nackt.

Das System ist kaputt. Alle Institutionen, die es tragen, sind von der Gier nach Macht und schnellem Gewinn unterwandert. Doch wir wollen es nicht sehen und belächeln diejenigen, die uns versuchen zu warnen, als Verschwörungstheoretiker. Dabei geht es uns nicht gut. Fröhlich lachende Gesichter und unbeschwerte Menschen gibt es so gut wie nur noch in den Werbekampagnen multinationaler Unternehmen, die uns zum Kauf der Produkte und Dienstleistungen drängen, die das Leben auf unserem Planeten weiter zerstören.

Unterbrochene Verbindungen

Um das zu überspielen, suchen wir Ablenkung im schnellen Vergnügen: ein Besuch im Kino, im Restaurant, im Einkaufszentrum, im Freizeitressort, im Ferienparadies, in virtuellen Welten. Doch das erkaufte Plaisir hält nicht lange vor und wir brauchen schnellen Nachschub. Es ist, als wären wir auf der Flucht, ständig bemüht, bloß nicht da zu sein, wo wir gerade sind. Wir träumen uns aus unserer Realität heraus woanders hin und merken dabei nicht, welcher Schaden um uns herum entsteht.

Wir sind nicht wirklich da und haben die Verbindung verloren: zum Augenblick, zu unserer Umgebung, zur Natur, zu dem, was uns nährt, zu unseren Mitmenschen, vor allem aber zu uns selbst, zu unseren Körpern und den Fähigkeiten, die in uns stecken. In blindem Technik- und Fortschrittsglauben haben wir die Macht über uns an Maschinen weitergegeben. Und damit tun wir schließlich das Gegenteil von dem, was Carpe Diem eigentlich bedeutet: Hier sein, in diesem Moment präsent sein, das Präsent, das Geschenk, annehmen.

Es ist nicht zu spät

Pflücke den Tag heißt nicht, ihn auszureißen, zu zertrampeln und keinen weiteren mehr folgen zu lassen, sondern ihn bewusst zu erleben, so als ginge man über eine blühende Wiese, atmete ihren Duft und streichelte mit den Fingern über die Blüten und Gräser. Es ist ein Appell, unsere Antennen auszufahren und unsere Sinne für das zu öffnen, was uns umgibt, Sensibilität für die Schönheit um uns herum zu entwickeln. Es gibt sie noch! Noch hören wir Insekten summen und Vögel zwitschern. Noch gibt es weichen Waldboden unter unseren Füßen, frische Luft und sprudelndes Wasser, und wenn wir den Kopf heben, dann sehen wir durch die Schlieren hindurch noch den blauen Himmel.

Noch können wir uns an einen Baum lehnen und seine erdende Kraft spüren. Noch können wir in Freiheit lebende Tiere beobachten. Noch gibt es patentfreie Samen und natürliches, unverändertes Obst und Gemüse. Noch können wir uns vielfältig informieren und unsere Meinung frei äußern. Es ist noch nicht zu spät! Noch haben wir die Wahl, so zu denken und zu handeln, wie wir es für richtig halten. Solange wir noch unseren freien Willen haben, solange unsere Sinne noch funktionieren, solange gibt es die Möglichkeit, die Dinge in eine andere Richtung zu lenken.

Die Macht des Einzelnen

Treten wir aus dem Nebel der Gleichgültigkeit heraus. Tun wir nicht mehr so, als ginge uns das, was geschieht, nichts an. Lassen wir uns davon berühren und zeigen uns betroffen! So schreit es in mir. Gleichzeitig pfeift mich eine Stimme zurück: Was willst du schon ausrichten? Was kann ein einzelner Mensch angesichts des Ausmaßes der Katastrophe denn tun?

Das hat sich sicherlich auch Greta Thunberg gefragt, bevor es ihr hunderttausende Schüler gleichtaten und für eine effektive Klimapolitik die Schule schwänzten. Und auch die Handvoll Menschen, die in Frankreich die Bewegung der Gilets Jaunes ins Leben riefen, haben sich wahrscheinlich nicht vorgestellt, dass sie innerhalb von ein paar Wochen Nachahmer in der ganzen Welt finden würden.

Der ewige Augenblick

Also bleibe ich bei meinem Appell. Wer weiß, vielleicht lässt sich ja jemand berühren. Vielleicht hat ja jemand Lust, jetzt den Kopf von seinem Bildschirm zu erheben und mit dem zu reden, der mit ihm im Raum sitzt. Vielleicht fühlt sich jemand inspiriert, aufzustehen, nach draußen zu gehen und sich an den nächsten Baum zu lehnen. Vielleicht hat jemand den Mut, einmal innezuhalten und in sich hineinzufühlen. Und vielleicht merkt ja jemand, dass es in seinem Leben nur einen einzigen Augenblick gibt: diesen hier.

Vergangenheit und Zukunft gibt es nur in unserer Vorstellung. Das einzige, was wirklich ist, ist die Gegenwart. Nur wenn wir uns mit ihr verbinden und ganz hier sind, können wir die Dinge bewusst wahrnehmen. In dieser Folge unendlich vieler Jetzt! zählt nur ein einziger Tag: der heutige. Leben wir ihn, als sei es gleichzeitig unser erster und unser letzter. Gehen wir hinaus in die Natur und bewundern ihre Perfektion und Schönheit, sagen wir denen, die uns nahestehen, dass wir sie lieben, und genießen wir bis in die letzte Zelle unseres Körpers hinein das Geschenk, das uns gemacht wurde. Carpe Diem!


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