Amtliche und sonstige Prozentangaben hinsichtlich der von Elektrosensitivität Betroffenen schwanken über die Jahre im einstelligen Bereich. Der Mediziner Claus Scheingraber und der Physiker Stefan Spaarmann sind davon überzeugt, dass die Dunkelziffer der Betroffenen hoch ist:
„Wenige wagen sich an die Öffentlichkeit, weil zu den enormen physischen Beschwerden noch der psychische Diskriminierungsdruck kommt, der ihre Menschenwürde verletzt und sie zu Geächteten macht.“
Bei etwa nur 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung wären das landesweit immerhin rund eine Million Menschen — eine gewiss nicht unerhebliche Zahl, die als solche bereits Zweifel an der vorgeschobenen Hypochondrie-These weckt.
Doch selbst wenn man die ganze Problematik auf pure Psychologie reduzieren wollte, stünden zwei ernste Rückfragen im Raum. Zum einen, ob die einschlägigen Ängste vor Mobilfunkstrahlung nicht doch mit nachweisbaren oder durchaus nachgewiesenen Faktoren zu tun haben — denn völlig eindeutig ist die Faktenlage international und hierzulande keineswegs. Und zum anderen, ob die vielen Verängstigten nicht würdevoller behandelt werden müssten, so dass beispielsweise elektrosensiblen Menschen ein brutaler Zwangseinbau von Funkzählern im Privatbereich erspart bleiben sollte (1). Im Gegensatz zur bisherigen juristischen Lage ist hier ein Widerspruchsrecht mit umweltärztlicher Begründung ausdrücklich zu schaffen. Bisher werden jedoch, wie aus der Szene Betroffener zu hören ist, sogar fachärztliche Bestätigungen von Elektrohypersensibilität oft nicht mehr anerkannt, nachdem sie sich — naturgemäß angesichts der Zunahme der Fälle in einer immer stärker von Funklöchern „befreiten“ Welt — immer mehr gehäuft haben. Dieses Unrecht muss ein Ende haben.
Mittlerweile wird von Experten besonders diskutiert, dass die elektromagnetischen Felder des Mobilfunks oxidativen Zellstress auslösen können und insofern einen Hauptschädigungsmechanismus darstellen.
Ulrich Warnke und Peter Hensinger erklären:
„Es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Stressauslösung durch Lebensumstände und durch Mobilfunkstrahlung. Die Forschungsergebnisse zu den Wirkungen der nicht-ionisierenden Strahlung auf die Zellen zeigen gleiche Wirkungsmechanismen wie die umweltmedizinische Burn-Out-Forschung. Die Forschungsergebnisse sind eindeutig, doch der Einfluss der Industrie ist so groß, dass sie nicht zur Kenntnis genommen werden.“
In der Logik des trans- oder posthumanistischen Fortschrittsgedankens werden in der Gigabit-Gesellschaft alle Register gezogen, um Elektrohypersensibilität als rein subjektive Befindlichkeit abzutun, die angeblich keine ernsten Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen erfordert. Mit Einflussnahmen von Geldgebern auf Forschungsergebnisse auch auf diesem Sektor ist dementsprechend zu rechnen. Dass infolge von Veränderungen im Wissenschaftsbetrieb „externe Geldquellen eine zunehmende Rolle im alltäglichen Projektbetrieb“ spielen, war 2019 in der Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis nachzulesen. Im selben Jahr haben investigative Journalisten im renommierten Berliner Tagesspiegel aufgezeigt, dass bei der Bestimmung der geltenden Mobilfunk-Grenzwerte tatsächlich eine bedenkliche Industrienähe im Spiel war.
Zudem hat Thilo Bode in seinem Buch „Die Diktatur der Konzerne“ von 2018 bereits grundsätzlich dargelegt, wie Konzerne über die Macht verfügen, „Lehrstühle, Forschung und eigene Universitäten zu finanzieren und damit wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt an Konzerninteressen auszurichten“. Solche Lobby-Arbeit auch gerade im Interesse der Mobilfunk-Industrie sollte schon aus Gründen der Humanität endlich eingeschränkt werden. Dass der Mainstream der Forschung seit langer Zeit zu Ungunsten Betroffener ausfällt, besagt jedenfalls wenig angesichts der kritischen Frage nach dem Zustandekommen von Studienergebnissen — und angesichts des Vorliegens anderslautender, durchaus besorgniserregender Forschungsresultate weltweit. So hatten die kanadischen Umweltmediziner Stephen Genius und Christopher Lipp bereits 2011 aufgrund ihrer Überblicksforschung 2011 festgehalten:
„Bis jetzt weist die meiste Forschung, die von unabhängigen, nicht-staatlichen oder nicht mit der Industrie in Verbindung stehenden Forschern durchgeführt wird, auf potentiell schwerwiegende Wirkungen durch viele Expositionen gegenüber nicht-ionisierender elektromagnetischer Strahlung hin.“
Fakt ist bis heute, dass die Befunde aus Forschung und Wissenschaft zum Thema Mobilfunk seit jeher recht konträr ausgefallen sind. So erklärte das „Büro für Technikfolgenabschätzung“ im Deutschen Bundestag zur Mobilfunk-Thematik vor einigen Jahren, die Erforschung der Strahlen-Effekte auf lebende Organismen sei bislang zu teils nicht eindeutigen, nicht übereinstimmenden Befunden gekommen, woraus unterschiedliche und „konträre Interpretationen resultieren“.
Damit ist bestätigt, dass in wissenschaftlicher Hinsicht keine wirklich eindeutigen oder einseitig in Anspruch zu nehmenden Resultate vorliegen. Erst 2025 hat zum Beispiel eine Studie zu Mobilfunkbasisstationen in Indien Gesundheitsschäden nachgewiesen: Je höher die gemessene Leistungsdichte in den umliegenden Wohnungen war, desto mehr Symptome wurden berichtet. Ähnliches hatte schon vor Jahren der deutsche Arzt Horst Eger in seinem Heimatort Naila aufgezeigt. Die Indizien für eine nicht nur thermische, sondern wirklich biologische Wirkung der Strahlung, etwa auch durch neuere Studien aus Frankreich und Kroatien, lassen sich nicht länger vom Tisch wischen — zumal langjährige Beobachtungen von Schäden an Tieren und Pflanzen durch Mobilfunkstrahlung hinzukommen (2).
Von daher müsste aus ethischer Sicht eigentlich das Vorsorgeprinzip gelten — zugunsten elektrosensibler Mitmenschen, deren keineswegs unbegründeten Ängste ernster als bisher zu nehmen wären. Stattdessen werden sie meistenteils immer noch als Minderheit diskriminiert. Und solche Nichtanerkennung ihrer Funk-Beschwerden trägt mit zur Verschlimmerung des Krankheitsbildes bei, indem sie das sogenannte Hilflosigkeitssyndrom hervorruft, das der Berliner Medizinprofessor und Mobilfunk-Kritiker Karl Hecht definiert hat — was sich seinerseits körperlich und psychisch auswirken kann. Derlei herzlose Zustände müssen gesamtgesellschaftlich und insbesondere innerkirchlich überwunden werden.
Das fordere ich hier als christlicher Ethiker. Meine außerplanmäßige Professur im Fach Systematische Theologie umfasst Dogmatik und Ethik, wobei beides für mich eng zusammenhängt. Die ethische Forderung nach mehr Menschlichkeit und konsequenter Achtung der Menschenwürde gründet für mich in der biblischen Botschaft von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Die christliche Kirche ist seit jeher dafür bekannt, sich besonders um Arme, Notleidende und Benachteiligte zu kümmern. Merkwürdigerweise haben es aber auch die Kirchen bislang weithin versäumt, sich der elektrosensiblen Mitmenschen anzunehmen — trotz der Aufforderungen in meinem Buch „Mythos Mobilfunk. Kritik der strahlenden Vernunft“ von 2012 sowie in etlichen Aufsätzen und Vorträgen (3).
Dieser sozialethische Ausfall in Theologie und Kirche sollte sich nicht länger fortsetzen. Denn in Wahrheit ist auch die Würde elektrosensibler Menschen unantastbar. Und die gründet tatsächlich in Christus selbst, der im Matthäusevangelium als der kommende Weltenrichter beteuert: Was ihr an einem meiner geringsten Brüder Gutes getan oder versäumt habt, das habt ihr an mir getan oder versäumt! (25, 40 und 45).
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Auf humorvolle Art informiert dazu „Oma Andonia“ in einem YouTube-Video über Funkwasserzähler: https://www.youtube.com/watch?v=gxwC_mBjlT8. Zu dauerfunkenden Stromzählern siehe Werner Thiede: https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/702623/Neues-Stromzaehler-Gesetz-will-Verbraucher-weiter-entrechten
(2) Vergleiche Werner Thiede: Elektrosensible Tiere? in: Paracelsus Magazin Nr. 3/2014, S. 10-12; eindrucks- und verdienstvoll ist hier das preiswerte Buch der Ärztin Cornelia Waldmann „Baumschäden durch Mobilfunkstrahlung. Beispielhafte Beobachtungen aus dem Zeitraum 2005-2025“ — auf über 280 Seiten finden sich zahlreiche einschlägige Farbfotos (vorläufig bereits bestellbar über info@druckerei-michael.de).
(3) Vergleiche Werner Thiede: Elektrosensibilität. Greifen beim Mobilfunk biologische Wirkmechanismen? in: Paracelsus Magazin 5/2015, S. 6-8. Zwei Hinweise noch: Von den Ärztinnen Christine Aschermann und Cornelia Waldmann-Selsam stammt das Taschenbuch „Elektrosensibel. Strahlenflüchtlinge in einer funkvernetzten Gesellschaft“ aus dem Jahr 2017. Ein Jahr später erschien zum Thema die Broschüre der Kompetenzinitiative e.V., die es kostenlos online gibt: https://kompetenzinitiative.de/wp-content/uploads/2025/09/KI_HEFT-11_Elektrohypersensibilitaet_2018.pdf.



