Die perfekte Inszenierung der Unvernunft
Es war ein Gipfel, der Geschichte schreiben sollte und es vermutlich auch wird. Nicht als diplomatischer Durchbruch, nicht als Fortschritt für den Frieden, sondern als weiterer Höhepunkt eines sicherheitspolitischen Irrsinns, den kaum noch jemand hinterfragt. Der NATO-Gipfel von Den Haag im Juni 2025 wurde zur Bühne einer Selbstverleugnung Europas, zur Inszenierung einer aggressiven Abhängigkeit und zur Machtdemonstration eines Mannes, den viele für unberechenbar halten, Donald Trump. Wieder im Weißen Haus, wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit, wieder mit der gleichen Mischung aus Drohung und Verachtung gegenüber seinen Partnern.
Trump landete und halb Europa verbeugte sich. Kein kritisches Wort, kein Zweifel am Kurs, nur ein kollektives Schulterklopfen, wer dem amerikanischen Präsidenten am schnellsten und servilsten seine Treue demonstrieren konnte.
Die NATO-Staaten einigten sich auf ein neues Ziel: 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen künftig in Rüstung fließen, mehr als das Doppelte des bisherigen, ohnehin schon heftig kritisierten 2-Prozent-Ziels.
Die Kosten der Hörigkeit
Für Europa bedeutet dieses Ziel nicht nur die Verdopplung der Militärausgaben, sondern den offenen Bruch mit dem Versprechen einer sozialen, friedlichen Union, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. Statt Brücken, Schulen, Krankenhäusern oder dem Umbau der Energiesysteme, sollen nun Panzer, Drohnen und Raketen das Rückgrat europäischer Politik bilden. Schon jetzt geben die NATO-Staaten zusammengenommen über 1.200 Milliarden US-Dollar jährlich für Militär aus, mehr als zehnmal so viel wie Russland. Doch es scheint nie genug zu sein.
Besonders perfide: Trump koppelte seine Zustimmung zu Handelsfragen direkt an das Aufrüstungsverhalten einzelner Staaten. So drohte er Spanien offen mit Zöllen, sollte Madrid sich nicht zu höheren Militärausgaben bekennen. In dieser Logik wird aus Sicherheitskooperation wirtschaftliche Erpressung und aus einem Verteidigungsbündnis eine transatlantische Geiselhaft.
Der geopolitische Realitätsverlust
Was all dem zugrunde liegt, ist eine politische Annahme, die so irrational wie gefährlich ist: Russland plane einen Angriff auf NATO-Staaten. Dabei zeigen sämtliche Analysen, dass Russland bereits im Ukrainekrieg massiv an militärischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Substanz eingebüßt hat. Ein weiterer Krieg gegen die NATO, mit ihrer ungleich größeren Stärke, wäre strategisch selbstmörderisch.
Doch genau dieser Phantomschmerz dient als Legitimation für das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der EU. Kritische Stimmen wie die des ehemaligen NATO-Generalinspekteurs Harald Kujat oder von Friedensforschungsinstituten werden diskreditiert, ignoriert oder gar zum Teil als illoyal dargestellt.
Es herrscht ein Klima, das der politischen Psychose näher kommt als einer sicherheitspolitischen Analyse.
Der Preis: Demokratieabbau und Wohlstandsverlust
Was bedeutet dieser Wahnsinn für den Alltag der Menschen? In Deutschland sind es marode Schulen, kaputte Brücken und fehlende Pflegekräfte, die den Verfall des Sozialstaats markieren. Gleichzeitig legt die Bundesregierung ein 100-Milliarden-Euro-Paket zur „Stärkung der Infrastruktur“ auf, bei dem Experten wie der Städtetag oder der Bundesrechnungshof schon jetzt warnen: Die Hälfte der Mittel droht zu versickern.
Zugleich kündigte Verteidigungsminister Boris Pistorius an, dass Deutschland seine Rüstungsausgaben dauerhaft auf über 100 Milliarden Euro jährlich steigern werde. Das wäre eine Summe, die mit dem kompletten Bildungshaushalt konkurriert. Frankreich will gar noch weiter gehen, trotz Rekordverschuldung und wachsender Unruhen im Innern.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind drastisch: Die europäische Industrie, vor allem die energieintensive, leidet unter hohen Kosten und geopolitischer Unsicherheit. Die Autoindustrie, einst ein globales Flaggschiff deutscher Wirtschaftskraft, wird von politischen Experimenten und Planwirtschaft zerlegt. Als neuer Exportschlager soll nun das Waffenarsenal dienen.
Medien als Propagandainstrumente
Ein besonders perfides Element in diesem Szenario ist die Rolle der Medien. Kritik an der NATO-Strategie wird als putinfreundlich abgetan. Friedensinitiativen erscheinen bestenfalls naiv, schlimmstenfalls subversiv. Große Sender und Verlage berichten in Dauerschleife von russischer Bedrohung, unterschlagen aber Zahlen, Analysen und diplomatische Alternativen.
So wurde der Vorschlag der BRICS-Staaten, einen neuen diplomatischen Prozess für die Ukraine unter Einbeziehung aller Parteien zu starten, kaum erwähnt. Stattdessen dominieren Narrative vom „freien Westen“ und der „Notwendigkeit militärischer Stärke“, als wäre das Jahr 1914 nie gewesen.
Die Illusion der Abschreckung
Das zentrale Argument für die Aufrüstung lautet „Abschreckung“. Doch genau diese Logik hat historisch mehrfach versagt. In einem multipolaren System mit neuen Großmächten wie China, Indien und Brasilien führt Rüstung nicht zu Stabilität, sondern zu Misstrauen, Aufrüstungsspiralen und letztlich zu neuen Kriegen.
Europa, einst als Projekt der Versöhnung gestartet, verliert seine Rolle als diplomatischer Akteur. Es macht sich abhängig, militärisch von den USA, wirtschaftlich von asiatischen Lieferketten, ideologisch von sicherheitspolitischen Fantasien.
Wer verdient, wer verliert?
Während die Bürger sparen sollen, jubeln andere: Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, Thales oder Lockheed Martin melden Rekordgewinne. Neue Fabriken entstehen, neue Waffensysteme werden entwickelt, und ein riesiger Lobbyapparat sorgt dafür, dass die Waffenproduktion zur Dauerlösung erklärt wird.
Gleichzeitig brechen soziale Sicherungssysteme weg. Die Zahl der Rentner, die in Deutschland auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, hat sich binnen zwei Jahren verdoppelt. Die Zahl junger Menschen ohne Ausbildungsplatz steigt wieder. Aber: Das 5-Prozent-Ziel steht. Mit aller Gewalt.
Demokratie in der Krise
Der Preis für all das ist nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch hoch.
Demokratien, die sich selbst militarisieren, werden autoritärer. Sie verschieben das Gewicht von öffentlicher Debatte zu sicherheitsstaatlicher Kontrolle. Wer den Kurs hinterfragt, riskiert politische Ächtung.
Das zeigt sich auch im Umgang mit Demonstrationen beziehungsweise Demonstranten: Friedensproteste werden massiv überwacht, Kritiker von Sicherheitsbehörden beobachtet, alternative Medien diskreditiert. Was als notwendige Verteidigung verkauft wird, ist oft nichts anderes als der Versuch, autoritäre Strukturen zu festigen, unter dem Deckmantel der „nationalen Sicherheit“.
Fazit: Europa am Scheideweg
Der NATO-Gipfel von 2025 hat eine Wahrheit offengelegt, die viele nicht hören wollen: Europa hat sich entschieden, gegen den Frieden, gegen soziale Gerechtigkeit, gegen strategische Vernunft. Es hat sich für ein Aufrüstungsprogramm entschieden, das weder Sicherheit noch Stabilität bringt, sondern die Zivilgesellschaft belastet, die Wirtschaft schwächt und den sozialen Frieden gefährdet.
Was fehlt, ist eine echte Opposition. Parteien, die den Aufrüstungskurs infrage stellen, werden medial diffamiert oder mit Sanktionen belegt. Friedensforschung gilt als Relikt. Zivile Diplomatie als Schwäche. Doch genau diese Kräfte braucht Europa, jetzt mehr denn je.
Es geht nicht um Naivität, nicht um ein romantisches Weltbild. Es geht um Rationalität, um Verantwortung – und um die Erkenntnis, dass ein Kontinent, der alles auf militärische Stärke setzt, am Ende nicht stärker, sondern ärmer, gespaltener und gefährdeter sein wird.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) Reuters: „Europe placates Trump with NATO pledges it can ill afford“ – 25. Juni 2025, https://www.reuters.com/business/aerospace-defense/europe-placates-trump-with-nato-pledges-it-can-ill-afford-2025-06-25/
(2) The Guardian: „Trump praises NATO states as summit prepares to lift defence spending target“ – 25. Juni 2025, https://www.theguardian.com/world/2025/jun/25/trump-praises-nato-states-as-summit-prepares-to-lift-defence-spending-target
(3) Netzwerk Friedenskooperative: „Rüstungsausgaben explodieren – Wo bleibt der Protest?“ – Juni 2025, https://www.friedenskooperative.de/aktuelles/nato-ruestung-2025
(4) Deutscher Städtetag: „Infrastruktur-Milliarden drohen zu versickern“ – Mai 2025, https://www.staedtetag.de/presse/aktuelles/infrastruktur-investitionen-2025
(5) IALANA: „5 % für Rüstung – eine sicherheitspolitische Katastrophe“ – Juni 2025, https://www.ialana.de/stellungnahmen/ruestungsetat-eu-2025