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Rückwärts galoppierende Aufklärung

Rückwärts galoppierende Aufklärung

An vielen Orten der Welt nehmen Hexenjagden zu — und das ist nicht nur im übertragenen Sinn gemeint.

Hauptteil – Flammende Dummheit in einer erleuchteten Welt

Willkommen auf dem globalen Marktplatz der Dummheit. Hier gibt es kein WLAN, aber jede Menge Lynchjustiz. Keine Bücher, aber jede Menge brennende Körper. Kein Rechtssystem, aber das moralische Sicherheitsgefühl der Dorfgemeinschaft. Und wer glaubt, wir sprechen hier nur von ein paar vergessenen Dörfern im Nirgendwo, der darf sich auf eine Weltkarte voller Irrsinn freuen. Wer braucht schon Mittelalter-Rollenspiele, wenn die Realität längst die besten Folterszenarien bietet?

Hexerei – das Comeback der Jahrtausende

Es beginnt immer gleich: Ein Kind stirbt. Die Ernte fällt aus. Der Onkel bekommt einen Hautausschlag. Und irgendjemand war „komisch“ die Tage zuvor. Zack — Hexerei! Eine Begründung, so beständig wie Schimmel auf Brot und dabei ähnlich gesund für die Gesellschaft. Die moderne Welt hat’s nicht so mit Ursachenforschung — wozu auch? Naturwissenschaft ist schließlich kolonialistisch, sagen manche. Und was heilt den Verdacht? Genau — die Hinrichtung.

Man könnte meinen, diese Art des Denkens sei ausgestorben. Aber da wären wir mal wieder zu europäisch in unserem Denken. Laut der Hilfsorganisation missio sterben heutzutage mehr Menschen wegen Hexerei-Vorwürfen als zu Zeiten der Inquisition. Gratulation, Weltgemeinschaft. Ihr habt den Fortschritt eingeholt, rückwärts.

In Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo, in Papua-Neuguinea, Indien oder Nigeria genügt oft ein einziger Vorwurf, und der Mob regelt das. Ohne Polizei. Ohne Anwalt. Ohne Zweifel. Dafür mit Steinen, Benzin und viel Überzeugung. Wer braucht schon einen Schuldspruch, wenn das Gewissen sagt: „Sie war’s!“?

Der Mob liebt die Bühne — auch digital

Die Hexenjagd hat die Fackeln gegen Selfiesticks getauscht. In sozialen Netzwerken verbreiten sich Gerüchte schneller als jedes Virus. Ein einzelner Post mit dem Satz „Sie kann zaubern“ genügt, und schon formiert sich ein Mob, der sich weniger um Beweise als um Bestätigung sorgt.

So geschehen in Indien, wo mehrere Frauen in den letzten Jahren öffentlich gelyncht wurden — weil Nachbarn über WhatsApp behaupteten, sie seien Hexen. Man fragt sich: Hat das Gerät, mit dem man Pizza bestellt, plötzlich die Funktion „Verdächtige verbrennen“?

Auch in Ghana oder Tansania führen Anschuldigungen nicht nur zu Angriffen, sondern zu struktureller Ausgrenzung: ganze „Hexencamps“ für Frauen, meist Witwen, die sich in Ghettos flüchten müssen, um nicht getötet zu werden. Diese Lager sind wie Altersheime — nur mit mehr Angst und weniger Pflege.

Warum immer Frauen?

Die Hexe ist weiblich. Punkt. In 99 Prozent der Fälle. Das ist kein Zufall. Es geht nie um Magie. Es geht um Macht. Hexerei-Vorwürfe sind eine soziale Methode, Frauen zu disziplinieren. Wer sich nicht unterwirft, wer sich nicht still ins Patriarchat einordnet, wer alt, arm, alleinstehend oder klug ist — läuft Gefahr, „hexisch“ zu wirken.

Was in Europa mit der Kirche begann, lebt in Afrika und Asien mit religiösem Eifer weiter. Aber auch säkulare Gesellschaften lieben die subtile Hexenjagd. Denn wenn sich die Dinge nicht mehr erklären lassen, erklären wir die Dinge eben durch Schuldige.

Fragen Sie sich mal selbst: Warum glauben so viele Menschen eher an Voodoo als an Statistik? Warum überzeugt ein heiliger Mann mehr als ein Arzt? Vielleicht, weil Religion Angst besser verpackt als Aufklärung. Oder weil Kontrolle über andere Menschen durch Angst einfach billiger ist als Bildung.

Der Westen? Wegschauen und weiter gendern.

Wir in Europa und Nordamerika haben gut lachen. Oder vielmehr: Wir diskutieren lieber über das Gendern von Hexe/X oder darüber, ob die Harry-Potter-Bücher umgeschrieben werden sollen. Währenddessen verbrennen reale Frauen auf realen Scheiterhaufen, und der Westen schaut betreten auf den Boden — oder aufs iPhone.

Warum? Ganz einfach: Weil es nicht ins Bild passt. Ein progressiver Blick auf die Welt erlaubt keine archaische Gewalt. Also schweigen wir lieber. NGOs berichten zwar, doch Regierungen schweigen. Es gibt kein internationales Tribunal für Hexenverfolgung. Kein UN-Tag gegen Lynchmorde im Namen der Magie. Kein ZDF-Dreiteiler über das Massaker an „verdächtigen“ Frauen in Nigeria. Warum auch? Zu wenig Klicks. Zu wenig Drama. Zu viel Realität.

Wer profitiert vom Aberglauben?

Aberglaube ist ein Geschäftsmodell. Schamanen, „Heiler“, Dorfälteste – sie alle profitieren davon, wenn jemand Angst hat. Die Diagnose „Hexerei“ wird in vielen Ländern bewusst gestellt. Gegen Bezahlung. Oder im Auftrag eines Rivalen. Eine Frau, die ein Erbe blockiert? Hexe. Eine Witwe mit Land? Hexe. Eine unabhängige Lehrerin mit eigenem Denken? Hexe. Und weil der Vorwurf mit Gewalt durchsetzbar ist, muss niemand diskutieren. Kein Gericht. Kein Gesetz.

Auch Kirchen profitieren. Besonders evangelikale Sekten in Afrika fördern die Idee von Besessenheit, Dämonen und magischen Kräften. Ihre Exorzismen füllen Hallen, ihre Sprüche füllen Spendenkassen. Ein ganzes spirituelles Entertainment-System auf dem Rücken wehrloser Frauen.

Die moderne Hexenjagd ist kein Relikt — sie ist globaler denn je

Es wäre ein Fehler, diese Gewalt als kulturelles Problem „anderer“ Länder zu begreifen. Die Mechanismen sind universell. Auch im Westen brennt der Scheiterhaufen — nur ohne Feuer.

Heute nennt man es Rufmord, Cancel Culture oder soziale Ächtung. Menschen verlieren Jobs, Freunde, Perspektiven, weil der Verdacht reicht: „Der ist rechts!“ „Die ist transfeindlich!“ „Er hat einen Witz gemacht!“ Der moderne Pranger ist nicht aus Holz, sondern aus Likes und Retweets geschnitzt.

Wer zu laut denkt, wird gelöscht — aus Feeds, Redaktionen, Lebensläufen. Natürlich ist das kein Vergleich zum realen Tod, aber die Dynamik ist dieselbe: Eine Behauptung, ein Sturm, ein Opfer.

Von Bibi Blocksberg zu Blutritualen

Es ist eine absurde Parallele: Während Kinder hierzulande mit Hexen in Serien und Spielen großwerden — süß, feministisch, rebellisch — bedeutet „Hexe“ anderswo Folter und Tod. Der Widerspruch ist grotesk. Denn während wir die Figur der Hexe romantisieren, ignorieren wir, dass sie für Millionen Menschen das Ende bedeutet.

Es fehlt der kollektive Aufschrei. Warum? Vielleicht, weil die Opfer zu arm, zu dunkel, zu weiblich sind. Oder weil man befürchtet, man müsse dann wirklich etwas tun. Das ist anstrengender als ein Instagram-Post mit Regenbogenflagge. Also bleibt die Hexenjagd im toten Winkel der Weltgemeinschaft — irgendwo zwischen exotisch, tragisch und „nicht unser Thema“.

Die UNO schaut, die Täter handeln

Zahlen? Unangenehm klar. missio berichtet von über 20.000 dokumentierten Fällen pro Jahr — Dunkelziffer unklar. Besonders betroffen: Frauen über 50, Kinder mit Behinderung, oder Menschen mit psychischen Auffälligkeiten. Also die Schwächsten der Gesellschaft. Praktischerweise lassen sie sich schlecht verteidigen. Oder sterben einfach still.

Die UNO kritisiert. Manchmal. Dann gibt’s einen Report. Eine Konferenz. Vielleicht einen Fonds. Aber keinen Druck. Kein Strafgericht. Keine politische Konsequenz. Die Täter lachen — und stechen weiter zu.

Die Hexenjagd lebt. Modern, digital, global. Und das, was uns davon trennt, ist nicht Vernunft. Sondern Zufall. Die Gnade der Geburt im richtigen Land. Die Tatsache, dass ein Zuckerschock bei uns mit Insulin behandelt wird — und nicht mit einem Scheiterhaufen.

Die Moral von diesem Irrsinn

„Wer nicht brennt, hat nur Glück gehabt.“

Die moderne Hexenjagd zeigt uns mehr über den Zustand der Welt als jede Hochglanzstudie. Sie offenbart die Fragilität von Aufklärung, die Brutalität tradierter Macht und die Doppelmoral der globalen Öffentlichkeit. Wir leben in einer Welt, die stolz auf ihre Menschenrechte ist — aber sie nur dort verteidigt, wo Kameras stehen. Anderswo brennen Menschen. Wörtlich. Und wir spenden Beileid. Vielleicht. Wenn’s die Timeline hergibt.

Die Wahrheit ist so bitter wie schlicht: Der Mensch ist nicht moderner geworden. Nur besser darin, seine Grausamkeit zu tarnen.

Die Hexe von heute trägt kein Besen-Kostüm, sondern das Gesicht der Alten, der Einsamen, der Anderen. Der Mob ist nicht mehr mit Fackeln bewaffnet, sondern mit Screenshots. Und die Feuer lodern nicht nur auf Plätzen, sondern in Kommentaren, WhatsApp-Gruppen, Dorfplätzen und Schulhöfen.

Wir müssen uns fragen: Wie viele dieser Opfer brauchen wir noch? Wie viele missbrauchte Kinder, getötete Frauen, verbrannte Körper braucht es, bis wir begreifen, dass Aberglaube nicht harmlos ist? Dass er immer ein Werkzeug ist — nie nur Glaube.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir unsere Prioritäten neu sortieren: Weniger Entrüstung über falsch gegenderte Märchenfiguren — mehr Wut über echte Gräueltaten. Weniger Debatten über Triggerwarnungen — mehr Schutz für die wirklich Gefährdeten. Und vor allem: Weniger Selbstzufriedenheit.

Denn eines ist klar: Wer heute nicht brennt, hat nicht mehr Verstand — nur mehr Glück. Noch.

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn Sie bis hierher gelesen haben, dann danke. Nicht, weil es angenehm war, sondern weil es notwendig ist. Dieses Essay ist kein Plädoyer für Zynismus, sondern für Wahrhaftigkeit. Wir leben in einer Welt, die laut schreit — aber dort, wo es wirklich schmerzt, verstummt. Vielleicht können wir gemeinsam daran rütteln. Mit Worten. Mit Aufmerksamkeit. Mit Haltung. Wenn wir schon in einem Zeitalter leben, das alte Dämonen wiederauferstehen lässt, dann lassen Sie uns wenigstens die Fackeln in die Hand nehmen — um aufzuklären, nicht zu verbrennen.

Denn das Denken darf brennen. Aber niemals wieder der Mensch.

Bitte bleiben Sie gesund, denn das ist ein hohes Gut das wir pflegen sollten!

Herzlichst
Ihr Alfred-Walter von Staufen


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Quellen und Anmerkungen:

  • FAZ – Moderne Hexenjagd: Missio zählt mehr Opfer als zur Zeit der Hexenprozesse, Link
  • missio – Hexenjagd heute – Berichte über aktuelle Gewalt gegen Frauen, https://www.missio-hilft.de
  • UN Human Rights Council – Violence Against Persons Accused of Witchcraft and Ritual Attacks, 2022
  • Amnesty International – Witchcraft-related Killings and Gender-based Violence, diverse Berichte (2019–2024)
  • Human Rights Watch – Accusations of Sorcery and Human Rights Abuses, Fokus: Papua-Neuguinea
  • BBC Africa Eye – The Witches of Ghana, 2021 (Dokumentation)
  • Al Jazeera – Witch Hunts in India and Nepal, Reportage, 2020
  • DW – Hexencamps in Ghana: Zufluchtsort oder offene Wunde?, 2023
  • The Guardian – Burning Witches in the 21st Century: The Silent Epidemic, 2021

Bücher:

  • Silvia Federici: Witches, Witch-Hunting, and Women, 2018
  • Brian P. Levack: The Witch-Hunt in Early Modern Europe, 3rd ed., 2006
  • Wolfgang Behringer: Hexen – Glaube, Verfolgung, Vermarktung, 2020

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