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Sich den Frieden ausmalen

Sich den Frieden ausmalen

John Lennons Lied „Imagine“ ist der zeitlose Ausdruck eines großen politischen Traums.

John Lennon übt als Musiker und Persönlichkeit immer noch eine Anziehungskraft auf mich aus. Ich bin dankbar für seine Musik, und mir fällt bei alten Filmaufnahmen auf, dass ich ihm gern zusehe. Ich sehe einen hochbegabten und arroganten Mann, der es hinbekommt, in seinem Erfolg nicht zu versacken, sondern ihn immer wieder neu in Formen und Gesten der Geradlinigkeit zu übersetzen. Das unterscheidet ihn von einigen anderen Rockstars, die heute mein Misstrauen wecken. Lennon ist ein anderes Kaliber als Sting. Allerdings ist er vor über vierzig Jahren ermordet worden. Ich kann also nicht wissen, wie er sich heute, in den Auseinandersetzungen der Gegenwart, verhalten hätte.

Hätte er, wie Van Morrison und Eric Clapton, gegen die Coronapolitik gesungen? Hätte er es, wie Roger Waters, gewagt, die Rolle der Amerikaner im Ukrainekrieg zu kritisieren? Das können wir nicht wissen. Nun haben wir seinen berühmten Popsong aus dem Jahr 1971, in dem er eine Sehnsucht formuliert: Imagine. Ich singe diesen Song in einer kleinen Ukulelen-Kapelle und bin ihm dadurch oft ausgesetzt.

Ja, es ist ein schönes, einfaches Lied; wohl das erfolgreichste, das er je als Solist geschrieben hat. Aber wenn ich mir den Text anschaue, komme ich ins Schleudern. Nicht allem mag ich folgen, manchem aber schon.

Gehen wir das einmal durch:

Imagine there’s no heaven … and no religion too: Ohne einen Himmel — als Vorstellung göttlichen Friedens — zu leben, das war einst ein stolzes Ziel der Emanzipation. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich dem folgen will. Menschen, die einen Himmel kennen, können eine große Kraft haben, auf der Erde schlimme Dinge auszuhalten. Ich meine, Religion ist weder gut noch schlecht, sie ist Teil des Lebens und man sollte sich lieber eine gute und friedliche Religion wünschen, statt sich ein Leben ohne Religion zu wünschen. Mir ist schon klar, dass sich die religiöse Vorstellung vom Himmel so oder so ausgehen kann, immerhin freuen sich auch Selbstmordattentäter auf das Himmelreich. Aber nur weil es Selbstmordattentäter gibt, würde ich anderen, die noch einen Himmel haben, ihnen diesen nicht wegnehmen wollen.

Was ich dagegen akzeptiere: No hell below us. Die Angst vor einer strafenden Hölle, so sehe ich das, tut uns nicht gut, und sie macht die Menschen manipulierbar. Imagine there’s no countries: In der Globalisierung sehen wir, wie schwer es ist, übermächtige Interessen einzuhegen, wenn man keine Länder, keine funktionierenden Staaten hat. Das klingt spitzfindig, aber bevor ich mir eine Weltgesellschaft wünsche, möchte ich erst wieder freier Bürger eines souveränen Staates sein.

Danach können wir weitersehen. It isn’t hard to do: Doch, es ist hart und schwer. Das sehen wir jetzt. Und wenn die Utopien Murks sind, dann wird es noch schwieriger. Nothing to kill or die for: Das finde ich ganz richtig und klug. Man sollte nicht sein Leben oder das Leben anderer opfern müssen. Niemand sollte das. Imagine no possessions: In der Zeit des World Economic Forum und seiner ebenso dummen wie gefährlichen Visionen von Gesellschaft gehen bei mir alle Warnsignale an, wenn von Besitzlosigkeit die Rede ist. Ich habe gelernt, dass der Besitz von Lebensgrundlagen, beispielsweise von einem Haus oder einem Stück Ackerland, den Menschen die Chance gibt, souverän und unabhängig eine Ressource zu bewirtschaften.

Die Idee des freien Bauern ist für mich viel attraktiver als die Idee des besitzlosen Städters, der mit einem E-Scooter unterwegs ist und dessen Gebühren über sein Handy abgebucht werden. No need for greed or hunger: Ja. Ja. Ein immer gültiges Ziel. A brotherhood of man … Imagine all the people / Sharing all the world, you … living life in peace: Diese ganz groben Federstriche scheinen mir wiederum klar, gerade weil sie von den Menschen jeder Generation mit Farbe und Leben gefüllt werden können. Brüderlichkeit und Frieden auf der ganzen Welt, in der alle ihren Platz und ihre Form der Teilhabe finden sollen. Das leuchtet ewig, wie am ersten Tag. You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one / I hope someday you’ll join us / And the world will live as one:

Steckt wirklich eine Minderheitenerfahrung in diesem Song? Man kann das heute schlecht überprüfen. Ich bin jedenfalls vorsichtig, denn viele Erzählungen der 68er erweisen sich heute als aufgeblasene Legenden. Aber es geht hier nicht um ein Urteil über die 60er Jahre.

Es geht um das poetische Motiv: Ich spreche hier allein, aber bin nicht allein, ich werde nicht allein bleiben. Los, mach mit! Aus wenigen Einzelnen wird ein kollektives Subjekt. Und dieses Subjekt wird sich durchsetzen.

Obwohl ich viele Aussagen in Lennons Song heute nicht so einfach unterschreiben kann, meine ich, dass eine wahrhaftige Kraft in ihm liegt. Ich glaube einfach nicht, dass sich Lennon durch das Kapital und ein paar woke Ideologien hätte einlullen lassen. Vielleicht will ich es auch nicht glauben. Aber die Zartheit des Liedes sagt mir, dass ich es singen kann, als ein ehrliches Lied für den Frieden — und dass es trägt, trotz allem.


John Lennon: „Imagine“


Medienpartner

Nacktes Niveau (Paul Brandenburg), Punkt.preradovic, Kaiser TV,
Hinter den Schlagzeilen, Demokratischer Widerstand,
Eugen Zentner (Kulturzentner), rationalgalerie (Uli Gellermann), Protestnoten, Radio München (Eva Schmidt), Basta Berlin, Kontrafunk und Ständige Publikumskonferenz.

Weitere können folgen.

Ablauf

Samstag 9.7.2022 SONG Fortunate Son (Creedence Clearwater Revival)
TEXT Marcus Klöckner, Die Doppelmoral der Kriegsmacher — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 15.7.2022 SONG Redemption Song (Bob Marley)
TEXT Jens Fischer Rodrian, Botschafter für eine gerechte Welt — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 23.7.2022 SONG Friedensbewegung (Kilez More)
TEXT Eugen Zentner, Liebe und Leidenschaft — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 30.7.2022 SONG Es ist an der Zeit (Hannes Wader)
TEXT Roland Rottenfußer, Der wirkliche Feind — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 6.8.2022 SONG War — what is it good for? (Edwin Starr)
TEXT Lüül, Wozu ist Krieg gut? — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 13.8.2022 SONG Another brick in the wall (Pink Floyd)
TEXT Alexa Rodrian, Der Ziegel in der Wand — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 20.8.2022 SONG Anthem (Leonard Cohen)
TEXT Madita Hampe, Durch alles geht ein Riss — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 27.8.2022 SONG Feeding off the love of the land (Stevie Wonder)
TEXT Nina Maleika, Zurück zur Verbundenheit — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 3.9.2022 SONG Drei Kreuze für Deutschland (Prinz Pi)
TEXT Nicolas Riedl, Der Sog des Krieges — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 10.09.2022 SONG Masters of war (Bob Dylan)
TEXT Wolfgang Wodarg, Meister der Kriege — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 24.09.2022 SONG Die Welt im Fieber (Karat)
TEXT Maren Müller, Die Welt im Fieber — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 1.10.2022 SONG Wehre have all the flowers gone (Joan Baez)
TEXT Ulrike Guérot, Der Kreislauf des Krieges — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 8.10.2022 SONG Peace (Ajeet Kaur)
TEXT Philine Conrad Der Wunsch nach Frieden — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 22.10.2022SONG Le déserteur (Boris Vian)
TEXT Ulrike Guérot Das Vorbild — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 15.10.2022 SONG Working Class Hero (John Lennon)
TEXT Tom-Oliver Regenauer Das Musik-Monument — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 29.10.2022 SONG Imagine (John Lennon)
TEXT Kenneth Anders Sich den Frieden ausmalen — Zur Aktion Friedensnoten


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