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Wirtschaft übernimmt Schule

Wirtschaft übernimmt Schule

Lauter kleine Ackermänner. Im Ländle gibt es die kapitalistische Ideologie neuerdings als Unterrichtsfach.

Herr Hedtke, Vorstöße dahingehend, ein separates Unterrichtsfach „Wirtschaft“ einzuführen, gab es schon vor Jahrzehnten, aber irgendwie wurde nie etwas daraus. Jetzt ist es also soweit: An allgemeinbildenden Schulen in Baden-Württemberg gehört ab diesem Schuljahr das Fach „Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung“ (WBS) zum Lehrplan. Den Anfang machen zunächst die Haupt- und Werkrealschulen sowie die Real- und die Gemeinschaftsschulen, die Gymnasien sollen ein Jahr später folgen. Nun heißt es ja, was lange währt, wird endlich gut. Oder gilt das in diesem Fall nicht?

Ja, für die Unternehmen, Wirtschaftsverbände und wirtschaftsnahen Stiftungen wurde es endlich gut! Jahrelang haben sie Kampagnen lanciert und in Lobbying investiert, jetzt ernten sie die Früchte. Denn das Schulfach „Wirtschaft“ ist ein Projekt im Interesse der Wirtschaft, genauer der Unternehmen und Unternehmer.

Und keines im Interesse der Schüler?

Jedenfalls nicht im Interesse nach Aufklärung und Mündigkeit strebender Schülerinnen und

Schüler. Schauen wir uns die zugehörigen Lehrpläne an. Dort wird die Unternehmerpersönlichkeit gepriesen, Beschäftigte haben dort keine Persönlichkeit. Nachhaltigkeit ist darin Aufgabe allein der Verbraucher, nicht der Industrie und nicht der Politik. Ökonomische und politische Machtverhältnisse spielen auch keine Rolle. Mächtig sind nur die Konsumenten, ansonsten erscheint die Wirtschaft als eine machtfreie Zone: keine Konzerne, keine Global Player, keine Marktmacht, keine Konvertierung wirtschaftlicher in politische Macht und Lobbyismus gibt es auch nicht. Gewerkschaften braucht man für den sozialen Frieden, nicht für Verteilung und Gerechtigkeit. Kurzum, die Leitlinie lautet Individualisierung, Verharmlosung und Entpolitisierung.

Konzerne diktieren Bildungspolitik

Sie sprachen die Lobbyarbeit von Unternehmerverbänden an, die letztlich zum Gelingen des Projekts beigetragen hat. Wie ist das abgelaufen?

Eingefädelt wurde all das von den Kammern unter Federführung der Stuttgarter Dieter von Holtzbrinck Stiftung und mit Hilfe ihres langjährigen Vertrauensmanns im Kultusministerium, natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dann hat die Vorgängerregierung aus Grünen und SPD die Hinterzimmerentscheidung gegen den Widerstand von vielen Fachleuten umgesetzt. Das wurde noch mit einem öffentlichen Anhörungsverfahren bemäntelt, das aber fast völlig folgenlos blieb.

Holtzbrinck-Medien wie Handelsblatt, Wirtschaftswoche und Die Zeit fahren seit Jahren journalistische Kampagnen für ein Soloschulfach „Wirtschaft“. Baden-Württemberg ist ein Exempel dafür, wie sich Parlament und Regierung die Bildungspolitik von Konzernen, Wirtschaftsverbänden und Unternehmensstiftungen aus der Hand nehmen lassen.

Sie hatten bereits vor zwei Jahren beanstandet, die Bildungsplanentwürfe orientierten sich an einem Auftragsgutachten des Unternehmerlagers. Was stand da drin?

Den Wirtschaftsverbänden kam es darauf an, den Konsens über eine sozioökonomische, sozialwissenschaftlich ausgerichtete Bildung aufzukündigen. Sie setzten auf eine rein wirtschaftswissenschaftliche Ausrichtung und wollten damit auch der Kampagne für ein Separatfach neuen Schub geben. Dabei streuten sie die Spekulation, die ökonomische Bildung würde sich verbessern, wenn man sie von der politischen und gesellschaftlichen Bildung abtrennt. Man wollte einen privilegierten Ankerplatz für unternehmerische und wirtschaftspolitische Partikularinteressen. Der Wunsch wurde jetzt erfüllt. Was damit in und mit der politischen Bildung angerichtet wird, ist egal.

Im Zentrum dieses Gutachtens stand, dass Schülerinnen und Schüler die Denkmuster und Modelle des Mainstreams der Wirtschaftswissenschaften erlernen, akzeptieren und einüben sollen. Alternative Ansätze aus den Wirtschaftswissenschaften kamen so gut wie gar nicht vor, Konzepte aus anderen Sozialwissenschaften fehlten völlig. Ökonomisches Denken wurde auf wirtschaftliche, das heißt monetäre Effizienz nach dem Kosten-Nutzen-Kalkül als wichtigstem Bewertungsmaßstab fokussiert. Das Grundmodell umfasste die Dimensionen Individuum, wirtschaftliche Interaktion und Ordnung/System und ignorierte die Dimensionen Gesellschaft und Politik. Dass individuelle wirtschaftliche Entscheidungen immer in soziale Kontexte eingebettet sind – man denke an Arbeit und Konsum –, das spielt in dem Konzept keine Rolle. Es kennt weder Organisationen noch Institutionen und fixiert sich auf die schlichte Unterscheidung Staat versus Markt. Mit diesem Instrumentarium kann man sich kein realistisches Bild von Wirtschaft machen.

Globalisierung als Naturgewalt

Trotzdem hat es die Landesregierung aus Grünen und CDU bzw. deren Vorgängerin aus Grünen und SPD eins zu eins übernommen?

Nicht eins zu eins. Übernommen wurde aber das Grundmodell. Geblieben ist auch die wissenschaftlich einseitige Grundrichtung samt der Marginalisierung von wissenschaftlichen und politischen Alternativen. Die Lehrpläne ergänzen allerdings Aspekte wie Unternehmerpersönlichkeit, Nachhaltigkeit und „nichteigene Anliegen“. Anders als das Gutachten betonen sie durchaus altbekannte wirtschaftspolitische Kontroversen, etwa Angebots- und Nachfrageorientierung, Pluralität und das Denken in Alternativen. Das muss man wirklich anerkennen. Allerdings setzen sie das kaum in die konkreten Kompetenzen um, an denen die Lehrkräfte den Unterricht orientieren. Es bleibt also bei curricularen Absichtserklärungen. Je konkreter es wird, desto mehr verschwinden Alternativen und kritischer Vergleich.

Welche Alternativen fallen unter den Tisch? Können Sie das anschaulich machen?

Zum Beispiel: Die selbstbewusste und durchsetzungsfähige Arbeitnehmerin, die keine Leistung ohne Gegenleistung bringt, ist genau so wenig gefragt wie die kritische, strikt auf ihren Rechten bestehende Konsumentin, die die Konzerne nervt und von der Politik eine wirksame Beschränkung der Übermacht der Anbieter, zum Beispiel auf den Finanzmärkten, verlangt.

Ich fürchte, das Fach „Wirtschaft“ ist gedacht als ein Bollwerk gegen Skepsis und Kritik, gegen Pluralismus und Alternativen, gegen demokratische Debatten über die Gestaltung von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Gegen Nachdenken über die katastrophalen Kosten, die Konzerne in kapitalistischen Marktwirtschaften verursachen. Verdeckt werden sollen auch die Verschwendung von Ressourcen, die Ineffizienz dieses rücksichtslosen „Wirtschaftens“ und das systemische Abschieben der Kosten auf Dritte. Die Globalisierung wird zur Naturgewalt erklärt, um zu verdunkeln, dass die herrschende Politik über die Verteilung ihrer positiven und negativen Folgen entscheidet und meist einseitig Partei für die Interessen von Konzernen und Kapitaleigentümern ergreift. Abgelenkt werden soll auch von der Politik seltener Steuerbetriebsprüfungen und üppiger Steuerprivilegien, von exzessiver Steuerverkürzung und skrupelloser Steuerhinterziehung durch viele Unternehmen und Kapitaleigentümer sowie von verbreiteter Korruption und Wirtschaftskriminalität.

Lernen mit Denkschablonen

Das klingt so, als sollten die Schuldkinder quasi planmäßig zur Unmündigkeit, zur Kritikunfähigkeit, zum Konformismus erzogen werden. Manch einer würde Sie da wohl zum „Verschwörungstheoretiker“ stempeln...

Es geht um die Legitimation eines Wirtschaftssystems, das sich mehr und mehr selbst delegitimiert. Die Fiktion der Leistungsgesellschaft muss gegen alle empirische Evidenz von leistungslosen Einkommen und Begünstigung der bereits Begünstigten einerseits, Reallohnstagnation, Aufstiegsblockaden und Diskriminierungen andererseits aufrechterhalten werden. Ein Schulfach „Wirtschaft“ ist nötig, um die herrschende Ideologie und die immer ungleicher werdende Reichtums-, Risiko- und Chancenverteilung zu verteidigen und deren vermeintliche Überlegenheit und Alternativlosigkeit in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen zu verankern. Ziel ist die Festigung der Vorherrschaft der wissenschaftlichen und politischen Konzepte, die dem kapitalistisch-marktgläubigen Weltbild entsprechen und den Interessen der Unternehmen dienen. Dafür braucht man keine große Verschwörung, es reicht effektive politische Strategie.

Was müsste in Ihren Augen eine sozioökonomische Bildung im besten Sinne leisten?

Sozioökonomische Bildung ist dezidiert subjektorientiert, die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen, ihre Erfahrungen, Erwartungen und sozioökonomischen Interessen stehen im Zentrum. Sie entwickeln ihre eigenen Positionen zu wirtschaftlichen Themen. Problemorientierung und Multiperspektivität sind die Prinzipien des Unterrichts, nicht das Einüben vorgefertigter Denkschablonen und das reibungslose Einordnen in vorgegebene Verhältnisse. Wissenschaftsorientierung ist die Maxime, ein kritisch prüfender und skeptischer Habitus ist das Ziel, Zuwendung zur Empirie das Leitinteresse. Es geht um die Wirtschaftswirklichkeit, nicht um Wunschvorstellungen von einer angeblich optimalen Ordnung durch Märkte. Deshalb stehen nicht nur die Alltagserfahrungen, sondern auch die großen sozioökonomischen Problemlagen und Fragen der Zukunftsgestaltung im Mittelpunkt des Unterrichts.

Wenn Sie sagen, Wirtschaft lasse sich nicht isoliert betrachten: Welche anderen Disziplinen müsste eine umfassende sozioökonomische Erziehung in der Schule einbeziehen?

Wollte man ein wirklich aufklärendes Fach schaffen, dann müsste das interdisziplinär ausgerichtet sein. Man braucht dazu Soziologie, Politik, Recht und Psychologie, um nur die wichtigsten zu nennen. Beispielsweise ist der allergrößte Teil des wirtschaftlichen und politischen Handelns rechtsförmig. Warum ruft niemand nach einem Schulfach „Recht“? Nicht weil es keinen pädagogischen Sinn machen würde, sondern weil es keine Lobby dafür gibt. Auch Verbraucherbildung verlangt das glatte Gegenteil von einem Schulfach „Wirtschaft“, dessen Lehrkräfte nur eine Disziplin studieren, nichts als den orthodoxen Mainstream der Volkswirtschaftslehre kennen und zu dessen unerschütterlichem Glauben an „den Markt“ konvertieren.

Dumm durch Dönerforschung

Was ist so schlecht daran, wenn Kinder und Jugendliche wissen: „Was kostet ein Döner und warum?“ So hat Spiegel online am 4. September zum Thema getitelt und im zugehörigen Beitrag weitere Denkanstöße gegeben: „Warum ist ausgerechnet das Wunsch-Handy immer so teuer? Und ist Sparen wirklich so eine gute Idee?“ Gehört nicht auch Alltagstauglichkeit zu den Anforderungen von Wirtschaftserziehung?

Für solche Fragen braucht man doch kein gesondertes Schulfach. Sie werden seit Jahrzehnten in den Fächern Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Politik, Politik/Wirtschaft oder Sozialwissenschaften behandelt. Aber nicht als Lebenshilfe für den Handykauf, sondern als Exempel, an denen man allgemeine Einsichten in Wirtschaft gewinnen kann. Als Beispiele, anhand derer man verstehen lernt, wie das eigene Leben, die eigenen Chancen und Hindernisse, systematisch mit Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zusammenhängen.

Dönerforschung, Handykunde und Sparberatung sind dagegen in der Schule ziemlich fehl am Platz und leisten nur der Verdummung Vorschub. Man lässt die Schüler fleißig ihren individuellen Alltag optimieren und lenkt sie so von den wichtigen kollektiven Fragen zu Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ab. Daraus folgt dann Entpolitisierung …

…ein Phänomen, das in Sonntagsreden von Politikern immer wieder gerne beklagt wird. Die Leute sollen doch bitteschön wählen gehen und über ihr Schicksal mitbestimmen.

Ja, aber dann sorgen dieselben Redner dafür, dass Politik aus der Schule verschwindet. Dabei kommt es doch gerade auf die Politik in der Wirtschaft an. Das Leben von vielen liefe besser, würden die Interessen von Beschäftigten, Konsumenten und Kleinanlegern konsequent vertreten. Gesetze und Institutionen in ihrem Interesse würden ihren Alltag leichter machen, die Risiken begrenzen und sichern, dass sie mehr Gegenwert für ihr Geld erhalten.

Was erleben viele Bürgerinnen und Bürger stattdessen? Stagnierende Real- und Niedriglöhne, Leiharbeit, Befristung der Arbeitsverhältnisse, Unsicherheit und Mehrfachjobs, Kleinstrenten und Arbeitslosigkeit sowie mangelnde Möglichkeiten zum Aufstieg. Außerdem: Systematische Bevorzugung von Produzenteninteressen, Komplizenschaft staatlicher Stellen mit Landwirtschaft, Industrie und Finanzindustrie, geduldete Desinformation der Verbraucher, Obstruktion gegen klare Qualitäts- und Gesundheitsinformationen auf Konsumgütern, explodierende Mieten und so weiter.

All das gehört in ein Schulfach, das Politik, Wirtschaft und Gesellschaft umfasst. Es sind doch vor allem die Folgen politischer Entscheidungen oder Passivität, die den Alltag der normalen Leute erschweren und ihre Rechte beschneiden. Deshalb entscheidet man am Wahltag auch über die Qualität des eigenen Wirtschaftsalltags in den Jahren danach – zumindest sollte es so sein.

Propaganda und Wunderglaube

Heißt das, mit einem Fach „Wirtschaft und Politik“, oder besser noch „Politik und Wirtschaft“ wären auch Sie zufriedengestellt?

Wir haben doch in fast allen Bundesländern ein Fach, in dem politische und ökonomische und am Rande auch gesellschaftliche Themen behandelt werden. Es ist eine dreiste Zwecklüge zu behaupten, dass das schlecht funktioniert. Es gibt keine einzige wissenschaftliche Analyse, die belegt, dass man bessere Lernergebnisse erzielt, wenn man ein Fach wie Sozialkunde in vier Kleinstfächer zerlegt, also Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht. Zu behaupten, man versteht Zusammenhänge besser, wenn man Dinge voneinander trennt, ist Unsinn. Das ist reine Ideologie und frommer Wunderglaube.

Dass das wirtschaftliche Wissen der Jugendlichen schlechter ist als das politische, rechtliche oder gesellschaftliche, ist durch nichts belegt. Erst recht existiert keine Forschung dazu, ob wirtschaftliches Wissen relevanter ist als beispielsweise politisches und es deshalb in Stundentafeln und Lehrplänen bevorzugt werden müsste. Wissenschaftlich betrachtet bewegt sich die Forderung nach einem Separatfach „Wirtschaft“ im völlig luftleeren Raum. Das fällt aber nicht weiter auf, weil die Befürworter die Meinungsführerschaft in den Medien haben.

Sie meinen also, man sollte besser alles belassen, wie es ist?

Auf der Ebene der Stundentafel sehe ich keinen Handlungsbedarf, aber manche Themen und Inhalte sollte man schon modernisieren. Wir diskutieren nur aus einem Grund über ein Schulfach „Wirtschaft“: Weil eine starke Lobby mit wirtschaftlichen und ideologischen Interessen dahintersteht. Die Wirtschaftseliten hämmern uns dieses Thema seit über fünfzehn Jahren ein. Hinzu kommt, dass die politischen Eliten sich von den Unternehmen und ihren Verbänden auf der Nase herumtanzen lassen und das dann auch noch als gute Bildungspolitik verkaufen.

Dabei geht es vor allem darum: Man will die lästigen politischen und gesellschaftlichen und oft auch kritischen Perspektiven auf die Unternehmen und Wirtschaft loswerden. Man will ein Fach, das man leichter beherrschen kann, in dem die eigenen Themen abgesichert sind und zu dem die eigenen Leute leichteren Zugang haben.

Schulen sind wirtschaftsaffin

Ein Argument der Verfechter eines Schulfachs „Wirtschaft“ lautet, wirtschaftliche Themen kämen in Fächern wie Sozial- oder Gesellschaftskunde zu kurz, auch weil es den Lehrkräften an den nötigen Kenntnissen fehle. Wie begegnen Sie solchen Aussagen?

An den meisten allgemeinbildenden Schulformen wird schon heute deutlich mehr Wirtschaft unterrichtet als Politik, ganz gleich ob in einem Integrationsfach oder in einem Separatfach. Hinzu kommt Erdkunde, das oft zu einem Drittel wirtschaftliche Themen wie Arbeitsteilung, Wirtschaftsstruktur, europäischer Binnenmarkt, internationaler Wettbewerb und Welthandel enthält. Fast überall gibt es zusätzlich mehrwöchige obligatorische Betriebspraktika. Eine überwältigende Mehrheit der Schulen pflegt Partnerschaften mit Unternehmen. Wer also über die wirtschaftsfreie Schule redet, betreibt reine Desinformation. Die meisten Schulen sind extrem wirtschaftsaffin. Die andere Seite der Medaille ist die politikferne Schule. Das ist ein Armutszeugnis für ein demokratisches Gemeinwesen!

Und selbstverständlich studieren Fachlehrkräfte für die etablierten Integrationsfächer wie Sozialkunde oder Gemeinschaftskunde mehrere Fächer, meist Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre, ferner Soziologie, manchmal auch Betriebswirtschaftslehre sowie Recht. Sozioökonomisch qualifiziert sind nur Lehrkräfte, die wirtschaftliche Themen aus mehreren Perspektiven analysieren können. Wissenschaftsorientierung heißt wissenschaftliches Fragen, Denken und Analysieren im Allgemeinen lernen, nicht Einführung von Zwölfjährigen in eine einzelne Disziplin. Bei ökonomischer Bildung geht es um Wirtschaft, nicht um Wirtschaftswissenschaft, bei politischer Bildung um Politik und nicht um Politikwissenschaft. Und bei guter Bildung geht es immer auch um den Zusammenhang von Politik und Wirtschaft.

Und wie ist es um diese Qualitäten innerhalb der Lehrerschaft bestellt?

Gerade Baden-Württemberg geht hier mit schlechtem Beispiel voran. Die Lehrkräfte studieren dort entweder Politikwissenschaft oder Wirtschaftswissenschaften, keiner studiert Soziologie. Heraus kommen soziologische Analphabeten und damit auch gesellschaftliche Analphabeten, die in Schulen unterrichten werden, in denen gesellschaftliche Probleme und Spannungen aller Art auftreten und zunehmen werden. Sie wissen beispielsweise nichts über Diversität und Ungleichheit. Sie lernen nicht, wie Wirtschaft und Gesellschaft zusammenhängen. Sie haben keine wissenschaftlich fundierte Idee, was eine Gesellschaft zusammenhält.

Außerdem können die, die nur Wirtschaftswissenschaften studiert haben, nicht erklären, warum sich die eleganten Marktmodelle politisch so schwer umsetzen lassen, etwa beim Klimaschutz. Die, die nur Politikwissenschaft kennen, wissen nicht, warum sich Wirtschaft politisch so schwer steuern lässt. Und der Gipfel der Paradoxie: In der Schulpraxis wird die reine Wirtschaftslehrkraft oft „Politik“ unterrichten müssen und die reine Politiklehrkraft „Wirtschaft“. Einfach, weil kleine und mittlere Schulen nicht genügend Fachlehrkräfte einstellen können. Es wird also künftig in Baden-Württemberg in den Fächern Gemeinschaftskunde und Wirtschaft mehr fachfremd erteilten Unterricht geben als je zuvor.

Sparpolitik reißt Lücken

Noch einmal zum besseren Verständnis: Eine Lehrkraft für dieses neue Fach WBS wird an den Universitäten in Baden-Württemberg tatsächlich nur in Wirtschaftswissenschaften ausgebildet?

Das ist der eigentliche Clou des Projekts. Denn die Lehrkräfte studieren nicht wirklich das, was man für einen angemessenen Wirtschaftsunterricht als Unterricht über Wirtschaft braucht. Sie studieren nicht „Wirtschaft“, sondern nur das, was Wirtschaftswissenschaft dazu beitragen kann. Weil sie ausschließlich an einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät studieren, werden sie fast immer eine stromlinienförmige Ausbildung erhalten. Sie werden die Marktgläubigkeit internalisieren, dem deutschen Sonderweg des Ordoliberalismus folgen und kaum Irritation durch alternative Perspektiven erfahren. Sie werden die in der deutschen Volkswirtschaftslehre vorherrschende neoliberale Lehrmeinung aufnehmen und diese dominiert auch in den Medien und der Politikberatung. Die wissenschaftliche und politische Einseitigkeit des Wirtschaftsunterrichts wird auf diesem Wege institutionalisiert.

All das bildet den fruchtbaren Boden, auf den man eigene Interessen und Ideologie säen kann. Dazu dienen „passende“ Unterrichtsmaterialien, die Konzerne, Wirtschaftsverbände, unternehmerfinanzierte Stiftungen und Think Tanks sowie die Wirtschaftspresse kostenlos zur Verfügung stellen. Damit füllt man die Lücken, die der Staat durch Sparpolitik, etwa bei den Landesinstituten für Bildung, gerissen hat. Die chronisch überlasteten Lehrkräfte nehmen es meist dankbar an. So sickern Verbändepositionen, Unternehmerperspektiven und genehme Welt- und Wirtschaftsbilder einigermaßen zuverlässig in die Klassenzimmer.

Auch die staatliche Lehrfortbildung wurde weitgehend weggespart. An ihre Stelle tritt ein umfangreiches Veranstaltungsangebot aus der Wirtschaft und von ihren Verbänden. Staatliche Landesinstitute übernehmen die von Wirtschaftsträgern angebotenen Fortbildungen in ihr Programm. Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen haben dem kaum etwas entgegenzusetzen, ihnen fehlen Geld und Personal. Vor allem fehlt ihnen der privilegierte Zugang zu Schule, Lehrkräften und Unterricht, den das Unternehmerlager hat.

Immerhin sollen im Fach WBS auch die unterschiedlichen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie Steuern und staatliche Leistungen behandelt werden. Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) findet, alles zusammen sei „ganz im Sinne einer ökonomischen Allgemeinbildung“. Ihr Urteil?

Daran zeigt sich, auf welches Niveau auch der konservative Bildungsbegriff inzwischen abgerutscht ist. Denn von grundlegenden Fragen zur Wirtschaft findet sich kaum eine Spur. Nur einige Beispiele: Wie wollen wir sozioökonomisch leben? Können und wollen wir die Wirtschaft demokratisch gestalten? Können und wollen wir Wachstum und Ressourcenverbrauch immer weiter steigern? Wer soll die Gewinne abschöpfen, wer die Kosten tragen?

Systemische Zusammenhänge von Kapitalismus und Krise, Marktwirtschaft und Sozialstaat, große Problemlagen wie der Widerspruch zwischen globalem Kapitalismus und Demokratie, plutokratische Züge der Politik, systematische Zusammenhänge zwischen Wirtschaftssystem, Umweltzerstörung und Klimakatastrophe, hemmungsloses Abschieben von Kosten und Risiken auf den globalen Süden, strukturelle Nichtnachhaltigkeit des herrschenden Wirtschaftens – alles, was übergreifend wichtig wäre, bleibt außen vor. Der Grundtenor lautet eher, die Verhältnisse sind, wie sie sind, findet euch damit ab, richtet euch darauf ein, kommt damit zurecht.

Das Absurdeste dabei ist aber, dass diese Art von Bildung jungen Menschen systematisch verweigert zu lernen, was Kapitalismus bedeutet und bewirkt, obwohl er ihr Leben durchgängig berührt und prägt.

Perfekte Verhältnisse

Ist der Vorgang nicht auch Ausdruck einer zunehmenden Kapitalisierung der Institution Schule an sich? Und woran lässt sich das noch festmachen?

Zweifelsohne! In den Themenkatalogen der Lobbyisten und in den Lehrplänen für ein Fach „Wirtschaft“ kommt, wie gesagt, systematische Kritik nicht vor. Gegen Kritik an den politisch-ökonomischen Verhältnissen, an Lobbyismus und Unternehmensmacht gehen die Wirtschaftsverbände im Zweifelsfall vor. Das beweist der Versuch der Arbeitgeberverbände, den Themenband „Ökonomie und Gesellschaft“ der Bundeszentrale für politische Bildung durch den Innenminister verbieten zu lassen, weil ihnen dort vertretene wissenschaftliche Positionen nicht passten.

Aus Sicht der Privatwirtschaft sind mit dem Schulfach „Wirtschaft“ die Verhältnisse an den Schulen geradezu perfekt. Man bekommt ein den eigenen Vorstellungen entsprechendes Fach, auf das man erheblichen Einfluss behält, ein Privileg, das sonst nur die Kirchen beim Religionsunterricht genießen. Man hat die Mittel, jede Menge attraktive Unterrichtsmaterialien in den Fachunterricht zu schleusen, die die eigenen Interessenlagen bedienen. Man kann sich ganz auf eine einseitige, in der Tendenz unkritische Lehrerausbildung an den Unis verlassen. Man kontrolliert die Stoßrichtung und die Inhalte des mehrwöchigen obligatorischen Berufspraktikums. Darüber hinaus hat man Gelegenheit zu zahlreichen Aktivitäten bei der Berufsorientierung und bei Partnerschaften zwischen Schule und Betrieb. Nicht zuletzt kann man mittels Sponsoring den Unterricht beeinflussen – immer mehr und effektiver, weil die Schulträger knapp bei Kasse sind.

Auch die neue Landeregierung aus CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen (NRW) will über kurz oder lang ein Unterrichtsfach „Wirtschaft“ einführen. Wird das jetzt zum Selbstläufer?

Natürlich freut es die Wirtschaftslobby, dass sie sich neuerdings anderswo auf die Bildungspolitik einer grün-roten Landesregierung berufen kann. Bisher war das Schulfach „Wirtschaft“ ein eindeutig konservativ-wirtschaftsliberales Politikprojekt. Das bleibt es in Wirklichkeit auch, aber schon der schöne Schein hilft.

Von einem politischen Selbstläufer kann jedoch keine Rede sein. Das zeigt auch die nordrhein-westfälische Variante von Postdemokratie: die gezielte Wählertäuschung durch CDU und FDP. Die CDU versprach in ihrem Wahlprogramm mehr politische Bildung, auch mehr Wirtschaft, aber als freiwilliges Wahlfach an Gymnasien. Die FDP schrieb ein Fach „Politik, Wirtschaft, Recht“ in ihr Programm. Wenige Tage nach der Wahl verkündeten die Koalitionäre ihren Beschluss, ein obligatorisches Separatfach „Wirtschaft“ an allen weiterführenden Schulen einzurichten. So führt man die Wählerinnen und Wähler systematisch hinters Licht.

Das beweist aber auch: Die politischen Protagonisten fürchten eine kontroverse öffentliche Debatte über politische und ökonomische Bildung. Wissenschaftlich belastbare Argumente für den Umbau der Stundentafel haben sie nicht und die interessieren sie auch nicht. Ihre ideologischen Vorstellungen reichen ihnen als Leitlinie politischen Handelns. Das ist bildungspolitische Verantwortungslosigkeit zwecks Klientelpolitik.

Handzahme Gewerkschaften

Hatten Sie sich womöglich mehr Widerstand durch Gewerkschaften und Bildungsverbände erhofft? Die Landesverbände von DGB und GEW hatten schließlich im Vorfeld Vorbehalte gegen ein Extrafach „Wirtschaft“ und dessen inhaltliche Verengung geäußert.

Ja, eigentlich schon. Die Gewerkschaften und andere Verbände waren klar dagegen. Aber die grün-rote Landesregierung blockierte mit Ausnahme der Wirtschaftslobby jegliche Partizipation, bis Fakten geschaffen waren. Allerdings schätzten die Bildungs- und Industriegewerkschaften die Möglichkeiten, die das Fach „Wirtschaft“ bietet, durchaus unterschiedlich ein.

Und es gab eine Gemengelage von Interessen, auch angesichts der herannahenden Landtagswahlen. Es waren ja zwei SPD-Minister, die sich von den Wirtschaftsverbänden einspannen ließen und den Lobbycoup politisch umgesetzt haben. Vielleicht sogar weniger, weil sie vom Fach „Wirtschaft“ über die Maßen überzeugt waren, als vielmehr, um die Absolventenströme umzulenken, weg von den Hochschulen, hin zu Handwerk und Industrie. Dafür die dauerhafte Stärkung von Unternehmerinteressen in der Schule und wirtschaftswissenschaftlich einseitig ausgebildete Lehrkräfte in Kauf zu nehmen, die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik im Zweifelsfall ablehnen, zeugt von erheblicher Naivität.

Aber der Widerstand im Land hält ja durchaus an. Es besteht also kein Grund, die Hoffnung auf eine gute sozioökonomische Bildung ganz aufzugeben.

Was macht Sie da so zuversichtlich? Wer alles will sich denn nicht mit der „Reform“ abfinden? Und ist der Zug mit der Einführung von WBS nicht eigentlich abgefahren?

Ja, natürlich wird es schwer, der Wirtschaftslobby ein so schönes bildungspolitisches Geschenk wieder wegzunehmen. Andererseits gibt es längst Absetzbewegungen von der strikten Fächertrennung, z. B. in Form von Lernfeldern in der Berufsausbildung. Auch geben Vorbildländer wie Finnland die strikte Trennung zwischen den Schulfächern auf, weil eine Erziehung zum Schubladendenken nicht zur Komplexität der heutigen Welt passt. Das nimmt man auch hier schon zur Kenntnis. Generell werden die Verwerfungen durch die weiter wachsende Spaltung der Bevölkerung in Einflussreiche und Marginalisierte, Gewinner und Verlierer auch die Aufgabe der Schule in der Demokratie auf die bildungspolitische Tagesordnung setzen. Schlüsselakteure sind schließlich die Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen wie LobbyControl sowie lokale Bündnisse unterschiedlicher Organisationen. Nicht zuletzt trägt auch die Wissenschaft dazu bei, die eine alternative sozioökonomische Bildungskonzeption anbieten kann.


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Reinhold Hedtke, Jahrgang 1953, ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften und Wirtschaftssoziologie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Er befasst sich schwerpunktmäßig mit politischer und ökonomischer Bildung und wendet sich entschieden gegen ein Partikularfach „Wirtschaft“ an allgemeinbildenden Schulen. Der promovierte Soziologe ist stellvertretender Vorsitzender in der „Deutschen Vereinigung für Politische Bildung“ und ist Vorstandsmitglied bei der „Gesellschaft für sozioökonomische Bildung & Wissenschaft“ (GS*ÖBW).


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