Die Europäische Union (EU) hat einen gemeinsamen Nenner: Russland zu ruinieren. Das ist es, was dieser Tage vom europäischen Projekt übrigblieb. In den Jahren zuvor geriet es an die Grenzen der Überlebensfähigkeit — der Austritt Großbritanniens war nur die Spitze des Eisberges. Schon vorher zeigte sich, dass die nach Osten aufgeblasene EU sich übernommen hatte. Sie ging als Bürokratiemonster ins neue Jahrtausend — zu jener Zeit war das noch der größte Vorwurf an die Union. Aus Brüssel kämen nur Verordnungen, teils groteske Vorgaben. Beliebtes Beispiel dafür: Die Gurkenverordnung. Schon damals hatte die EU ihren eigentlichen Geist verwirkt — aber um das Jahr 2000 herum ahnte das noch keiner.
Zu Beginn der 2000er-Jahre glaubte man gar, zarte Pflänzchen der Emanzipation von den Vereinigten Staaten zu vernehmen. Als die USA den Krieg gegen den Terror ausriefen, als Reaktion auf die Anschläge auf das World Trade Center, warnte die EU doch tatsächlich die Amerikaner vor einem völkerrechtswidrigen Krieg und plädierte dringend für ein UNO-Mandat — das war exakt heute vor 22 Jahren.
Damals war noch der Geist wach, der die EU einst ins Leben rief. Jahre später, nachdem eine Finanzkrise den Kontinent endgültig in Partikularinteressen zersplittete, ist davon nichts mehr übrig.
Die Emanzipation von den USA ist gescheitert — der alte Geist oder die Seele, die die Vereinigung Europas vorantrieb, ist längst vergessen. Denn einst war es die Wertschätzung des Friedens, die Europa einen sollte.
Das Haus Europa
Das vereinte Europa war zunächst eine Wirtschaftsunion. Sechs Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande und Luxemburg zur Montanunion zusammen — zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, wie das Projekt in Deutschland offiziell hieß. Der Name verrät schon, dass die Wirtschaft im Zentrum stand und nicht ein Europa für die Bürger. Damit etablierte man die ersten Zollfreiheiten und erleichterte den Wiederaufbau der zerstörten Länder. Im Osten Europas, hinter dem Eisernen Vorhang, beäugte man diese Entwicklung skeptisch. Dort hielt man die Montanunion für die Rüstungsschmiede der NATO. Heute könnte man es fast genauso behaupten: Die heutige Europäische Union (EU), Nachfolgerin der Union von 1951, ist mindestens der aggressive Flügel des Nordatlantikpaktes.
Wer das Scheitern der EU anspricht, vernimmt das heute immer wieder. Sie sei nicht gescheitert, sagen dann Kritiker, denn die EU war von Anbeginn an ein Wirtschaftszusammenschluss — dass später behauptet wurde, sie könne auch noch ein geeinter Kontinent für alle Bürger werden, sei erst später als Idee entstanden.
Das ist so richtig wie falsch. Die Idee eines europäischen Bundes, der über die wirtschaftlichen Motivationen hinausgeht, kam tatsächlich erst später auf. Dennoch war die Montanunion mehr als ein reiner Wirtschaftsklub. Die Idee der Gründungsväter war beseelt von einem Grundgedanken, der sich noch viele Jahre und Jahrzehnte in der EU bemerkbar machte — ein Motiv, das heute allerdings völlig abhandengekommen ist.
Die Rede ist von der Erfahrung des Krieges. Die Politiker, die sich 1951 auf eine solche Union verständigten, loteten selbstverständlich die wirtschaftlichen Interessen ihrer Nationen aus. Aber die Vorstellung, europäische Nationen würden nicht gegeneinander arbeiten, sondern eine gemeinsame Interessenslage ins Auge fassen, war nach dem verheerenden Weltkrieg ein Grundpfeiler für den europäischen Frieden. Die späteren europäischen Politiker standen in dieser Tradition. Nicht, weil die EU das begünstigte, sondern weil sie allesamt noch Kinder des Krieges waren. Helmut Kohl mag innerhalb Deutschlands in großen Teilen der Gesellschaft verlacht und nicht geliebt worden sein. Aber seine außenpolitischen Vorstellungen waren klar und wurden respektiert. Ebenso wie jene François Mitterrands, Michail Gorbatschows oder Margaret Thatchers. Mochten all diese Herrschaften auch ideologisch Welten trennen: In dieser Sache waren sie sich einig — Europa sollte keinen Krieg mehr sehen. Dafür wollten sie Politik gestalten.
Das Gemüt der US-Präsidenten war im Regelfall weit weniger empfindlich, wenn es um Krieg oder Frieden ging. Ohne Frage kämpften die Vereinigten Staaten gegen Hitler in Europa und gegen die Japaner im Pazifik. Und klar, danach folgten weitere Kriege: Korea etwa — oder Vietnam. Aber all das geschah fern der Heimat.
Während des Vietnamkrieges gelangten grauenhafte Bilder in die Wohnzimmer der Amerikaner. Die Presse war seinerzeit live dabei. Jedoch anders als heute, nämlich nicht eingebunden in die militärische Propagandamatrix.
Die US-Präsidenten tangierten die Bilder nur insofern, dass sie im Land für Unruhe sorgten. Deswegen wurde aus dem höchsten Mann der USA nicht gleich jemand, der umdachte, weil er den Krieg gesehen hatte. Die Europäer allerdings kannten den Krieg. Und zwar Bürger wie Mandatsträger. Das machte letztere bezüglich ihrer Politik verlässlich.
Wer hat es verbockt: Schröder oder Merkel?
Die europäische Idee und die Weiterentwicklung zu einer Währungsunion — so fehleranfällig die auch gelaufen sein mag — war beseelt von dieser einen Erfahrung: Nie wieder Krieg! Jacques Delors gilt als Architekt der modernen EU. In den 1980er- und 1990er-Jahren modifizierte er die europäischen Verträge. Mag ja sein, dass man im Rückblick von einer verwegenen Idee sprechen kann. Aber damals war für Delors das Erbe des Krieges noch präsent. Als junger Mann erlebte er Bombenangriffe, sein Vater kam kriegsversehrt und mit einem Hass auf die Deutschen heim. So etwas durfte sich nicht nur nicht wiederholen — es musste sich auch ändern, denn der Hass aufeinander war doch kein Zukunftsmodell. Delors ist letztes Jahr, also 2023, gestorben — man kann das auch symbolisch sehen.
Die rot-grüne Regierung, die sich von 1998 bis 2005 im Amt hielt, war innenpolitisch ein Fiasko. Gerhard Schröder hat die Sozialdemokratie dem Niedergang preisgegeben und mit der Agenda 2010 die Grundlage für die gesellschaftliche Spaltung gelegt. Außenpolitisch handelte er aber eher vorsichtig. Auch er erlebte den Krieg noch — und zwar nachdem er vorbei war. Als 1944 Geborener wusste er, der seinen Vater nie kennenlernte, weil er „im Feld zurückblieb“, wie es verbrämend hieß, dass Außenpolitik versöhnlich sein muss, um das Unvorstellbare nicht neuerdings zu beschwören. Die wirtschaftliche Annäherung an Russland war ebenfalls von dieser Betrachtung motiviert. Heute werfen das politische Berlin und seine Presse ihm diesen Schritt vor. Damit habe er gewissermaßen alles verbockt und einen Krieg wie den in der Ukraine erst möglich gemacht.
Schröder war der letzte Bundeskanzler, der noch das bedrückende Erbe des Weltkrieges in seiner Matrix verinnerlicht hatte. Mit Angela Merkel schwand der Grundgedanke, dass Europa eine Idee sei, die einst entstand, um weitere kontinentale Kriege zu verhindern oder zumindest doch arg zu erschweren.
Ihre Außenpolitik war zwar Flickschusterei, hin und wieder zögerte sie auch, weil sie wohl instinktiv glaubte, dass sie damit zu weit gehe. Aber als die Europäische Union in die Krise geriet, der Euro drückte und Griechenland zum Problem für deutsche und nordeuropäische Wirtschaftsinteressen wurde, gab sie die europäische Idee mehr oder weniger auf. Ab dann betrieb Berlin Hegemonialpolitik, mischte sich später in der Ukraine ein, unterschrieb Abkommen, die nicht ernst gemeint waren — wie in Minsk. Und die deutsche Kanzlerin öffnete die Grenzen unkontrolliert für Flüchtlinge und sprach es nicht mit den europäischen Nachbarn ab. Der Austritt Großbritanniens aus der Union war stark durch dieses Ereignis befeuert.
Angela Merkel wurde im eigenen Land dennoch als Eiserne Kanzlerin gefeiert. Die Bildzeitung karikierte sie im bismarckschen Stil. Die Mutti, wie sie viele Deutsche respektvoll-despektierlich nannten, wurde zur Mutter Europas, zur Schutzpatronin eines Kontinents, dem das Erbe des Zweiten Weltkrieges nun nach und nach verlorenging. Kohl war das gemeinsame europäische Haus eine Herzensangelegenheit. Die EU stand dafür, dass nie wieder ein älterer Bruder bei einem Fliegerangriff ums Leben kommen muss — so wie es ihm widerfahren ist, als er 14 Jahre alt war. Die beiden direkten Amtsvorgänger der Bundeskanzlerin hatten unmittelbare Verluste erlitten — Vater und Bruder starben in Kriegshandlungen. Man kann nun sicher niemanden zum Vorwurf machen, dass er nicht durch Kriegserfahrungen geläutert wurde — im Gegenteil, wenn die europäische Idee greift, ist es ja zwangsläufig so, dass irgendwann der Nachwuchs den Krieg nicht kennt. Erklären lässt sich damit aber viel — was die Politik heutiger Entscheidungsträger betrifft. Und leider auch, dass es kein Kollektivgedächtnis gibt.
Die Bruchbude Europa
Es war also nicht so verwunderlich, dass die Europäische Union exakt heute vor 22 Jahren noch vor einem völkerrechtswidrigen Krieg warnte. Und der deutsche Bundeskanzler ein Jahr später erklärte, sich auf Abenteuer im Irak nicht einlassen zu wollen. Kurz schien es, als emanzipiere sich Europa von den USA. Aber wer flog prompt nach Washington und entschuldigte sich dort? Richtig, es war Angela Merkel. Damit brachte sie sich in Position für eine künftige Rolle als Regierungschefin. Hat die Frau, haben ihre Parteigänger je daran gedacht, dass sie mit dieser Aktion Schröder seine Biographie vorhielten? Der damalige Bundeskanzler war sicher kein Pazifist, am Jugoslawienkrieg hat sich die Bundesrepublik unter seiner Führung völkerrechtswidrig beteiligt, wie er Jahre später zugab. Dennoch wirkten die Mechanismen noch, die eine solche Biographie zwangsläufig entwickelt.
Die Gnade der späten Geburt, von der Kohl schon Jahre zuvor sprach, mit Merkel kam sie an die Macht.
Die EU befand sich 2002 schon am Scheideweg, sie expandierte und definierte sich nun als Währungsunion — sie erschloss Märkte und der reiche Norden profitierte von der Währungsumstellung. Insbesondere Deutschland, das billige Märkte vor der Haustür hatte und munter Industrie und Unternehmen in die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes outsourcte. Noch war das Lohnniveau dort niedrig, noch wollten die Bürger dort „Made in Germany“ erstehen.
Die Europäische Union hatte vielleicht nie eine Seele, das klänge nun wahrlich zu pathetisch. Aber die Protagonisten, die Europa formten und durch deren Institutionen gingen, hatten durchaus noch eine gemeinsame Seele. Sie verstanden sich auf Basis der schlimmen Erfahrungen, die sie gemacht hatten — und das ganz einerlei, wie sie sich politisch sonst so verorteten.
Es waren Verantwortliche, die Lebensläufe vorzulegen hatten. Und keine Vitas, die getrimmt, gestrafft und beschönigt wurden. Ihre Lebensläufe offenbarten Entbehrung, Tod und Zerstörung. Das war der Geist des gemeinsamen Hauses Europa. Der gemeinsame Nenner, der Nationen zusammenwirken ließ, die sich nicht immer sympathisch waren und die unterschiedliche nationale Interessen im Blick hatten. Davon hat sich die EU, die heute von der elitären Ursula von der Leyen verwaltet wird, sehr weit entfernt. Selbstverständlich moniert auch sie einen völkerrechtswidrigen Krieg: Diesmal jenen in der Ukraine. Aber gleichzeitig verweigert sie jede Friedensmission, schaltet die Diplomatie ab. Die EU ist seelenlos geworden, die Macher an ihrer Spitze sind es jedenfalls.
Europa ist kein gemeinsames Haus mehr, sondern eine Bruchbude geworden. Die Briten flüchteten schon. Andere Nationen fremdeln stark mit der Idee eines geeinten Europas unter diesen Voraussetzungen — das europäische Parlament ist eine Fassade ohne Inhalt.
Der Krieg in der Ukraine ist vielleicht der letzte Kitt dieses Projektes, das keine hehren Gefühle mehr weckt. Solange man sich zusammen gegen Russland stemmen kann, scheint die Europäische Union noch geeint zu sein. Wenn diese Front aber fällt, wird die Union wieder auf sich selbst zurückgeworfen und ihr Erosionsprozess wird vermutlich voranschreiten.
Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die EU sich heute mittels eines Krieges am Leben hält, wo sie doch ein Kind des Gedankens ist, dass Krieg etwas ist, was nie wieder jemand erleben sollte.
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