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Westliche Verdrängungskünstler

Westliche Verdrängungskünstler

Die USA und Europa sind gut darin, in der Welt großen Schaden anzurichten, und schlecht darin, ihre Verbrechen einzugestehen. Exklusivauszug aus „Hegemonie oder Untergang“.

Die von den USA mittels des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UN) von 1990 bis 2003 gegen den Irak verhängten Wirtschaftssanktionen verursachten die bis heute schlimmste humanitäre Katastrophe, die jemals durch die aggressive US-Sanktionspolitik und die damit verbundenen UN-Maßnahmen zur Sicherung der herrschenden Weltordnung verursacht wurde (1). Unter das Importverbot fielen Nahrungsmittel, Milchpulver, Impfstoffe, viele wichtige Medikamente, Waschmittel, Wasserpumpen, Stromgeneratoren, Kleidung, Landwirtschaftszubehör, Reifen und Ersatzteile und sogar Kinderfahrräder. Durch Unterernährung und durch Wasser-, Sanitär- und Impfstoffmangel starben dabei nach UN-Berichten und Studien mindestens 500.000 Kinder unter fünf Jahren (2).

Zudem hat der Irak weltweit eine der höchsten Kinderkrebsraten durch US-Bombenangriffe mit Uran-Geschossen. Als die damalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Madeleine Albright, 1996 in einem Interview gefragt wurde, ob es den Preis wert gewesen sei, dass durch diese Sanktionen mehr Kinder getötet wurden als in Hiroshima, antwortete sie: „Es ist diesen Preis wert“ (3). Diese wenigen Worte geben der zur erbarmungslosen Grausamkeit gesteigerten Menschenverachtung, die für die Gewalt des Westens kennzeichnend ist, symbolischen Ausdruck. Unter westlichen Führungseliten genoss Madeleine Albright höchstes Ansehen. Barack Obama pries sie 2012 für ihren „Mut und ihre Härte“, George W. Bush rühmte, sie habe „den amerikanischen Traum gelebt“ (4). Exklusivauszug aus „Hegemonie oder Untergang: Die letzte Krise des Westens“.

Beim Umgang mit den genannten Fakten stoßen wir auf ein Phänomen, das für das westliche Denken charakteristisch ist. Harold Pinter hat es 2005 in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises in prägnanter Verdichtung formuliert: „Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemanden“ (5). All diese ideologiediskrepanten Fakten sind im Bewusstsein des weit überwiegenden Teils westlicher Bevölkerungen vollständig bedeutungslos. Aus ihnen lassen sich daher keinerlei Schlussfolgerungen ziehen. Erst recht keine, die in eklatantem Widerspruch zur westlichen Ideologie stehen.

Die westliche Ideologie zielt nicht nur darauf ab, Menschen moralisch apathisch zu machen, sondern sie auch gedanklich unfähig zu machen, aus Fakten angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen. Ihre ideologischen Überzeugungen, dass der Westen unter Leitung der USA „die größte Kraft der Welt für Frieden und Freiheit, für Demokratie, Sicherheit und Wohlstand“ (6) sei, darf durch keinerlei Fakten erschütterbar sein.

Systematische Gräueltaten werden einfach, im Widerhall der Geschichte, zu Ausnahmen menschlicher Schwächen erklärt.

Zum Fundament dieser Ideologie gehört die Unterscheidung zwischen „irrelevanten Fakten“ und „relevanten Fakten“. Irrelevante Fakten sind solche, die auch dann nicht wahr sind, wenn sie wahr sind. Sie sind also völlig bedeutungslos und bereiten niemandem Kopfschmerzen. Relevante Fakten hingegen fügen sich nahtlos in die herrschende Ideologie und sind somit auch dann wahr, wenn sie nicht wahr sind. Wer sich erst an derartige Vernunftwidrigkeiten gewöhnt hat, kann — der Traum aller Mächtigen — an alles gewöhnt werden. Nichts also vermag die vorherrschende moralische Gleichgültigkeit zu erschüttern. Die westliche Ideologie hat sich in einzigartiger Breite und Tiefe gegen Fakten immunisiert.

Verteidiger der westlichen Weltordnung werden selbstverständlich einwenden, dass die angeführten wenigen Beispiele für die Kontinuität westlicher Gewalt gegen Zivilisten höchst „einseitig“ seien. Bei diesem reflexartig erhobenen Vorwurf geht es freilich nicht darum, ob die vorgetragenen Fakten der Wahrheit entsprechen. Er bezieht sich vielmehr darauf, dass der Darstellung etwas Entscheidendes fehle, das für eine Beurteilung relevant sei. Was also müsste man hinzufügen, um die Darstellung „ausgewogener“ zu machen? Schon die Forderung ist grotesk.

Wenn eine Person einen Mord begangen hat, würde wohl niemand in gesunder Geistesverfassung auf die Idee kommen, einen solchen Mordvorwurf als „einseitig“ zurückzuweisen, weil dabei unbeachtet geblieben sei, wie viele Menschen diese Person nicht ermordet oder wie viel Geld sie an die Armen gespendet habe.

Oder weil nicht berücksichtigt worden sei, dass ein anderer viel größere Untaten begangen habe. Gleiches gilt für Staaten: Für systematische brutalste Gewalt gegen Zivilisten gibt es keinerlei Art der Rechtfertigung und keinerlei Form einer moralischen Relativierung. Daher gibt es auch keine Möglichkeit, ihre Darstellung durch einen zusätzlichen Verweis auf „gute“ Taten oder auf noch schlimmere Taten anderer „ausgewogener“ zu gestalten. Der Vorwurf der Einseitigkeit dient also zumeist der Verteidigung des Status quo. Er ist zudem heuchlerisch, weil er nur gegen Kritiker eigener Untaten vorgebracht wird, während eine Darstellung von Untaten des „Feindes“ natürlich nach anderen Maßstäben zu bewerten sei.

Heute hat der Westen die Rhetorik für seine Raubzüge weitgehend von allem bereinigt, was in der Öffentlichkeit Anstoß erregen könnte. Um für seine Gewalt eine möglichst breite Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen, hat er ökonomische Gewalt nahezu unsichtbar gemacht und die Methoden einer moralistischen Verbrämung seiner organisierten rohen Gewalt stetig weiter verfeinert. Seine Haltungen und seine Taten indes weisen seit seinen Anfängen eine große Kontinuität auf, wie gegenwärtig vor allem der israelische von einem „Untermenschen“-Diskurs (7) getragene Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser in Gaza bezeugt.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Zum Irakkrieg siehe zum Beispiel Nathan J. Robinson und Noam Chomsky, The Worst Crime of the 21st Century. Current Affairs, 12 May 2023. Online unter: https://www.currentaffairs.org/news/2023/05/the-worst-crime-of-the-21st-century, abgerufen am 05.08.2025.
(2) Siehe Gordon (2010, Seite 87); siehe auch zum Beispiel https://www.welt.de/debatte/kommentare/article9783521/Sanktionen-Der-vergessene-Krieg-gegen-Iraks-Zivilbevoelkerung.html, abgerufen am 05.08.2025.
(3) Siehe: https://web.archive.org/web/20220321210349/https://www.youtube.com/watch?v=FbIX1CP9qr4, abgerufen am 5. August 2025, siehe auch Gordon (2010, Seite 157).
(4) Siehe: https://web.archive.org/web/20220323213841/https://www.theguardian.com/usnews/2022/mar/23/madeleine-albright-tributes-obama-bush-blair, abgerufen am 5. August 2025.
(5) Siehe Fußnote 1, Seite 4.
(6) „the world’s greatest force for peace and freedom, for democracy and security and prosperity“, so 1996 der damalige US-Präsident Bill Clinton, https://www.jewishvirtuallibrary.org/president-clinton-speech-to-the-aipac-policy-conference-april-1996 , abgerufen am 5. August 2025.
(7) Siehe zum Beispiel: https://web.archive.org/web/20240313080703/https://en.wikipedia.org/wiki/Animal_stereotypes_of_Palestinians_in_Israeli_discourse, https://archive.is/GKzH5, abgerufen am 5. August 2025.

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