„Was, wenn wir eine Gesellschaft nicht mehr ertragen? Was, wenn uns nichts mehr hält in dem, was wir einst ‚Zuhause‘ nannten?“ So fragte der damals schon schwer an Krebs erkrankte Philosoph und Video-Blogger Gunnar Kaiser, gestorben im Oktober 2023. Und er begründete auch gut, warum er diese Gesellschaft nicht mehr ertragen konnte:
„Weil ein repressives Klima um sich greift, von dem klar ist, dass es nicht verschwinden wird. Selbst wenn jetzt umfassende Lockerungen kämen, wird es nicht verschwinden. Weil es eben ein Teil unserer Realität, unseres Alltags bereits geworden ist. Was, wenn viele, die derzeit diese Maßnahmen befürworten, die wir einst unsere Freunde nannten, dabei mitmachen, uns ausgrenzen und diffamieren, wenn sie uns nicht mehr verstehen? Genauso wenig wie wir sie.“
Gegen Ende seines Lebens lenkte Kaiser, der sonst meistens streng „bei der Sache“ geblieben war, die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer verstärkt auf seine eigene Befindlichkeit. Plötzlich ging es in seinen Videos darum, wie sehr ihn die brutalen Angriffe der Staatsmacht auf unsere Freiheit, das Schweigen der Intellektuellen angesichts des Unrechts und auch die vielen Anfeindungen, denen er ausgesetzt war, „angefasst“ hatten. Er sprach über seine Sinnkrise, über die Seele des Aktivisten und sogar darüber, wie weit diese Seele auf Unsterblichkeit hoffen durfte. Diesen inhaltlichen Schwenk ihres Helden nahmen ihm viele Stammzuschauer damals übel. Ich meine aber: Die Verlagerung des Fokus auf das menschliche Innenleben war aufrichtig, sie war mutig und sie war auch relevant. Wir sind ohnehin Menschen — versuchen wir diese Tatsache zu verschleiern, riskieren wir, unehrlich zu werden.
Außen und innen
Politik und Seele sind keine streng voneinander getrennten Angelegenheiten. Sie stehen in vielfacher Wechselwirkung miteinander. Und dies gilt nicht nur für die Akteure der „hohen Politik“ selbst, sondern für uns alle. Als Menschen sind wir individuelle und zugleich gemeinschaftliche Wesen, repräsentieren die Schnittmenge zwischen der inneren und der äußeren Welt.
Politische Entwicklungen wirken auf unsere Stimmungen ein — diese wiederum haben Einfluss darauf, durch welchen Filter wir die Welt wahrnehmen, in welcher Weise wir politisch aktiv oder inaktiv sind. Auch unsere biografische Vergangenheit bestimmt mit darüber, welche politischen Einstellungen wir entwickeln — ebenso auch die Seelengeschichte des Kollektivs, zu dem wir gehören, als Deutsche oder Europäer.
Nicht wenige haben eine Art Hassliebe auf politische Nachrichten entwickelt. Sie fühlen sich von diesen gequält und können doch nicht von ihnen lassen.
Kennen Sie das Gefühl, sich über Stunden in Nachrichten und Kommentare zum aktuellen Geschehen vertieft zu haben, sich danach ausgelaugt und missgelaunt zu fühlen, jedoch in keiner Weise klüger und erst recht nicht dazu in der Lage zu sein, etwas zur Verbesserung der allgemeinen Situation beizutragen? Kennen Sie den Impuls, „morgen bestimmt“ damit aufzuhören und dann doch wieder, wenn das Notebook an ist, in die alte Gewohnheiten zurückzufallen?
Massaker zum Frühstück
Wir konsumieren scheinbar gleichmütig den blanken Horror zum Frühstück. Nur die eine Nachricht noch über die neueste Messerattacke in Deutschland und den Kommentar, der als Konsequenz eine Schließung der Grenzen fordert. Die Reportage über eine Ärztin, die in Gaza ihren Dienst tut und über die täglich notwendigen Amputationen von Gliedmaßen ihrer Patienten berichtet. Die Analyse eines Satzes im Koalitionsvertrag, der verstärkten Kampf gegen „Desinformation“ androht, und die Angst, die dabei unwillkürlich in einem aufsteigt, dass man davon selbst betroffen sein könnte. Die Ankündigung einer Erhöhung der Krankenkassenbeiträge. Ein Interviewbeitrag des neuen Außenministers, der betont, dass Russland für immer Feindesland bleiben wird. Gleichzeitig Bilder aus Kiew, das gerade bombardiert wird. Ein empörendes Unrechtsurteil. Die an Wahnsinn grenzende Äußerung einer Person, die Macht über uns hat. Ein Massaker. Ein grauenerregendes Lied beim Eurovision Song Contest. Die Schließung einer Firmenfiliale, die 6.000 Menschen arbeitslos macht. Und wieder ein Massaker …
Keine dieser Nachrichten hat dazu beigetragen, dass wir als Leser oder Zuschauer das Verhängnis abwenden konnten. Und dennoch: Würden wir damit aufhören, uns das täglich reinzuziehen, hätten wir Skrupel.
Vielleicht könnten wir dann im Betrieb nicht mit den gut informierten Kollegen mitdiskutieren. Vielleicht würden wir als Uninformierte die Frist für den Download eines unabdingbaren Updates versäumen. Vielleicht wären wir sogar mitschuldig an dem, was in Gaza oder in der Ukraine geschieht — aufgrund unserer Weigerung, etwas dagegen zu tun. Denn wer dem Unrecht tatenlos zusieht: Ist der nicht ebenso schuldig wie der, der es begeht? Sind wir nicht alle aufgrund unserer Untätigkeit kleine Netanjahus?
Weltuntergänge mit Unterhaltungswert
Es gibt sogar einen Namen für die ungesunde Fixierung auf schlechte Nachrichten: „Doomscrolling“. Ungefähre Bedeutung dieses Wortes: den Computer oder das Smartphone nach Zeichen des nahenden Untergangs durchsuchen. Bekannt wurde der Begriff vor allem in den Coronajahren, als Tausende von Menschen manisch die jeweils aktuellen Inzidenzwerte studierten — in der nachvollziehbaren Absicht, sich bestmöglich zu schützen. Eine Ratgeberseite der AOK schreibt dazu:
„Es gehört zur menschlichen Natur, unkontrollierbare Situationen wie eine Pandemie verstehen und erträglicher machen zu wollen. Menschen versuchen, Informationslücken zu schließen, um negative Gefühle wie Angst und Furcht zu überwinden. Doch auf der Suche nach neuen und bestenfalls auch positiven Informationen scrollen und surfen sie die Nachrichtenfeeds immer weiter oder immer häufiger durch. Dabei treffen sie jedoch auf zahlreiche pessimistische und negative Schlagzeilen und Informationen, was die negativen Gefühle wiederum verstärken kann.“
Die normalerweise eher politisch linientreue Sendereihe „Browser Ballett“ hat hierzu eine witzige Fake-Doku gedreht. Das britische Fachmagazin Plos One befragte 800 Teilnehmern mit dem Ziel, den Einfluss der Politik auf ihre seelische Befindlichkeit festzustellen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete im noch vergleichsweise idyllischen Jahr 2019 darüber. So wurden Testpersonen unter anderem gefragt: „Hatten Sie schon einmal Schlafstörungen wegen der Politik?“ Das Ergebnis:
„Vierzig Prozent der Teilnehmer sind gestresst, wenn sie an Politik denken; jeder Fünfte fühlt sich matt, depressiv und liegt in manchen Nächten wach, weil ihn Sorgen um die Politik beschäftigen. Bei bis zu dreißig Prozent löst sie Frustration, Wut, Hass und Schuldgefühle aus. Vier Prozent geben sogar an, deshalb schon einmal an Suizid gedacht zu haben.“
Süchtig nach Stimmungskillern
Auch eine Selbsthilfegruppe „Anonyme Internet- und Technologiessüchtige“ gibt es — pikanterweise im Internet. Ein Spezialgebiet hierbei ist „News Addiction“: Nachrichten-Sucht. Interessierte können auf der Webseite einen Selbsttext absolvieren, unter anderem mit diesen Fragen:
- Kommt es vor, dass ich schnell die neuesten Nachrichten checke und dann feststelle, dass schon Stunden vergangen sind?
- Habe ich mir jemals vorgenommen, keine Nachrichten mehr zu lesen, oder habe ich mir Grenzen gesetzt, um dann meine Verpflichtungen zu brechen?
- Habe ich den ganzen Tag oder bis spät in die Nacht Nachrichtenexzesse?
- Führt meine Nachrichtennutzung dazu, dass ich meine persönliche Hygiene, meine Ernährungsbedürfnisse oder meine körperliche Gesundheit vernachlässige?
- Fühle ich mich isoliert, emotional abwesend, abgelenkt oder ängstlich, wenn ich nicht über die neuesten Nachrichten informiert bin?
Die Gründe für eine gewisse Fixierung auf das Negative sind naheliegend: Unbewusst reagieren wir auf schlechte Nachrichten mit Priorität.
Wenn wir beim Spaziergang durch den Wald auf der linken Seite einen Himbeerstrauch sehen und sich gleichzeitig rechts ein Bär nähert, werden wir zuerst auf den Bären reagieren, um überhaupt zu überleben, anstatt die Beeren zu pflücken.
Fatalerweise tritt dieser psychologische Mechanismus unabhängig davon auf, ob die Gefahr real ist. Entscheidend ist, dass eine Situation gefährlich werden könnte, was uns dazu motiviert, vorsichtshalber genau informiert zu sein, bevor uns das Unheil unvorbereitet überrollt.
Angstmache bringt Klickzahlen
Die Macher von politischen Videos nutzen diese Prägung der Menschen schamlos aus und versuchen schon in Überschriften, ein unklares Bedrohungsszenario heraufzubeschwören: „Wenn die Regierung ihre Pläne umsetzt, droht uns DAS …“ Die Fixierung auf das Furchteinflößende üben wir auch beim Konsum von Spielfilmen ein. Nicht alle von uns, aber viele klicken am ehesten auf solche Unterhaltungsangebote, die „spannend“ zu sein versprechen. Dabei ist unser aller Sehnsucht nach Entspannung mit Händen zu greifen. Manche Filme werben schon im Trailer mit einem „beklemmenden Albtraum, aus dem es kein Entkommen gibt“, oder titeln reißerisch „Verhängnisvolles Grauen“.
Die meisten von uns belasten ihre Seelen dabei weit über das für ihre Gesundheit Zuträgliche hinaus. Während man sich nervenzerrenden Thriller eventuell noch sparen kann, starrt man unwillkürlich auf die Schreckensnachricht, die Bundesregierung wolle schon bald alle jungen Männer und Frauen in den Militärdienst zwingen, sollten sich nicht genügend „Freiwillige“ finden. Es ist klar, dass dies vor allem Mütter und Väter aufwühlt — viele sehen ihre geliebten Kinder schon im Geist für „unsere Demokratie“ auf den Schlachtfeldern von Donezk verbluten. Durch Politik ausgelöste Gefahren sind nicht unbedingt so schlimm wie ein billig gemachter Film über die „Zombie-Apokalypse“, jedoch gehen sie uns viel näher, da sie unsere reale Welt bedrohen.
Der Masochismus des Nachrichtenkonsumenten
Tatsächlich können wir aber auch nicht jede Gefahr durch Wegschauen und „positives Denken“ bannen. Selbst an einem wunderschönen Frühlingstag wird der Anblick eines vom Ansturm der Hummeln brummenden, rosa-weiß blühenden Apfelbaums mitunter durch Erinnerungen an den verkniffenen Gesichtsausdruck eines Alexander Dobrindt oder Lars Klingbeil überlagert, sodass wir uns in der Folge geradezu auf das „Verhängnisvolle Grauen“ auf dem Fernsehschirm freuen — denn dieses ist wenigstens nicht real.
Politische Nachrichten enthalten — selbst, wenn dies nicht explizit geschieht — oft überaus beunruhigende Botschaften für uns. „Du könntest in den nächsten Jahren sterben, weil eine ausländische Macht entscheidet, eine tödliche Massenvernichtungswaffe auf deinen Heimatort zu werfen, provoziert vielleicht durch deine eigene Regierung.“ — „Die wirtschaftliche Lage wird sich unweigerlich verschlechtern, sodass dir nach und nach fast alles genommen wird, was dein Leben bisher ausgemacht hast.“ — „Du wirst von der technischen Entwicklung abgehängt und für den Arbeitsmarkt unbrauchbar werden; jede Notwendigkeit für deine Existenz wird somit Schritt für Schritt entfallen.“ — „Du bist ein Umweltschädling, eine Art Parasit. Ohne dich wäre die Erde besser dran.“ Diese Suggestionen werden von Machthabern und Medien auch bewusst verbreitet, um Menschen zu manipulieren.
Engagiert bis zur Erschöpfung
Die Burnout-Gefahr für politisch Aktive ist ein Thema, das mittlerweile auch von der Mainstreampresse aufgegriffen wird. So berichtete der Deutschlandfunk unter anderem von der Umwelt-Aktivistin Mona Bricke, die „eines Tages ihren Laptop aufklappte, aber keine Inhalte mehr aufnehmen konnte“. Bricke sagte wörtlich: „Es war so eine Art Bildschirm-Blindheit. Mein Körper, meine Psyche hat mir da die notwendige Grenze gesetzt.“ Im selben Bericht erklärt die Psychotherapeutin Katharina Simons mit Blick auf Politiker und Aktivisten:
„Da war manche Handlungsmotivation stärker als die selbstfürsorgliche. Und da wurde dann systematisch oder chronisch immer wieder über Grenzen hinweggegangen.“
Bei Oppositionellen, zu denen man in der Regel auch die Autoren und Leser von Manova rechnen kann, kommt hinzu, dass sie sich andauernd gegen heftigen Gegenwind fortbewegen müssen, Anfeindungen und Diffamierungen ausgesetzt sind und mit einem Gefühl der Vergeblichkeit ihres Tuns zu kämpfen haben. Denn nicht selten zeigen sich Vertreter der Mehrheitsmeinung jenen Argumenten gegenüber unzugänglich, die der Oppositionelle für vernünftig und menschlich hält. Verfängt die politische „Mission“ der Aktiven nicht wie gewünscht, so versuchen, sie ihre Anstrengungen im Meinungskampf mitunter zu verdoppeln — eine gefährliche Dynamik, die in die totale Erschöpfung führen kann.
Das Opfer des Lebensglücks
Denn die Politik ist erbarmungslos und nimmt keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen, der sich ihr verschreibt.
Die Ziele, denen ein „Weltverbesserer“ nachstrebt, sind so groß, dass daran gemessen Rücksicht auf sein eigenes Wohlbefinden irrelevant erscheint. Oft kreiert der Aktivist für sich selbst sogar einen Opfermythos.
Angesichts des Elends auf der Welt gesteht er sich nicht zu, dass es ihm gut geht. Gute Laune erschiene ihm sogar als Verhöhnung der Opfer falscher Politik, weshalb ein missmutiger Gesichtsausdruck nicht selten zu den Erkennungsmerkmalen der politisch Aktiven zählt. Das Opfer des eigenen Lebensglücks erscheint nicht nur als Ausdruck der Solidarität mit den Leidenden in aller Welt — von vielen wird es sogar als eine Art gerechte Buße erlebt. Speziell von Deutschen, die damit eine gefühlte Kollektivschuld aufzuarbeiten meinen, aber auch allgemein als Sühneleistung für die Zugehörigkeit zur Täterspezies Mensch, die ihr Recht auf Glück vermeintlich durch exzessiven CO2-Ausstoß verwirkt hat.
Besonders wer sich der politischen Opposition zurechnet, nimmt gern eine „selbstverbergende“ Haltung ein, wie sie der Psychotherapeut Friedemann Schulz von Thun charakterisiert hat: „Was ich empfinde, tut nichts zur Sache — außerdem empfinde ich nichts.“ „Die Sache“ verschlingt gleichsam den Menschen, der sich ihr verschrieben hat. Das beste Beispiel dafür ist wohl die ehemalige Grünen-Politikerin Petra Kelly (1947 bis 1992), die sich so unermüdlich ihren politischen Pflichten widmete, dass sie am Ende nur noch wie ein Gespenst durchs Leben zu wanken schien — mit schwarzen Augenringen und allen Anzeichen einer schweren Erschöpfung. Von ihrer unglücklichen Beziehungsdynamik mit Gerd Bastian ganz abgesehen.
Kaputte Politiker, kaputte Oppositionelle
Mit Blick auf den Rückzug des ehemaligen SPD-Spitzenpolitikers Kevin Kühnert listeten manche Medien sogar Fälle von Politikern auf, denen der Politikbetrieb gesundheitlich und psychisch zusetzt hatte. Matthias Platzeck, ehemaliger Ministerpräsident von Brandenburg, und Peter Tauber, für fünf Jahre Generalsekretär der CDU, gehörten zu den prominenten Personen, die vor der Zeit freiwillig aus dem Amt schieden. Ebenso wie vorübergehend Sahra Wagenknecht, der der Rummel um die von ihr gegründete Bewegung „Aufstehen“ 2019 zu viel wurde und die ihren Burnout offen zugab.
Der Journalist Boris Reitschuster, bekannt auch durch seine Corona-skeptischen Videobeiträge, gab an, beinahe an einer Blinddarmentzündung gestorben zu sein, was er zum großen Teil auf die Verfolgung und die öffentlichen Anfeindungen zurückführte, denen er vonseiten der „Etablierten“ ausgesetzt gewesen war. Der Video-Blogger Gunnar Kaiser nannte als mögliche psychosomatische Ursache für seine Krebserkrankung die Enttäuschung, mit seinen fleißig gesammelten und rhetorisch brillant vorgetragenen Argumenten gegen das Corona-Unrecht kaum durchgedrungen zu sein. Auch wenn niemand per Ferndiagnose eindeutige Aussagen über die psychosomatische Entstehungsgeschichte von Kaisers Krankheit treffen kann — eindeutig verschlechterte sich sein seelischer Zustand als Folge der Angriffe des politischen Gegners auf Freiheit und Demokratie und des empfundenen Scheiterns aller Anstrengungen, sich dem entgegenzustellen. Legt man Kaisers Schicksal zugrunde, bestünde das Geheimnis einer stabilen Gesundheit für politisch Oppositionelle also auch im Herunterschrauben von zu hoch gegriffenen Erwartungen bezüglich der Effekte der eigenen politischen Aufklärungsarbeit.
Aufreibende Kämpfe mit Andersgläubigen
Neben der Tendenz, unseren Geist mit schlechten Nachrichten zu überladen, gibt es auch ein Phänomen, das als „Diktatur-Depression“ beschrieben werden kann. Gemeint ist eine Mischung aus Wut und einem Gefühl der Hilflosigkeit, von der sich manche geradezu innerlich auseinandergerissen fühlen. Natürlich handelt es sich — noch — überwiegend um eine milde Form der Depression, weil auch die Diktatur noch keine vollständig ausgereifte ist. Schwerer noch als an den Angriffen von Machthabern auf unsere Rechte, unseren Wohlstand und unser Sicherheitsgefühl tragen viele an der mangelnden Unterstützung durch ihre Leidensgenossen.
Konflikte mit politisch Andersgläubigen sind in den letzten Jahren zu einer ernsten Bedrohung für das allgemeine Wohlbefinden geworden. Freundes- und Familienkreis haben aufgehört, Komfortzonen zu sein. Mitmenschen „markieren“ den Raum einer Zusammenkunft oft schon frühzeitig durch eindringlich vorgebrachte Bekenntnisse zu staatstreuen Narrativen als ihr Revier. Sie üben dadurch bewusst oder unbewusst eine einschüchternde Wirkung auf andere Anwesende aus. „Wer hier nicht zustimmt, hat den demokratischen Konsens verlassen und bekommt es mit mir zu tun.“
Als Andersdenkender hat man dann die Wahl, zu schweigen, und sich dabei feige vorzukommen, oder sich einem zermürbenden, meist ergebnislosen Streit zu stellen. Auch von politischen Weggefährten werden wir andauernd dazu aufgefordert, „wachsam“ zu sein, vor der Infamie keinen Millimeter zurückzuweichen und in aufreibenden Kämpfen mit ihnen möglichst noch geistige Geländegewinne zu erzielen.
Politikfreie Räume werden überall knapp — selbst im eigenen Kopf. Sehr oft sind Verhaltensweisen, die politisch notwendig erscheinen, völlig unvereinbar mit psychischem Wohlbefinden.
„Willst du glücklich sein? Oder die Welt verbessern? Beides zusammen geht nicht.“ So lautet die frustrierende Alternative.
Was uns wirklich antreibt
Der Anspruch, in weltanschaulichen Fragen objektiv zu sein, ist jedenfalls unmöglich einzulösen. Es ist besser, ihn von vornherein fallen zu lassen. Wir haben es immer mit „Subjekten“ zu tun, also mit Menschen, deren Gefühlsstimmung und biografische Prägung die Wahrnehmung der politischen Ereignisse unweigerlich einfärbt. Entscheidend dafür, welche Haltung man in aktuellen weltanschaulichen Debatten einnimmt, ist nicht „die Wahrheit“. Viel wichtiger sind Grundbedürfnisse, die unterhalb der politischen Sachebene liegen.
- Das Bedürfnis, gemocht und akzeptiert werden, Teil der überlebenswichtigen menschlichen Gemeinschaft zu bleiben, der man bis jetzt angehört hat. Deshalb neigt sich die Mehrheit fast immer der Macht zu, um die sich Schutz suchende und Bestrafung fürchtende Menschen in der Regel sammeln.
- Das Bedürfnis, mit dem, was man bisher gedacht hat, Recht zu behalten und die schmerzliche Erkenntnis, sich geirrt zu haben, zu vermeiden. Daher findet man zum Beispiel bei denen, die sich in der Coronafrage geirrt haben, nur wenig Einsicht.
- Das Bedürfnis, etwas zu bewirken, sich als „Held“ zu fühlen, die Diktatur verhindert oder gar die Welt gerettet zu haben. Diese Motivation findet sich sowohl bei Mitläufern des „Kampfes gegen rechts“ im Mainstream als auch bei Oppositionellen, die den Abbau von Freiheitsrechten beklagen.
- Das Bedürfnis, sich von der Masse abzuheben und einen Unterschied zu machen, also das Gegenteil von Konformismus — eine Haltung, die man eher unter politischen „Dissidenten“ findet.
- Das Bedürfnis, sich eigener Schuld nicht stellen zu müssen und sie auf andere projizieren zu können. Insgesamt: sich anderen überlegen fühlen zu können.
Sind wir „selbst schuld“?
Die Analyse solcher unterschwelligen Motive, aus denen sich eine Art „Psychologie der Weltanschauungen“ (Karl Jaspers) entwickeln ließe, hilft uns einerseits, vielleicht gnädiger mit Andersdenkenden umzugehen — „denn sie wissen nicht, was sie tun“ —, andererseits kann sie uns dahin führen, den eigenen politischen Rechtgläubigkeitsanspruch stärker zu hinterfragen. Fragen, die wir uns zur Selbsterforschung stellen können sind unter anderem:
- Wo haben wir vielleicht selbst Anteil an politischen Fehlentwicklungen — sei es durch aktive Mitwirkung oder durch Duldung?
- Was haben unsere schlimmsten politischen Gegner womöglich mit uns gemeinsam? Regen wir uns vielleicht gerade deshalb so über sie auf, weil wir in ihnen unseren eigenen Schatten wiedererkennen?
- Welche Folgen hatten unsere bisherigen Wahlentscheidungen und das Mitlaufen bei bestimmten politischen Bewegungen? Können wir daran gemessen Unfehlbarkeit für uns beanspruchen? Mit welchem Recht gehen wir davon aus, dass unsere künftigen Wahlentscheidungen — oder auch die Entscheidung, gar nicht zu wählen — zu besseren Ergebnissen führen werden?
- Wie vermeiden wir es, so ähnlich zu werden wie unsere Gegner — nur mit umgekehrten politischen Vorzeichen? „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge“ (Bertolt Brecht).
- Welchen psychischen „Gewinn“ ziehen wir daraus, dass wir andere wegen deren falscher politischer Gedanken und Taten anklagen?
- Wären wir selbst in einer Machtposition vor den Versuchungen des Machtmissbrauchs gefeit?
- Ist unsere Position als sich beklagende Ohnmächtige nicht auch bequem, weil sie uns von Verantwortung befreit und zugleich ermöglicht, uns den „Tätern“ überlegen zu fühlen?
- Können aus der Grundannahme, dass Probleme immer nur von außen auf uns zukommen und dass wir diesen „zum Opfer fallen“, heilsame Handlungen erwachsen?
Macht macht kaputt
Natürlich kann man es mit der Selbstkritik auch übertreiben. Die Tatsache, dass es biografisch-psychodynamische Gründe dafür geben mag, warum wir uns für eine bestimmte Weltanschauung entschieden haben, entschuldigt nicht die verbrecherischen Taten mancher Politiker. Seelen im politischen Kontext sind immer auch regierte Seelen. Bestimmte psychische Muster, die in der Bevölkerung grassieren, werden von Mächtigen bewusst erzeugt oder zumindest billigend in Kauf genommen. Dazu gehört in erster Linie die Resignation. Wir lernen schon früh, dass man „da nichts machen kann“. Impulse des Aufbegehrens und der Hoffnung auf Veränderung kollabieren binnen kurzer Zeit, weil all unsere Aktivitäten gegen eine Wand herrschaftlicher Ignoranz prallen.
Die Macht versucht in der Regel, uns in einem lauen, gleichbleibenden Gemütszustand zu halten, der unsere Arbeitsfähigkeit und somit auch optimale Ausbeutbarkeit garantiert.
Erwünscht ist die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, die bewirkt, dass wir uns gegen Misshandlungen durch staatliche Instanzen nie mit einer Vehemenz zur Wehr setzen, die für diese unbequem werden könnte.
Unser Seelenzustand ist immer auch durch die Macht geformt, als deren „Agenten“ Elternhäuser, Schulen, Universitäten und andere Anstalten der Sozialisation immer — oft ungewollt — tätig werden. Uns dies bewusst zu machen, kann der Beginn eines Prozesses der Befreiung von Zwängen sein. Ganz abschütteln werden wir sie in einer strukturell repressiven Gesellschaft nie können.
Im Reinen mit der eigenen Unzufriedenheit
Wir können unbewusste Einflüsse und kollektive Felder, die auf uns einwirken wie Magnetfelder auf Eisenspäne, nicht vollkommen ausschalten. Als Beispiel kann man hier transgenerationale Traumata nennen — ausgelöst etwa durch den Zweiten Weltkrieg, durch deutsche Kollektivschuld, Flucht und Vertreibung. Wir müssen lernen, mit ihnen zu leben, und können dabei versuchen, höhere Freiheitsgrade zu erreichen. Letztlich ist es besser, im Frieden damit sein, dass wir wohl immer und aus wechselnden Anlässen ein Stück weit unzufrieden bleiben werden.
Wo wir Möglichkeiten der Selbsthilfe haben, sollten wir sie aber auch nutzen. Das kann bedeuten, Nachrichtenpausen zu machen oder bei Bedarf bewusst positive Nachrichten beziehungsweise aufbauenden Input im Netz zu suchen. Das kann bedeuten, unterstützende Gemeinschaften aufzusuchen, für das Wohlergehen des Körpers zu sorgen oder unsere Ansprüche an Selbstwirksamkeit an die Realität anzupassen. Das Ziel eines endgültigen politischen Gleichgewichts — „Alles ist gut“ — müssen wir wohl aufgeben. Die Alternative wäre ein Zuständigkeits-Burn-out, der gerade uns Wohlmeinende notwendigerweise kaputtmacht. Hilfreich ist, einen höheren Sinn in allem — also auch in schmerzhaften Erfahrungen — erkennen zu können und das eigene Wirken im großen Kontext zu sehen.
Kranke Seelen können „das System“ nicht heilen
Eine gesunde Haltung, die die Fortsetzung des eigenen politischen Engagements nicht unbedingt vom Erfolg der bisherigen Bemühungen abhängig macht, würde ungefähr so aussehen: „Ich tue, was ich kann, erwarte aber nicht, dass die Masse mir folgt. Ich tue, weil ich es tun muss, freue mich über Erfolge im Kleinen und gehe im Übrigen davon aus, dass ich irgendwann diese Welt verlassen werden, ohne dass sie ernstlich an meinem Wesen genesen wäre.“ Es ist allerdings nicht leicht, angesichts der sich häufenden, brennenden Probleme und der akuten Gefahren als Folge falscher Politik so gelassen zu bleiben.
Sicher ist: Aus kranken Seelen können nur schwer politische Handlungen hervorgehen, die zur Gesundheit des Ganzen beitragen. Mit verbitterten Menschen ist es schwer, Zukunft zu gestalten.
Es empfiehlt sich gerade für politisch Aktive, ein Augenmerk darauf zu richten, wie es ihnen selbst geht. Man vergleiche das etwa mit Flugpassagieren, die dazu aufgefordert werden, zuerst sich selbst und dann erst ihren Kindern die Atemmaske aufzusetzen. Denn was hilft es den Kindern, wenn ihre Eltern ohnmächtig und handlungsunfähig sind? Dasselbe gilt für politisch Engagierte. Kaputt nützen wir der Menschheit nichts mehr. Angst ist kein guter Ratgeber und ebenso wenig Hass — selbst wenn es sich um begründeten Hass gegen Hassende handelt. Die Aufforderung muss also lauten: Sorgt zuerst für euch selbst, dann sorgt euch auf der Basis innerer Stärke und Ausgeglichenheit um diese Welt!

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