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Sand im Getriebe

Sand im Getriebe

Statt durch Konformität die Systemrädchen zu ölen, sollten wir sie durch Ungehorsam verschleißen lassen.

„Das gesamte moderne Dasein wird von einer Gefängnisordnung bestimmt und der moderne Mensch ist sein eigener Gefängnisdirektor.“ Dies ist keine Beschreibung der aktuellen „Coronakrise“, zu diesem Schluss kam vor mehr als 40 Jahren der französische Philosoph Michel Foucault.

Was sich in unseren Tagen ganz real wie Strafvollzug anfühlt, das Wegsperren im Lockdown und die jeweils gewährten Lockerungen, weist tatsächlich Merkmale des Strafvollzugs auf.

Doch das in der „Coronakrise“ auf die Spitze getriebene Prinzip der Disziplinierung und Normierung ist nicht neu. Es hat nach Foucault die moderne, bürgerliche Gesellschaft schon immer bestimmt. Die „Corona-Maßnahmen“, die uns nun in eine „neue Normalität“ hineinzwingen sollen, setzten diesem Prinzip nun die Krone auf.

Die Kontroll- und Disziplinierungstechniken des Strafvollzugs sind in gesellschaftliche Institutionen wie Schule, Universität und Arbeitswelt eingesickert. Der Mensch droht damit zu einem Funktionselement, einem Rädchen im Getriebe einer Normierungsmaschinerie zu werden. Der „Tod des Menschen, wie wir ihn kennen“, so Foucault, wird die Folge sein.

Die bürgerliche Industriegesellschaft ist ein Kind der Aufklärung, der „Epoche der Freiheit“, in der das vernunftbegabte, selbstbestimmte Subjekt die Bühne des Weltgeschehens betrat. Warum wurde diese Gesellschaft nicht zum Hort der Freiheit, sondern zu einem Gefängnis?

Foucaults Antwort: Wissenschaftliches „Expertenwissen“, ökonomisches Kalkül und politisches Machtstreben gehen in der modernen Gesellschaft eine brisante Verbindung ein. Sie wirkt wie eine anonyme Macht, die die ganze Gesellschaft durchwuchert und ihr ihre Strukturen aufzwingt.

Wie kommen wir da wieder heraus? Foucaults Vorschlag: Machen wir uns die eigene Unfreiheit bewusst! Hinterfragen wir das, was in einer Gesellschaft als „wahr“ gilt und zur Norm geworden ist.

Und suchen wir dann nach neuen Spielregeln, die ein lebendiges, selbstbestimmtes Leben ermöglich. Seien wir Sand im Getriebe der großen Normierungsmaschinerie!

Eine Grundschullehrerin wurde gefragt, ob und wie sich die Schülerinnen und Schüler seit Einführung der Corona-Maßnahmen verändert hätten. Sie antwortete zusammengefasst so:

„Es sind traurige, stille Kinder geworden. Sie sind artig. Sie verhalten sich diszipliniert, machen alles mit und halten sich an alle Regeln. Das Spontane und Lebendige ist nicht mehr da. Wenn die Kinder beispielsweise in der Pause auf dem Schulhof sind, toben sie nicht wie früher herum, sondern sehen immer wieder die Erwachsenen an, um sich zu vergewissern, ob sie alles richtig machen“ (1).

„Der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“

Mit diesem Satz endet das Buch des französischen Philosophen Michel Foucault (1926 bis 1984) Die Ordnung der Dinge(2). Er meinte damit nicht das Verschwinden des Menschen als Gattung. Er meinte den „Tod des Menschen, wie wir ihn kennen“, des Menschen als lustvoll-vitales, aktives und selbstbestimmtes Wesen. Hätte Foucault die Schilderung der Lehrerin hören können, er hätte sich sicherlich bestätigt gesehen.

Der schleichende Prozess des Absterbens begann in der Aufklärung und damit gerade in der Zeit, der der Mensch im Lichte der aufscheinenden Vernunft seine Würde und Freiheit entdeckte. „Der Mensch hat eine eigene Würde, Kern dieser Würde ist die Freiheit des Willens!“, so lautete die zentrale Botschaft der Aufklärung. Und Friedrich Schiller (1759 bis 1805) rief in einem Gedicht emphatisch aus: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd‘ er in Ketten geboren!“ (3). Wo so viel Licht der Erkenntnis war, gab es auch viel Schatten.

Wissenschaftliche Disziplinen disziplinieren den Menschen

In der Zeit der Aufklärung gelang es den empirischen Wissenschaften, sich aus der Vormundschaft der Kirche zu befreien. Anders als noch Galileo Galilei (1564 bis 1642) musste sich nun niemand mehr vor der kirchlichen Inquisition für seine Forschungsergebnisse verantworten und den Scheiterhaufen fürchten. Die Wissenschaften konnten sich jetzt ihrer eigenen Logik gemäß frei entfalten. Als „wahr“ sollte fortan nur noch gelten, was sich durch Messen und Beobachten dingfest machen und durch Experimente oder rationale Analyse nachvollziehen ließ.

Das ganze Mittelalter hindurch bis hin zur frühen Neuzeit hatte der Mensch als Gottes Geschöpf gegolten. Jetzt wurde er zum Forschungsgegenstand. Wissenschaftliche Disziplinen wie die Biologie, die Ökonomie, die Psychiatrie oder die Kriminologie nahmen den Menschen in den Blick und gewannen die Definitionsmacht über ihn. Ursprünglich als Befreiungsbewegung angetreten, um die Menschen aus Aberglauben, Vorurteilen und kirchlichem Dogmatismus herauszuführen, wurden sie nun zu Instrumenten der Disziplinierung und Kontrolle.

So legten sie beispielsweise fest, was als „normal“ oder „anormal“, als „gesund“ oder „psychisch krank“, was als „ordnungsgemäß“ oder als „kriminell“ anzusehen war. Das führte zu einem systematischen Aussondern und Wegsperren von Menschen und einem hohen Bedarf an Irrenanstalten und Gefängnissen (4).Um eine effektive und kostengünstige Überwachung zu ermöglichen, entwickelte der britische Philosoph Jeremy Bentham (1748 bis 1832) ein Gefängnis nach dem panoptischen Prinzip.

Das panoptische Prinzip als Machtphänomen

Das panoptische Gefängnis war ein Rundbau, bei dem alle Zellen mit einem großen Fenster zum Innenhof ausgerichtet waren. Im Zentrum des Innenhofes stand ein Beobachtungsturm. Von hieraus konnten die Wärter durch Sehschlitze alle Gefangenen panoptisch (alles sehend) in den Blick nehmen, ohne selbst gesehen zu werden (5). Nur wenige Wärter waren nötig, um die Gefangenen zu überwachen. Denn da die Insassen jeder Zeit davon ausgehen mussten, beobachtet zu werden, fühlten sich alle ständig überwacht. Selbstdisziplinierung durch vorauseilenden Gehorsam und regelkonformes Verhalten waren die Folge.

Hier zeigt sich für Foucault das Prinzip unserer modernen Zwangsgesellschaft:

„Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (6).

Das panoptische Prinzip wurde bald auf andere Institutionen wie Schule und Arbeitswelt übertragen. In den Fabriken gab es Glaskästen, in denen die Vorarbeiter die Arbeiter überwachten. Und in den Schulen saßen die Schüler nun in Bankreihen aufgereiht und unterstanden dem panoptischen Blick des Lehrers. Und zwischen zwei Klingeltönen wurde ihnen der Hofgang erlaubt.

Auch im heutigen „humanen“ Strafvollzug ist das panoptische Prinzip vorherrschend. Das Verhalten des Gefangenen steht unter ständiger Beobachtung. Bei gutem Betragen werden Lockerungen gewährt, bei unangepasstem Verhalten kann der Strafvollzug verschärft werden. Der Türspion an der Zellentür sorgt dafür, dass der Gefangene sich auch in seiner Zelle jeder Zeit beobachtet fühlen muss.

Gefängnispsychologen, Gefängnispfarrer und Sozialarbeiter unterstützen den Gefangenen auf seinem Weg zurück in die Normalität der Gesellschaft. Dazu sammeln sie Daten über ihn, um sein Verhalten auch in Zukunft einschätzen zu können.

Nicht nur Strafgefangene unterstehen einem Kontroll- und Normierungszwang. „Von der Wiege bis zur Bahre“ werden auch wir behördlich erfasst. Schulzeugnisse, Arbeitszeugnisse, polizeiliche Führungszeugnisse und Gesundheitszeugnisse werden über uns erstellt und bringen uns unter Anpassungsdruck. Ärzte, Professoren, Pädagogen, Sozialarbeiter treten als „Normalitätsrichter“ auf und erwarten, dass wir ihren Anweisungen folgen.

Die Funktion des Turmes im panoptischen Gefängnis übernehmen heute Überwachungskameras und das Internet. Data Mining*heißt die Methode, mit der man unser Verhalten berechenbar und voraussagbar machen will (7). Jeder Kommentar unter einem *YouTube-Video, jeder Einkauf im Netz, jeder Besuch einer Internetseite macht uns sichtbarer, wobei die Datensammler im Hintergrund bleiben.

Big Brother is watching us!

Wozu die „Verstaatlichung von Disziplinarmechanismen" (Foucault) führen kann, sehen wir gerade jetzt in der „Coronakrise“, dem größten, weltweiten Kontroll- und Normierungsprojekt aller Zeiten. Der Überwachungsstaat*wird rasant ausgebaut. Im Juni 2021 beschloss der Deutsche Bundestag das *Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts (8). Danach dürfen Geheimdienste und Bundespolizei jetzt unsere Smartphones und Computer mit Staatstrojanern hacken, um Nachrichten in Messengerdiensten mitzulesen. Auch die biometrische Erfassung der Bevölkerung schreitet voran. Einen ersten Modellversuch zur Überwachung von Menschen mit Gesichtserkennungssoftware gab es bereits am Berliner Bahnhof Südkreuz (9). Ab August 2021 wird neben dem biometrischen Lichtbild auch der Fingerabdruck im Personalausweis zur Pflicht (10).

Das Registermodernisierungsgesetz macht es möglich, dass die Steueridentifikationsnummer die Funktion eines allgemeinen Personenkennzeichens (Bürgernummer) übernimmt (11).

Damit können personenbezogene Daten in großem Maße verknüpft und ein umfassendes Persönlichkeitsprofil eines jeden Bürgers angefertigt werden. All das weckt Assoziationen an China und sein Sozialkreditsystem (12).

Denn hier ermöglichen Überwachungskameras mit Gesichtserkennungssoftware, Bürgernummern, Künstlicher Intelligenz und ein Punktesystem, das wünschenswertes Verhalten belohnt und unliebsames Verhalten bestraft, eine nahezu perfekte Kontrolle über die Bevölkerung. Und auch hier übernehmen die Menschen die „Zwangsmittel der Macht“ und werden zu ihrem eigenen Unterdrücker.

Wie es scheint, sind wir ― wie der Zauberlehrling in Johann Wolfgang von Goethes gleichnamigen Gedicht ― zum Gefangenen unserer eigenen geistigen Produkte und deren technischen Umsetzungen geworden (13).

Wie werden wir die Geister, die wir riefen, wieder los?

Hinterfragen wir, was uns in unserer Gesellschaft als „wahr“ gilt!

Ein Weg aus dem Gefängnis, das wir uns selbst geschaffen haben, besteht nach Foucault darin, die „Grundlagen der Wahrheitsproduktion“ einer Epoche zu hinterfragen. Das heißt für uns heute, das materialistisch-dualistische Weltbild in den Blick zu nehmen, das seit der Aufklärung unser wissenschaftliches Denken dominiert. Es ist zutiefst reduktionistisch, weil es nur das als „wahr“ gelten lässt, was empirisch fassbar, also beobachtbar und messbar ist. Und es zerschneidet die Wirklichkeit in zwei Teile: in ein Subjekt, das beobachtet, und ein Objekt, das beobachtet wird.

Die Welt wird so zu einer Ansammlung geist- und seelenloser Objekte. Mensch und Natur verlieren ihre Lebendigkeit und ihre Subjektivität. Mein „Ich“ wird auf ein „Es“, auf einen Datensatz, bald vielleicht auf eine „Bürgernummer“ reduziert. Wer aber will schon in einer Welt leben, aus der der Geist und die Lebendigkeit entwichen sind?

Holen wir den Geist und die Lebendigkeit wieder zurück in die Welt!

Empirische Wissenschaften wie die Ökonomie, die Biologie und die Psychologie führen uns unsere Unfreiheit vor Augen. Sie zeigen uns unsere Abhängigkeit von „Marktgesetzen“, von biologischen Faktoren wie den Genen oder psychologischen Strukturen wie dem Unbewussten. Alle drei Disziplinen haben Recht und Unrecht zugleich.

Natürlich bin ich bestimmt durch meine biologische Natur und auch zum Teil durch meine Gene. Aber holt man den Geist zurück in die Biologie, dann gelangt man zur Epigenetik. Sie zeigt, dass Faktoren wie mein Bewusstsein und meine Überzeugungen maßgeblich dafür sind, ob ein Gen „eingeschaltet“ wird oder nicht (14). Auch meinem Unbewussten bin ich nicht hilflos ausgeliefert. Ich kann mir meine verdrängten Wünsche bewusst machen und in mein Leben integrieren. Genauso können mich ökonomische Zwänge nicht völlig beherrschen. Es gibt immer eine kreative Lücke, die sich auftut und mir den Weg zu neuen Möglichkeiten zeigt.

Der Geist ist die Kraft, die uns antreibt, immer wieder über das Gegebene hinauszugehen.

Lassen wir uns unsere Individualität und unsere Würde nicht ausreden!

Obwohl wir vom ersten Tag unseres Lebens an von der Gesellschaft geformt und geprägt werden, sind und bleiben wir doch einmalige, individuelle Wesen von absolutem Wert. Ich muss mir meinen Wert nicht erarbeiten, indem ich mich als nützlich erweise. Ich habe einen inneren Wert, der weder an Bedingungen geknüpft, noch abgesprochen werden kann. Dieser Wert wird auch „Würde“ genannt (15).

Wir sind keine Mittel für fremde Zwecke. Wir haben Bedeutung, Bedeutung für das Ganze. Denn jeder von uns trägt eine einzigartige Wahrheit in sich, die die Welt braucht, um ein Stück heiler und vollständiger zu werden.

Leben wir also unsere Wahrheit und werden wir so zu Sandkörnern im Getriebe einer Gesellschaft, die auf Konformität, Gleichschaltung und autoritäre Herrschaft zusteuert (16)! Wecken wir in uns die anarchische Lust, das falsche Spiel der Herrschenden zu entlarven! Erfinden wir unsere eigenen Spielregeln und bringen wir mit unserer unberechenbaren Lebendigkeit das Spiel der Mächtigen an ein Ende!

Quo vadis, Mensch?

Steht uns wirklich das „Ende des Menschen, wie wir ihn kennen“ bevor? „Der Mensch befindet sich auf halbem Wege zwischen den Göttern und den Tieren“, schrieb einst der antike Philosoph Plotin (205 bis 270). Damit meinte er nicht, dass wir Gott spielen und unser Ego ins Unendliche aufblasen sollen.

Er meinte wohl: Wir stehen erst am Anfang unserer menschlichen Entwicklung. Wir wissen noch gar nicht richtig, was „menschlich“, „menschenwürdig“ oder „human“ wirklich bedeuten könnte. Ein weiter Weg liegt noch vor uns, bevor wir das Göttliche: das Wahre, Gute und Schöne in uns in vollem Maß zum Ausdruck bringen können. ― Machen wir uns also auf den Weg!


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.youtube.com/watch?v=6wlvPBg4loM , ab 1 Stunde, 38. Minute.
(2) Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge ― Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
(3) https://www.youtube.com/watch?v=a8dMDuUcjNM
(4) Foucault, Michel (1992): Überwachen und Strafen ― Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
(5) https://de.wikipedia.org/wiki/Panopticon
(6) Foucault, Michel (1992), Seite 260.
(7) https://www.saferinternet.at/news-detail/worum-geht-es-beim-datensammeln/
(8) https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw23-de-verfassungsschutzrecht-843408
(9) https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/gesichtserkennung-test-am-berliner-suedkreuz-beginnt-am-1-august-a-1160079.html
(10) https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/gesetz-zur-staerkung-der-sicherheit-im-pass-und-ausweiswesen.html
(11) https://www.rehm-verlag.de/verwaltung/aktuelle-beitraege-datenschutz/die-steuer-id-als-behoerdenuebergreifend-verwendbare-personenkennziffer/
(12) https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialkredit-System
(13) https://attitudeblog.org/2017/12/03/gedicht-der-woche-der-zauberlehrling-von-johann-wolfgang-von-goethe/
(14) https://www.youtube.com/watch?v=J_cgEru_rXE
(15) https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/aa04/429.html
(16) https://www.youtube.com/watch?v=Hp_QkXpqlzQ, ab 31. Minute.


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