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Psychogramm moderner Autisten

Psychogramm moderner Autisten

Das in Deutschland traditionell zu Silvester ausgestrahlte „Dinner for One“ nahm die gesellschaftliche Entwicklung hin zu einer vereinsamten, atomisierten Gesellschaft vorweg.

Lange bevor blutleere virtuelle Realitäten begannen, unser unberechenbares analoges Leben zu verdrängen, entstand mit „Dinner for One“ der Prototyp eines schönen Scheins im Angesicht sozialer Isolation. Freddie Frinton alias Butler James hatte den Nerv einer kommenden Zeit getroffen, die er nicht mehr erlebte. Frinton verstarb 1968, noch bevor eine Aufzeichnung in Farbe realisiert werden konnte.

Nicht nur der deutsche Michel und seine Michaela lieben es. Das Dinner ist die weltweit am häufigsten wiederholte Fernsehsendung überhaupt. Trotz Beibehaltung der Originalsprache ist das Stück allerdings so gar nicht „Very British“. Im Vereinigten Königreich erfolgte bis 2018 keine Ausstrahlung.

Bis zum 9. Dezember 1961 war das Dinner hierzulande unbekannt. In einer Show des NDR flimmerte die Inszenierung in einem Unterhaltungspotpourri über die Bildschirme.

Erst mit dem 31. Dezember 1972 begann das Dinner zum Ritual des Jahresendes in Deutschland zu werden. In der Optik einer längst untergangenen großbürgerlichen Welt bildete es eine Bastion der Identität scheinbar gegen jeden Trend. Nicht einmal eine nachträgliche Kolorierung fand Akzeptanz. In mehreren Ländern kam es deswegen sogar zu öffentlichen Protesten.

Das Dinner muss also mehr sein als eine Abfolge repetitiver Running Gags. Das Dinner wirft sein Lot tief hinunter in das Unterbewusstsein moderner Menschen. Heute sind viele einsam und allein. Nicht erst im hohen Alter, wenn die Freunde verstorben sind. Es gab schließlich nie welche. Dating-Apps täuschen ein Sozialleben vor, das nicht stattfindet. Im Alter werden keine nebelhaften Gestalten aus der Vergangenheit trösten oder wenigstens in Erinnerung rufen, dass man gelebt hat.

Die heutige Einsamkeit wird verlärmt von Likes und Dislikes unzähliger Facebook-„Freunde“. Und nicht einmal die Anwesenheit eines schrulligen Dienstboten heitert das Alleinsein auf.

Die Kommunikationspartner existieren wie beim Dinner nur noch als Profile ohne Eigenleben. Push-Nachrichten strukturieren den Tag und vielleicht auch die Nacht. Die Jubilarin und Gastgeberin des Festessens ist zufrieden und vermisst niemanden. Die Re-Uptakes der Profile aller vier Gäste reichen aus. Was diese Klischees nicht bieten, brauchen wir nicht.

Wer tatsächlich Hilfe bei einem Wohnungswechsel oder Krankheit benötigt, findet selten eine ausgestreckte Hand. Die „Dienstleistungsgesellschaft“ bietet allenfalls noch „Dienste“ an, die man nicht benötigt, und nur gegen teuer Geld. Untertanen wollen keinem Mitmenschen mehr dienen. Untertanen benötigen den erbärmlichen Rest, den ihnen die digitalen Auszehrungen und Verpflichtungen noch belassen haben, für sich selbst.

Es kann keine Überraschungen mehr geben. Auch der zunehmende Kontrollverlust des Dieners bringt die Lebendigkeit des Lebens nicht zurück; denn diese eskaliert in vorgezeichneten Bahnen.

Es ist immer „the same procedure“. Das Leben ist wie zu Eis erstarrt und berechenbar auf Jahre hinaus. Die kalte Welt unserer Zeit, in der immer mehr zur hohlen Phrase wird, schimmert immer deutlicher durch. Je mehr die Leere spürbar wird, desto lauter muss gelacht werden.

Bevor die Leere und damit das Entsetzen hereinbricht, erklärt die Gastgeberin ihren Rückzug. Nicht nur dem inzwischen volltrunkenen Diener bleibt der körperliche Zusammenbruch erspart. Die Voyeure des Geschehens können noch einen Notausgang nehmen, wenn der Diener die Jubilarin ins Schlafzimmer geleitet. Die letzte Lachsalve verhüllt den Blick in den Abgrund der Einsamkeit moderner Menschen.

Das Dinner hat seine Berechtigung, und es ist köstlich arrangiert. Aber kann eine 100 Jahre alte Groteske noch immer das Nonplusultra unserer Zeit sein? Der derzeit laufende Anschlag auf unsere freiheitlichen Gesellschaften sollte eine eigene und weniger altersschwache Antwort zum Jahresausklang hervorbringen.

Wie wäre es mit einer Überraschungsgesellschaft, die sich ganz zufällig zusammenfindet und vor Esprit nur so sprüht? Einem „Dinner for Survivors“, das das pralle Leben mit allen seinen Untiefen auf die Bühne bringt?

Gerne auch mit einer Alkoholeskalation, die so manches Unsichtbare freilegt. Also los! Wo sind die Dramatiker und Dramaturgen?


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