Beide Autoren setzen sich seit Jahrzehnten mit den vielfältigen Problemen in Palästina/Israel auseinander. Helga Baumgarten lehrte als Politikwissenschaftlerin von 1993 bis 2020 an der Universität Birzeit im Westjordanland und lebt in Ost-Jerusalem. Norman Paech ist Völkerrechtler und war Professor an der Universität Hamburg. Beide veröffentlichten zahlreiche Bücher und Schriften.
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil analysiert Helga Baumgarten die Anfänge des Siedlerkolonialismus, beginnend 1897 mit dem Gründungskongress der zionistischen Bewegung in Basel unter der Ägide von Theodor Herzl bis zur letzten Phase des Siedlerkolonialismus und des Krieges gegen Gaza.
In Teil 2 analysiert Norman Paech die israelische Politik auf der Basis des internationalen Rechts. Er untersucht dabei die juristischen Grundlagen dieses Konflikts, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zwischen zionistischen Siedlern und der palästinensischen Bevölkerung besteht.
Die Grausamkeiten, mit der die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung in dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet in den 1930er und darauf folgenden Jahren vorangetrieben wurde, erinnern stark an die heutige Situation. Nur ist die Tötungstechnologie mit KI-gestützten Drohnen und anderen High-Tech-Waffen wesentlich „entwickelter und akurater“, sodass gezielte Tötungen von Politikern, Journalisten und medizinischem Personal „effizienter“ sind.
Helga Baumgarten — „Völkermord in Gaza — Eine historisch-politische Analyse“
Baumgarten beschreibt nicht nur die verschiedenen Aspekte der Vertreibung, begleitet von Terror gegen die Zivilbevölkerung, Folterungen und Vergewaltigungen, sondern auch den palästinensischen Widerstand gegen den Raub ihres Landes. Wie auch heute noch gängige Praxis, zwangen israelische Armeeangehörige Palästinenser, ihre Häuser selbst zu zerstören, um Platz für Siedler zu schaffen. Dörfer, die sich zur Wehr setzten, wurden dem Erdboden gleich gemacht; auch das wird heute weiterhin praktiziert. Baumgarten zitiert in diesem Kontext Fayez Sayegh, einen syrisch-amerikanischen Wissenschaftler und Diplomaten, der bereits 1965 den Begriff des Siedlerkolonialismus prägte und ihm drei Eigenschaften zuschrieb:
a) Rassismus gegenüber der endogenen Bevölkerung,
b) Gewalt und Terror gegen die einheimischen Palästinenser,
c) territoriale Expansion „from the river to the sea“, das gesamte historische Palästina im Besitz des zionistischen Siedlerstaates.
Die neuere Geschichte Palästinas ist von beispielloser Gewalt geprägt, die zur Explosion am 7. Oktober 2023 geführt hat.
„Medizid“ – „Scholastizid“ – „kultureller Völkermord“
Erschütternd zu lesen sind Helga Baumgartens Ausführungen über die Reaktionen auf den Überfall vom 7. Oktober 2023.
Mit der Entmenschlichung der Palästinenser wird ihnen jegliches Recht auf eine humane Behandlung abgesprochen. Das erklärt die hohe Zahl der getöteten Kinder und Frauen, der Alten, insgesamt alle Zivilisten, aber auch des medizinischen Personals und der Ärzte.
Die Wissenschaftlerin widmet ihnen ein gesondertes Kapitel mit dem Titel „Medizid: Zerstörung des Gesundheitssektors, Mord an Ärzten und Krankenpflegerinnen“. Die Folterungen, Verhaftungen und Morde an Ärzten und Pflegepersonal sind Verbrechen, die von zahlreichen UN-Organisationen und humanitären NGOs heftig kritisiert werden, bislang aber straflos blieben.
Dasselbe trifft auf Journalisten zu, etliche von ihnen sind gezielt ermordet worden. Auch ihnen widmet Baumgarten ein eigenes Kapital. Es wird deutlich, dass Israel keine Zeugen für seine Folterungen und seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben will. Diese werden schlichtweg ermordet.
Unter dem Titel „Scholastizid“ beschreibt die Wissenschaftlerin die Zerstörung des akademischen Sektors.
Alle Universitäten in Gaza wurden bereits in den ersten 100 Tagen bombardiert. „Parallel dazu wurden 195 Bibliotheken und Archive regelrecht ausgelöscht, darunter das Zentralarchiv Gazas, das Dokumente zur Geschichte der letzten 150 Jahre aufbewahrte.“
In diesem Kontext zitiert Baumgarten Atef Abu Seif, Schriftsteller und ehemaliger Kulturminister in Ramallah (2019 bis 2024):
„Dieser Krieg wurzelt im Versuch, unser Volk auszurotten und auszutilgen. … Heute versuchen sie, den Plan der NAKBA von 1948 endgültig umzusetzen. Der Enkel des Soldaten, der das Rote Kino in Jaffa vor 75 Jahren zerstörte, zerstört heute das Rashad-al-Shawwa-Kulturzentrum in Gaza. (…) Der Krieg gegen unsere Kultur bildete immer einen zentralen Teil des Krieges der Aggressoren gegen unser Volk. (…) Es ist ein Krieg, der versucht, unser Land und seine reichen Schätze an Wissen, Geschichte und Zivilisation, gepaart mir den darin enthaltenen Geschichten, zu stehlen und zu rauben.“
Es ist ein veritabler „kultureller Völkermord“, ein Begriff, der leider nicht in der „Konvention zur Verhinderung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords“ enthalten ist.
Raphael Lemkin, einer der maßgeblichen Initiatoren dieser Konvention, bemühte sich mit allen Kräften, den „kulturellen Völkermord“ in der Konvention zu verankern, scheiterte aber damit. Für Lemkin lag „der kulturelle Aspekt im Zentrum des Konzeptes von Völkermord“: „Die Zerstörung der Kultur ist der erste Schritt zur vollständigen Zerstörung einer Nation“.
„Gaza — Der größte Kinderfriedhof der Welt“
Das letzte Kapitel von Helga Baumgarten widmet sie den getöteten Kindern: „Gaza — Der größte Kinderfriedhof der Welt: Sie haben alle einen Namen“.
Berührend sind die Gedanken eines 27-jährigen Vaters, der im Dezember 2024 getötet wurde und seinen Tod ahnte:
„Ich bin keine Nummer und ich erlaube nicht, dass mein Tod zu einer beiläufigen Nachricht gemacht wird. Sagt, dass ich das Leben liebe, das Glücklichsein, Freiheit, das Lachen von Kindern, das Meer, Kaffee, Schreiben, die Lieder von Fairuz, alles, was Freude bringt (…) auch wenn all diese Dinge im Verlauf eines Moments verschwinden.“
Daran anschließend erinnert die Autorin an das wundervolle und immer wieder lesenswerte Gedicht von Mahmud Darwish „Wir aber lieben das Leben“, das Mustafa al-Kurd vertonte und überall auf seinen Konzerten gesungen hat.
Am Schluss ihrer Ausführungen stellt Helga Baumgarten die entscheidende Frage, wie lange wohl noch die deutsche Unterstützung, „militärisch, finanziell, politisch und ideologisch“, für den „Völkermord in Gaza und die ethnische Säuberung in der West Bank“ andauern wird. Diese Frage treibt viele Deutsche um. Denn diese Unterstützung ist völkerrechtswidrig, skandalös und politisch völlig inakzeptabel.
Im 2. Teil des Buches analysiert Norman Paech den Völkermord auf der Basis des Völkerrechts. Für ihn ist der Krieg ein „unbeschreibliches und unfassbares Szenario“, das mit „seinem täglichen Horror unser Vorstellungsvermögen“ überschreitet. Paech prangert die „Einseitigkeit der Medien“ an, die aufgrund einer falschen Staatsräson und aus Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus zu erklären ist. Er betont, dass „zum Beispiel der Vorwurf des Völkermords weder antisemitisch“ ist, noch dass er die Existenz Israels gefährde. Dagegen erzeugt „die permanente Besatzung [erzeugt] permanenten Krieg und eine immer mehr in den Faschismus treibende Regierung ist es, die allein die Existenz des Staates gefährdet“, so Paech und weist in diesem Zusammenhang auf das lehrreiche Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Juli 2024 hin.
Haager Landkriegsordnung und Genfer Konventionen
In seinem Kapitel über das Humanitäre Völkerrecht erinnert Norman Paech an die Haager Landkriegsordnung (HLKO), die nicht nur Regeln zur Behandlung von Kriegsgefangenen, Verwundeten und Kranken aufstellte, sondern auch Regeln für den Schutz der Zivilbevölkerung sowie Verbote bestimmter Waffen- und Munitionsarten. Artikel 50 verbietet Kollektivstrafen gegen die Bevölkerung, die aber in Palästina vielfach angewandt werden. Obwohl Israel die HLKO weder unterzeichnet noch ratifiziert hat, gilt sie dennoch für alle Staaten, also auch für Israel, da sie Teil des Völkergewohnheitsrechts geworden ist. Dies hat der Oberste Gerichtshof in Jerusalem 1978 festgestellt und ist Konsens unter allen Staaten. Die israelische Regierung jedoch erkennt die Verpflichtungen aus der HLKO für die besetzten Gebiete und Gaza nicht an.
Neben der Haager Landkriegsordnung schützen auch die Genfer Konventionen die Zivilbevölkerung in Kriegen.
Obwohl die erste israelische Regierung die Genfer Konventionen 1951 unterzeichnet hat, haben alle Regierungen nach dem Krieg von 1967 die Anwendbarkeit der Konventionen für die besetzten Gebiete bestritten.
In seinem Kapitel „Legitimer Widerstand oder Terror – das Recht auf Selbstbestimmung“ analysiert Norman Paech die UN-Charta sowie die beiden Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte mit Bezug auf das dort verankerte Selbstbestimmungsrecht. Die Pakte traten 1976 in Kraft, heute wird allgemein davon ausgegangen, „dass sich die Verbindlichkeit auf alle 193 Mitgliedsstaaten erstreckt“.
Für den Völkerrechter Paech stellt sich „grundsätzlich die Frage, ob der Widerstand und seine Bewegung ein Recht auf Gewalt haben.“ In diesem Kontext weist er auf den Kampf der Befreiungsbewegungen hin und die Bemühungen der Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, in den UN-Resolutionen „die Zulässigkeit eines nationalen Befreiungskampfes mit Mitteln auch des bewaffneten Kampfes“ zu verankern. Die westlichen Staaten haben immer gegen diese Resolutionen gestimmt. „Die Erkenntnis, dass die Gewalt ihren Ursprung in der Kolonialherrschaft und nicht in dem Widerstand dagegen hat, kam den Staaten erst später“, betont Paech.
Das Grundsatzprogramm der Hamas von 2017
Mit Bezug auf die Hamas erklärt Norman Paech, dass das Ziel der Hamas immer die Befreiung Palästinas von der israelischen Besatzung war und weist auf die erste Hamas-Charta von 1988 hin, die unter anderem auf die Vernichtung Israels abzielte. Dass aber das neue Hamas Grundsatzprogramm von 2017 nie in den Medien erwähnt wird, obwohl es ins Deutsche übersetzt ist und in der aktualisierten Fassung von Baumgartens Buch über die Hamas von 2006 zu finden ist, wie auch auf academia.edu, kritisiert Paech heftig. „In diesem Programm erklärt die Hamas eindeutig, dass ihr Kampf sich gegen das zionistische Israel und die Besatzung richte, ausdrücklich aber nicht gegen Juden. Darüber hinaus fordert sie in Übereinstimmung mit der UN-Resolution 194 (II) vom 11. Dezember 1948 das Rückkehrrecht für alle Palästinenser und akzeptiert die Errichtung eines souveränen und unabhängigen palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt in den Grenzen vom Juni 1967.
„Das kommt einer faktischen, wenn auch nicht rechtlichen Anerkennung des zionistischen Staates gleich“, so Paech. „Von der Vernichtung Israels, die der Hamas als Beweis ihres Terrorismus immer noch vorgeworfen wird, kann seit dem Grundsatzprogramm von 2017 nicht mehr gesprochen werden.“ Und als Beweis für die Glaubwürdigkeit weist Norman Paech auf ein Interview mit dem ehemaligen palästinensischen Gesundheitsminister von Gaza, Bassem Naim, hin, das der US-amerikanische Journalist Jeremy Scahill 2024 führte:
„Wenn ein palästinensischer Konsensus erreicht ist, dass wir mithilfe der internationalen Gemeinschaft unseren unabhängigen souveränen Staat bekommen in den Grenzen von 1967, mit Jerusalem als unserer Hauptstadt und inklusive des Rückkehrrechts, werden wir das akzeptieren und nicht blockieren.“
Solche Sätze haben in Deutschland wirklich Seltenheitswert und es ist zu wünschen, dass auch deutsche Journalisten dieses Programm zur Kenntnis nehmen und nicht ständig die angeblichen Vernichtungsphantasien der Hamas beschwören, die der Vergangenheit angehören.
Wie das Hamas-Grundsatzprogramm von 2017 ist auch die 16-seitige Broschüre, die die Hamas am 22. Januar 2024 unter dem Titel „Unser Narrativ – Die Operation Al-Aqsa-Flut“ veröffentlichte, weithin unbeachtet. Darin wird deutlich, „dass es der Hamas nicht um die Verbreitung von Angst, Panik und Schrecken durch ein möglichst grauenerregendes Blutbad ging, sondern um das politisch-strategische Ziel, die israelische Besatzung zu beenden.“ Inzwischen haben etliche Untersuchungen durch die UN und selbst durch israelische Organisationen ergeben, dass es wohl auch keine Vergewaltigungen durch Hamas-Kämpfer gab. Aber diese fake-news wird immer wieder aufgewärmt, so wiederholt auch von der ehemaligen Außenministerin Annalena Baerbock.
„Plan zur Auslöschung“
Im Kapitel „Plan zur Auslöschung“ führt der Völkerrechtler akribisch die Zerstörung des Gazastreifens aus und weist auf den „koordinierten Plan zur Auslöschung der Palästinenser in Gaza“, hin, wie ihn die internationale Recherchegruppe Forensic Architecture zeichnet.
*„Die Gruppe registrierte bis Juni 2024 mehr als 1000 israelische Bombenabwürfe mit etwa 25.000 Tonnen Sprengstoff, eine Sprengkraft doppelt so stark wie die der Hiroshima- Atombombe.“ *
Die Zitate israelischer Politiker und Armeeangehörigen zeigen die Menschenverachtung und die Absicht zum Völkermord klar auf. So sagte der Vorsitzende von Zehut (Zentren zur Vertiefung der jüdischen Identität), Moshe Feiglin: „Es ist nicht die Hamas, die beseitigt werden sollte. Gaza sollte dem Erdboden gleichgemacht werden und die Herrschaft Israels sollte an diesem Ort wiederhergestellt werden. Dies ist unser Land.“
Die heutige Situation, das heißt die vollständige Blockade Gazas, hat der ehemalige Generalmajor Giora Eiland bereits im September 2024 vorausgesagt: Er wolle alle Menschen, die sich in den Ruinen von Gaza-Stadt und Umgebung aufhalten, auffordern, das Gebiet zu verlassen. „Danach würden alle Zugänge abgeriegelt und eine vollständige Belagerung verhängt. Es würden kein Wasser, kein Treibstoff, keine Lebensmittel und humanitären Güter geliefert werden.“ Dieses Szenario ist seit Anfang März 2025 Realität. Seitdem werden keine Medikamente, keine Zelte und Hilfsgüter, kein Wasser nach Gaza gelassen, ein monströses Verbrechen.
„Völkermord in Gaza“ ist ein wichtiges, empfehlenswertes Buch. Auch wenn die derzeitige Lage hoffnungslos erscheint, ist es dringend erforderlich, immer wieder an das Völkerrecht zu erinnern. Wir müssen das Urteil des Internationalen Gerichtshofs und die Ausstellung des Haftbefehls gegen Netanjahu ernst nehmen. Es darf nicht sein, dass ein Bundeskanzler dieses Urteil umgeht! Der Internationale Gerichtshof ist mit tatkräftiger Unterstützung der deutschen Regierung ins Leben gerufen worden, und zwar wegen der deutschen Geschichte und des Holocaust. Das sollte nie vergessen werden! Ohne Völkerrecht droht die Barbarei.
Hier können Sie das Buch bestellen: „Völkermord in Gaza: Eine politische und rechtliche Analyse “

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