Wieso ich dauernd vom Diktator spreche? Nun ja, ich bin nun mal Deutscher. Mein Wort hat Gewicht. Es ist das Wort eines Menschen, der aus einem Volk stammt, das für sich in Anspruch nimmt, moralisch mit allen Wassern gewaschen zu sein. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ — dieser berühmte Satz stammt aus der Feder des deutschen Lyrikers Emanuel Geibel. Im Jahr 1861 formulierte er ihn in einem Gedicht. Geibel soll ihn idealistisch gemeint haben: So betrachtete er den Fleiß und den Tiefsinn als deutsche Tugenden — später rissen sich deutsche Chauvinisten den Satz unter den Nagel und verstanden ihn als Lehrauftrag, die Welt mit allem Deutschen zu beglücken. Auch wenn Germanisten Geibel zuweilen in Schutz nehmen, in seiner Aussage war durchaus schon begründet, was das Deutsche seit langer Zeit ausmacht und was vor noch längerer Zeit vorbereitet wurde.
Deutsche Moral auch für mongolische Nomaden
Das Gedicht, in dem der Satz vorkommt, heißt übrigens „Deutschlands Beruf” — und auch wenn seinerzeit damit „die Berufung” gemeint war, so möchte man heute hinausschreien, dass dieser Titel mittlerweile noch viel passender klingt als damals: Denn heutzutage ist es der Beruf des Deutschen in der Welt geworden, anderen Völkern klare Ansagen zu machen — zuletzt nannte man das wertebasierte Außenpolitik. Wahlweise auch feministische Außenpolitik, weil Feminismus schließlich immer stark wertebehaftet ist. Geibel war Kind einer Entwicklung, die die Deutschen stringent dieser Rolle im Weltentheater zuführte — als die sich endlich aus ihrem duodezfürstlichen Flickenteppich erhoben.
Die Frage muss erlaubt sein: Warum sind es immer wieder die Deutschen, die andere Völker von oben herab belehren? Die Briten verwalteten ein Weltreich, hier und da auch mit großer Brutalität — aber den Völkern, die sie in ihr Dominion aufnahmen, erklärten sie nicht, wie sie zu leben haben. Nicht anders die Franzosen — auch sie waren keine sanftmütigen Herren. Doch am französischen Wesen sollten die Völker des französischen Weltreiches nicht unbedingt genesen. Für Briten wie Franzosen standen die Verwaltung und freilich auch die Ausbeutung von Ressourcen im Vordergrund. Die Frage stellt sich also durchaus: Wie wurde aus den Deutschen ein Volk von Besserwissern, Moralaposteln und — wenn sie besonders aufgepeitscht sind — ein Rudel von Eiferern?
Der Protestantismus ist ein Kind aus deutschen Landen und barg bereits Grundelemente, die dem gemeinen Zeloten gut anstanden.
Martin Luther prägte das „deutsche Denken” umfangreich, sein Widerstand gegen einen sittenlosen Katholizismus mündete in strikte Prinzipien: Konnte der reuige Katholik auf die Gnade Gottes setzen, galt für Luther und seine Auslegung nun, dass der Mensch einer inneren Wahrhaftigkeit ausgesetzt sei, die zur moralischen Korrektheit verpflichte — die Gnade musste sich jeder durch einen richtigen, später auch ökonomisch erfolgreichen Lebensstil verdienen. So entstand ein Ethos aus Pflicht, Disziplin und moralischer Selbstkontrolle, in welchem Prinzipien statt Umstände wirkten.
Dem Altgläubigen war das Sündhafte der menschlichen Existenz bewusst, auch mit besten Absichten konnte er auf Abwege geraten — jene aber, die dem neuen Glaubensbild anhingen, folgten einer anderen Betrachtung: Sie mussten sich die Aufnahme in den Himmel durch eine strikte Einhaltung ethischer Standards verdienen — Calvin machte daraus später eine Prädestinationslehre, die noch weiterging: Wer im Leben erfolgreich war — auch pekuniär — ward von Gott bereits vorher auserwählt gewesen und zeigt durch sein irdisches Leben, dass er auf dem „rechten Weg” ist.
Das 18. Jahrhundert zwang auf deutschem Boden neue Denkrichtungen in dieses protestantische Korsett. Der deutsche Idealismus, zu dem sich auch Immanuel Kant zurechnen lässt, glaubte an einen apriorischen Ursprung der Sittlichkeit — sie ist in jedem Menschen angelegt, sodass man annehmen konnte, dass moralische Prinzipien überall und für alle Menschen zu gelten haben. Diesen Universalismus dehnten andere Vertreter des Idealismus aus. Für Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel konnte der deutsche Geist nur eine Aufgabe haben: Die Menschheit zur Vernunft führen. So wuchs aus einer eher deutschen Moral ein ethischer Kompass, der anwendbar sein sollte für alle Völker der Erde. Sie war gut für die Deutschen, für europäische Nachbarländer und mongolische Nomaden. Die deutsche Vernunft war der Maßstab, an dem sich der Weltgeist angeblich orientieren sollte.
Vom Pflichtstaat zum Moralperfektionsstaat
Mit der Niederwerfung Napoleons und seines um sich greifenden Frankreichs, erwuchs auf deutschem Territorium — noch immer ein Flickenteppich — eine Romantik, die sich letztlich zu den militärischen Allüren des europäischen Nachbarlandes als überlegen wähnte. Der Kriegskaiser war unterlegen, die Kulturnation der Deutschen gehörte zu den Siegern — und das, obgleich man nicht so sehr ein militärisches, sondern eher ein kulturelles Volk war. Geist und Bildung hatten über Kanonen und Kavallerie obsiegt. Natürlich traf das so nicht zu, die Preußen setzten sich schließlich zusammen mit den Alliierten im Kampf gegen das napoleonische Frankreich durch, aber die deutschen Romantiker deuteten das als Sieg des Intellekts über die Kraft, denn der Krieg galt als aufgezwungen und so als eine Form der Notwehr — diese Haltung führte zu einer gewissen Überheblichkeit gegen andere Völker.
Preußens Glorie nahm mit dem Ende des französischen Hegemonialanspruches stark an Fahrt auf. Der preußische Staat adaptierte die deutsche Romantik auf seine Art: Die preußische Tugendhaftigkeit und Militärkraft etablierte ein wachsendes Gemeinwesen, das ab 1871 als Deutsches Reich fungierte und in dem Pflicht, Ordnung und Prinzipientreue zu Grundpfeilern des deutschen Wesens erkoren wurden.
In diesem Preußen wirkten all die historischen Selbstüberhöhungsversuche mit, die Deutschland angeblich zu einem überlegenen, mit der eigentlichen Wahrheit ausgestatteten Volk erklärten. Von hier war der Weg zu den Exzessen des Nationalsozialismus nicht mehr weit — und in der Nachkriegszeit ab 1945 wurden zwar jene Verbrechen verurteilt, aber der moralische Perfektionismus, der schon die Altvorderen zu mörderischer Politik zwang, rettete sich in die Bundesrepublik hinüber.
Zunächst schüchtern, geläutert durch die Geschichte, traute sich die Bundesrepublik später selbstbewusster an den Komplex heran, den sie Aufarbeitung und Wiedergutmachung nannte. Nun sollte die Geschichte zu „einem Ort” werden, aus dem Menschen individuell lernen könnten — und das für alle Zeit. Diese vollkommen überzogene Vorstellung scheiterte, wie man dieser Tage sehen kann: Vom deutschen Boden könnte eben doch wieder ein Krieg ausgehen — wieder mal ein als aufgezwungen angenommener Krieg. Synchron zu dieser Entwicklung blieb aber eine Erinnerungskultur erhalten, die stark überzogen daherkommt und im moralisierenden Ton des Besserwissers klarmachen will, dass die Deutschen einen globale Vorbildfunktion haben — eben nicht nur, was die Aufarbeitung historischer Verbrechen angeht, sondern in allen Dingen, die dazu gedacht sein könnten, der Welt weiteres Leid zu ersparen.
Ob nun Migrationspolitik oder Klimawandel, ob Ukrainekrieg oder deutsche Staatsräson in Israel: Die Debatten sind stark polarisiert und sie werden im unmenschlichen Ton ausgefochten — und immer schwingt mit: Die Deutschen müssten in allen Fragen, die diese Welt beschäftigen, auf der richtigen Seite stehen. Denn diese Deutschen hätten schon viel Leid produziert auf dem Erdenrund — damit müsse endgültig Schluss sein. Daher sind alle Themenfelder, die sich auftun und die diskussionswürdig sind, immer auch von dieser geläuterten deutschen Nachkriegsrhetorik getragen und jeder, der ihr nicht folgen möchte, sei als ein Nachfolger jener Rotten anzusehen, die im Namen Deutschlands unsägliches Grauen produziert hätten. Es hat sich ein Hang zur Moralperfektionierung etabliert, der jene Hybris in sich trägt, die schon Idealismus und Romantik kannten — das deutsche Wesen: Es ist mal wieder hysterisch und glaubt auch noch, die Welt würde diesen Hang zum Überdrehten gerne auch für sich in Anspruch nehmen.
Land der Dichter und Henker
Der Spanier Jorge Semprún war Mitglied der Kommunistischen Partei und im Widerstand gegen die Nationalsozialisten in Frankreich — aus diesen Gründen landete er im Konzentrationslager Buchenwald. Semprún hatte — nicht nur weil er als Kommunist eine Nähe zu Karl Marx verspürte — ein Faible für die deutsche Hochkultur, saß nun aber in einem solchen Lager ein. Und dies nicht etwa in irgendeinem Lager, sondern in jenem Buchenwald, das seine Baracken über Weimar errichtet hatte. Ganz in der Nähe ging einst Deutschlands größter Dichter Johann Wolfgang von Goethe mit Johann Peter Eckermann spazieren — oder was heißt „ganz in der Nähe”? Es war genau hier, denn mitten im Lager stand der verkohlte Goethe-Baum, in dessen Rinde der Dichter und sein Begleiter die Initialen ihrer Namen eingeritzt haben sollen. Semprún verarbeitete seine Lagererinnerungen 1980 in seinem Roman „Was für ein schöner Sonntag!” und ging dabei unter anderem der Frage nach, wie ein so gescheites Volk, das der Welt so viel Kultur bringen konnte, gleichzeitig ein solches Menschheitsverbrechen anzurichten vermochte.
Womöglich schließt sich das aber nicht aus, die neue Vernunft mit der die Welt seinerzeit vermessen und „wissenschaftlich” ausgelotet wurde, ließ gar unmenschliche Schlüsse zu. Schließlich war die Genetik eine Wissenschaft, war Teil jener Vernunft, deren Träger und Verfechter sich schon seit Fichte und Hegel der deutschen Sprache bedienten. Wieso sollte man also zurücktreten, wenn diese vernunftbasierte Wissenschaft erkannte, dass es unwertes Leben gibt, das die Menschheit behindert? Sicher, nicht jede Raserei und jeder Eifer muss in einem Lager, muss in der totalen Vernichtung derer münden, die aus Vernunftgründen weniger wert sein sollen oder die sich offenbar der Belehrung durch den deutschen Weltversteher entziehen. Aber dass ein Volk von Kultur letztlich im Wahn der eigenen Auserwähltheit ebenjener Kultur eine Abfuhr erteilt und ganz unkultiviert vorgeht: Das erklärt sich damit, dass bei Betrachtung dessen, was auf deutschem Boden an Ideologie fabriziert wurde, ein Leitgedanke immer zu kurz kam: Die Gelassenheit.
Die Überspanntheit ist als Attribut immer präsent, wenn man außerhalb Deutschlands über das deutsche Wesen spricht. Fünfe gerade sein lassen: Eine deutsche Redensart zwar, die immer aber auch mit leichter Verachtung ausgesprochen wird — denn seiner Pflicht zur Perfektion nicht nachzukommen, den Wert der Schlamperei und des Chaos zu verkennen und als Makel zu betrachten: Das ist so tief in die deutsche Matrix eingraviert, dass es schier unmöglich erscheint, Debatten mit der nötigen Ruhe und Offenheit auszufechten.
In der Diskussion steht daher stets alles auf dem Spiel: das Glück der Erde und die Vernichtung durch jene, die das deutsche Wesen nicht als den Weg zum Glück anerkennen möchten. Demut: Ein Wunder, dass das Deutsche überhaupt ein Wort für die Einsicht kennt, wonach es etwas Höheres oder Unerreichbares geben könnte. Denn das Höchste und für viele Unerreichbare ist doch — das deutsche Wesen!
In den letzten Jahren hat dieser Hang zur extrovertierten Belehrung anderer Völker wieder stark zugenommen. Ungeniert erklärt das zeitgenössische Deutschland den Nationen dieser Erde, wie sich ethisch aufzustellen ist, um auf den rechten Pfad zu gelangen. Diese neue deutsche Genesungsinitiative geschieht, während parallel die deutsche Wirtschaft darbt und das deutsche Ingenieurswesen in einer tiefen Krise steckt. Es ist, als ob man jetzt erst recht auf die Moral setzt, weil die Beiträge zur Weltverbesserung nicht mehr in Form von Waren und Maschinen exportiert werden können. Nun muss es die Moral richten — der letzte Exportschlager der Deutschen. Im Grunde aber „eine Ware”, die traditionell schon immer gerne aus Deutschland ausgeführt wurde. Denn die Deutschen wussten immer sehr genau, wie andere zu leben haben — nur wie sie selbst leben wollen, das haben sie in der heutigen Zeit längst verlernt.
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