Zum Inhalt:
Unser Schurke

Unser Schurke

Al-Sharaas Besuch im Weißen Haus erinnert an Washingtons langjährige Verachtung demokratischer Prozesse und aller, die sich für diese einsetzen — außerhalb und manchmal auch innerhalb des Westens.

Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag je erleben würde, aber am Montag war es soweit, als Ahmed Al-Sharaa das Weiße Haus besuchte, um sich mit Präsident Donald Trump und seinem üblichen Gefolge an Sonderlingen zu treffen. Letztere mussten wohl dabei sein, um sicherzustellen, dass der Trumpster wenigstens einen Teil dessen versteht, was gesagt wird.

Ein Terrorist wie aus einer Freakshow inmitten all der Retro-Eleganz des Oval Office: Wer hätte sich eine so anstößige Szene ausdenken können?

Wie aufmerksame Leser wissen, ist Al-Sharaa einer jener blutrünstigen sunnitischen Dschihadisten, die während der langen verdeckten Operation des Westens gegen das Assad-Regime in Syrien immer dann ihre Namen und die ihrer mörderischen Milizen geändert haben, wenn die Welt herausfand, wer sie waren und wie groß das Ausmaß ihrer Brutalität war.

Damals war Al-Sharaa als Abu Muhammad Al-Dscholani bekannt, wobei der Nachname „Der aus dem Golan“ bedeutet. Während er in jenen Jahren von der Verschwendungssucht des CIA und des MI6 profitierte, als US-amerikanische und britische Geheimdienste primitive Mörder wie Al-Dscholani finanzierten, bewaffneten und ausbildeten, ist er heute Syriens Präsident — infolge einer letzten britisch-US-amerikanischen Offensive, die ihn vor elf Monaten in Damaskus an die Macht brachte.

Al-Sharaa/Al-Dscholani begann seine glanzvolle Karriere im Jahr 2003, als er im Alter von 21 Jahren der Al-Qaida im Irak beitrat, um gegen die US-amerikanische Besatzung zu kämpfen — was an sich, das muss man ihm lassen, lobenswert war. Anschließend schloss er sich über den berüchtigten Abu Bakr Al-Baghdadi dem Islamischen Staat an, um, zurückgekehrt in seine syrische Heimat, die sunnitische Barbarei wieder aufleben zu lassen.

Nachdem 2011, spätestens Anfang 2012, CIA und MI6 die Demonstrationen des „arabischen Frühlings“ in Syrien in einen blutigen bewaffneten Konflikt verwandelt hatten, unterstützte Al-Dscholani, wie er damals hieß, die Bildung der Al-Nusra-Front, der Frontorganisation Al-Qaidas in Syrien.

Im Jahr 2017 jedoch wurde Al-Nusra in der Presse alles andere als positiv wahrgenommen und Al-Dscholani benannte sie im Zuge einer Fusionierung mit … mal sehen … sechs anderen, nicht sehr netten salafistischen Milizen in Hay´at Tahrir A-Sham(HTS) um.

Im Jahr darauf stuften die Vereinigten Staaten und die Vereinten Nationen HTS als Terrororganisation ein; auf Al-Dscholani, der ebenfalls als Terrorist eingestuft wurde, wurde ein Kopfgeld von 10 Millionen US-Dollar ausgesetzt.

Vor Langem schon kam ich zu dem Schluss, dass die Welt im Geheimen regiert wird. Und es ist schwer zu sagen, wann die unsichtbaren Mächte, die das Weltgeschehen bestimmen, beschlossen haben, Al-Dscholani ein paar Anzüge zu kaufen, ihm anzuordnen, wieder seinen alten Namen anzunehmen, und ihn zu legitimieren.

Operation „Rehabilitierng“

Bild

Portion of a poster by the U.S. State Department’s Rewards for Justice program, 2017. (Rewards for Justice / Wikimedia Commons/ CC0)

Dass irgendeine Art der Rehabilitierung bevorstand, wurde mir erstmalig bewusst, als der Sender PBS 2021 als erstes westliches Medium ein Interview mit Al-Dscholani sendete. Darin versprach der als solcher eingestufte Terrorist in blauem Blazer und zugeknöpftem Hemd die Gründung einer „Rettungsregierung“ in Syrien. Martin Smith, der — zumindest bis April 2021 — einen guten Ruf genoss, nickte vertrauensselig.

Gute drei Jahre später führt Al-Dscholani seine kostenaufwändig bewaffneten Streitkräfte in einem Blitzmarsch nach Damaskus, nach wie vor unterstützt von westlichen Mächten — diesmal von den Türken und wahrscheinlich, aber nicht nachweisbar, von den Israelis.

Die HTS war noch nicht einmal in Damaskus angekommen, als man schon lesen konnte, wie großartig alles werden würde. The Telegraph veröffentlichte in seiner Ausgabe vom 3. Dezember die Schlagzeile: „Wie Syriens ‚diversitätsfreundliche‘ Dschihadisten einen Staat aufbauen wollen.”

Die sektiererische Gewalt — Gewalt gegen Drusen, Gewalt gegen Christen, Gewalt gegen Alawiten —, für die Al-Sharaa all diese Jahre gelebt hat, hat seit seiner Selbsternennung zum Präsidenten für die nächsten fünf Jahre nicht aufgehört.

Soweit man das aus der lückenhaften Berichterstattung erkennen kann, ist das Land gezeichnet von Ausschreitungen sunnitisch getriebener Brutalität. Ein Teil davon ist Berichten zufolge das Werk ausländischer Salafisten, die nach dem Sturz des Assad-Regimes weiterhin aktiv sind. Unter der Führung von Al-Sharaa oder unter seiner stillschweigenden Zustimmung?

Die US-amerikaische Ausgabe von The Spectator veröffentlichte unter der Überschrift: „Der Dschihadist, den ich kannte: mein Leben als Gefangener von Al-Sharaa“ in ihrer Montagsausgabe(vom 10. November) einen interessanten Artikel von Theo Padnos, der ein Jahr als Gefangener der HTS verbrachte.

In seiner Einleitung führt Padnos aus:

*„Während Washington heute den roten Teppich für den ehemaligen Anführer der Al-Qaida und heutigen syrischen Präsidenten Ahmed Al-Sharaa ausrollt, leben die Minderheiten in Syrien weiterhin in schrecklicher Angst. Eine Armee der Zerstörung — halb Mad Max, halb Lollapalooza(US-amerikanisches Musikfestival; Anmerkung der Übersetzerin) — wälzt sich irgendwo südlich von Damaskus, der Hauptstadt des Landes, durch die Wüste. *

*Wer hat diesen Kämpfern den Befehl zum Handeln gegeben? Das weiß niemand. Was wollen sie? Das ist unklar. Als ehemaliger Gefangener der Dschihadistenbande von Al-Sharaa kann ich jedoch nicht sagen, dass mich die Entwicklung der Ereignisse in Syrien überrascht.“ *

In der US-amerikanischen Mainstream-Presse erfährt man nicht viel über das aktuelle Geschehen in Syrien. Stattdessen liest man von „Herrn Sharaas Weg vom Dschihadisten, der die Absicht verfolgte, US-amerikanische Soldaten zu töten, zum heutigen charmanten, tadellos gekleideten, versöhnlichen Führer, der Nationen auf der ganzen Welt umwirbt“, so zu lesen in Roger Cohens Artikel „Ein syrisches Dorf und der lange Weg ins Weiße Haus“ in der Montagsausgabe(10. November) der New York Times.

Trag noch ein bisschen dicker auf, Roger.

Oder Christina Goldbaum in derselben Ausgabe derselben Zeitung:

„Das Treffen von Al-Sharaa in Washington ist die jüngste Wendung in der Verwandlung des ehemaligen islamistischen Anführers, der einst von den Vereinigten Staaten als Terrorist eingestuft und auf den ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt worden war.“

Charmant? Versöhnlich? Tadellos gekleidet? Nein, nein, diese Anzüge sehen für mich wie billige Lumpen aus. Die letzte Wendung in der Verwandlung?

Ich hoffe, Sie sehen, was hier vor sich geht. Sie sollen diesen Verbrecher einfach so hinnehmen, wie ihn die Mächte hinter ihm darstellen, und weder über die Geschehnisse auf dem Weg dahin noch über die Enthauptungen oder darüber, wer die Reise finanziert hat, nachdenken.

Frau Goldbaum informiert uns darüber, dass Al-Sharaa diese Woche nach Washington gekommen ist, „um ein Abkommen zu unterzeichnen und sich 88 weiteren Ländern in der globalen Koalition zum Kampf gegen den Islamischen Staat anzuschließen, der in Syrien weiterhin aktiv ist.“ Wie bitte?

Al-Sharaa mit seinen Verbindungen zum Islamischen Staat stand auf der Terror(isten)liste, bis er letzten Freitag vom Finanzministerium daraus entfernt wurde; Syrien gilt noch immer als Staat, der den Terrorismus unterstützt. Und Al-Sharaa soll für eine Art Einberufungszeremonie im Oval Office sein?

Zeitalter umfassender Geheimniskrämerei

In unserem Zeitalter umfassender Geheimniskrämerei werden wir vielleicht nie erfahren, warum Trump und seine Leute Al-Sharaa ins Oval Office kommen ließen. Meine Vermutung: Am Montag ging es darum, wie Al-Sharaa seine Beziehungen mit Israel gestaltet beziehungsweise wie er sie gestalten soll. Und das angesichts dessen, dass das Ziel des zionistischen Staates darin besteht, im Zuge seines „Siebenfrontenkrieges“ aus dem, was offiziell noch immer die Syrische Arabische Republik heißt, eine Mosaikscherbenhaufen zu machen.

Kurz gesagt ist Al-Sharaa nun ein vollständig anerkanntes Instrument des Imperiums und seiner Anhängsel. Er soll einem bestimmten Zweck dienen.

Als ich das Schauspiel dieses salafistischen Mörders betrachtete, der in einem dieser Empire-Sessel Trump gegenüber saß, wurde mir bewusst, dass ich in meinem etwas längeren Leben schon öfter einen Tag erlebt hatte, von dem ich annahm, ihn nie zu erleben.

Einen Augenblick lang hatte ich einfach die Geschichte der zerfallenden Republik Amerika vergessen, deren Siege von 1945 ihr mehr Macht gebracht haben, als sie je auf kluge Art und Weise zu verwalten vermochte.

Kein Grund also, sich entsetzt zu zeigen. Al-Sharaa ist ein ungeheuerlicher Fall, vom ungeheuerlichsten Mann, der je im Weißen Haus regierte, nach Washington gebracht — aber er gehört zu einer langen Reihe von Diktatoren und diversen anderen erbärmlichen Personen, denen diese Ehre zuteil wurde.

Ich wage zu sagen, dass er möglicherweise der ungehobeltste von ihnen ist, aber davon abgesehen nicht der schlimmste.

Als Beispiel aus der frühen Nachkriegszeit wäre da der Schah von Persien zu nennen. Präsident Harry Truman hieß ihn 1949 im Weißen Haus willkommen — zwei Jahre nach Beginn des Kalten Krieges, den er, Truman, begonnen hatte, und ganze vier Jahre, bevor die CIA und die Briten den demokratisch gewählten Mohammad Mossadegh in Teheran stürzten.

Weitere vier Präsidenten luden ihn für fünf weitere Besuche ein: John F. Kennedy im Jahr 1962, Richard Nixon in 1969 und 1973, Gerald Ford 1975 und Jimmy Carter 1977.

1970 war Suharto an der Reihe. Nixon lud ihn 1970 zu einem Staatsbesuch ein, fünf Jahre, nachdem die Flüsse Indonesiens rot gefärbt waren vom Blut von — neuesten Schätzungen zufolge — einer Million Menschen, die den Stolz verteidigten, den der unvergleichliche Sukarno ihnen bei der Unabhängigkeit vermittelt hatte.

Als Reagan Suharto im Weißen Haus empfing, gab er ein Staatsbankett und lobte diesen grausamen Diktator für seine „weise und standhafte Führung“.

Im Jahr 1977 lud Carter Augusto Pinochet ein, vier Jahre nach dem Staatsstreich, in dem der chilenischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt wurde.

Als schlimmster Militärdiktator Guatemalas, der gerade eine Terror- und Völkermordkampagne betrieb, die den Seelen der guatemaltekischen Maya-Bevölkerung so viele Narben zufügte, kam Efraín Rós Montt auf Einladung Reagans 1982(ins Weiße Haus).

Und so weiter und so fort, leider.

All diese Menschen — und wer kann schon sagen, wie viele weitere — hatten, wie Al-Sharaa auch, einen Zweck. Wenn wir darauf bestehen, über Al-Sharaas Anwesenheit im Oval Office diese Woche entsetzt zu sein, sollten wir auch über das Verhalten des Imperiums im Ausland in den letzten acht Jahrzehnten entsetzt sein.

Lasst uns diese Gelegenheit nutzen, sich mit der Vorliebe unserer Führer für alle Arten von Massenmördern, Tyrannen, Völkermördern und Diktatoren abzufinden sowie mit der Abneigung unserer politischen Cliquen gegen die Demokratie und ihre Prozesse und gegen jeden, sei es außerhalb des Westens oder manchmal auch innerhalb, der für diese einsteht.

Diese Leute sind keine Fehlentwicklungen oder Irrwege. Sie sind die Akteure der US-amerikanischen Außenpolitik. Die USA haben manche von ihnen erschaffen. Zweifellos haben sie den Mann erschaffen, der sich selbst nun als Syriens Präsident bezeichnet.

Nein, wir sind Ahmed Al-Sharaa(der Autor nutzt im Originaltext ein Wortspiel, angelehnt an „Toys ‚r‘ us“, den US-amerikanischen Spielzeughersteller, der mit diesem Firmennamen ausdrücken wollte, sie „seien“ Spielzeug beziehungsweise Spielzeug sei „ihr Ding“; Anmerkung der Übersetzerin) und sollten uns endlich mit der Realität abfinden, deren jüngste Manifestation er lediglich ist.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Al-Qaeda Goes to Washington“ bei Consortium News. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.


Finden Sie Artikel wie diesen wichtig?
Dann unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende.

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem kleinen Dauerauftrag oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder unterstützen Sie uns durch den Kauf eines Artikels aus unserer Manova-Kollektion .

Weiterlesen

Die neue Gegendruck ist da!
Thematisch verwandter Artikel

Die neue Gegendruck ist da!

Europa wurde mit vielen salbungsvollen Worten aus der Taufe gehoben. Heute agieren die Staaten „einig gegen Recht und Freiheit“ — und vor allem gegen den Frieden.

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
Aktueller Artikel

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Israel missachtet kontinuierlich den Waffenstillstand im Gazastreifen und geht auch in der Westbank immer brutaler vor — die Bundesregierung will dennoch wieder Waffen liefern.

Brücken bauen
Aus dem Archiv

Brücken bauen

Durch ein wertschätzendes Miteinander überwinden wir die Gräben in unserer Gesellschaft.