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Zerstörung einer Legende

Zerstörung einer Legende

Mit Rammstein verschwindet ein Stück DDR-Erbe, ein Stachel im Fleisch des Westens und ein Symbol des Widerstandes gegen die Vereindeutigung der Welt.

Es ist nicht einfach, gegen die Moralmauer anzuschreiben. Wer weiß. Vielleicht ist ja doch etwas dran. Vielleicht kommt zwischen Abgabe und Veröffentlichung etwas raus, was jeden Verteidiger dumm aus der Wäsche schauen lässt. Du verhöhnst die Opfer. Du deckst einen Straftäter. Genau so funktioniert Rufmord heute. Streue etwas aus, wo jeder die Hände hebt und sagt: Nun ja. Das Thema fasse ich lieber nicht an. Ich habe das selbst erlebt. Als die Süddeutsche Zeitung Ende März titelte, ich sei „ein Fall für den Verfassungsschutz“, gab es viel weniger Zuspruch und Hilfsangebote als bei früheren Attacken. Die Verfassung. Der Geheimdienst. Das hätten wir aber nicht von ihm gedacht.

Rammstein ist tot. Wegen was eigentlich, muss man Mitte Juni fragen. Selbst das Haus- und Hofblatt der herrschenden Meinung aus München sagt, dass juristisch „womöglich nicht viel übrig bleiben“ werde „vom Skandal um Sänger Till Lindemann. Vielleicht sogar: gar nichts“. Aus Sicht von Ronen Steinke, den die Zeitung als „rechtspolitischen Korrespondenten“ führt, ein Nebelbegriff für einen der Meinungsführer im Land, aus Sicht dieses promovierten Strafrechtlers ist das zwar „eine ziemlich bittere“ Prognose, die Leitmedien bekommen von ihm aber trotzdem ein Lob. Es sei „so wichtig“, dass diese „gesellschaftliche Debatte“ nun endlich „angestoßen“ wurde. Mein Gott. Vielleicht lebt Ronen Steinke im Mittelalter. In meiner Welt haben Frauen längst keine Angst mehr vor Männern. In meiner Welt nehmen sich die Frauen das, was sie haben wollen, und sagen, wenn ihnen irgendetwas nicht passt oder zu weit geht. In meiner Welt müssten eher die Männer nach Hilfe rufen, haben das aber nie gelernt.

Für Rammstein ist es ohnehin egal, wie Juristen und Historiker urteilen werden. Das Moralbeil ist gefallen.

Wer daran zweifelt, stelle sich vor, dass jemand auf dem Dorffest oder beim Vereinsjubiläum einen Song der Verfemten spielt. Deutschland. Moskau. Oder sogar Das alte Leid. Für die Nichtkenner: Der Refrain beginnt mit „Ich will ficken“. Sie wären sofort da, die Tugendwächter. Auf Twitter, am Telefon des Bürgermeisters, in der Lokalredaktion. Schon jetzt ändern Sportler ihre Einlaufmusik, Theater sagen Premieren ab, Verlag, Radiostation und Plattenfirma kündigen oder pausieren auf unbestimmte Zeit. Den kleinen Ronen Steinkes entkommt niemand. Die Grünen werben bei ihren Mitgliedern gerade für eine „Netzfeuerwehr“. Der Name ist Programm. Löscht alles, was euch nicht gefällt.

Ich hoffe, eines Tages einen Studenten zu finden, der die Rammstein-Kampagne untersucht. Der sich mit Shelby Lynn beschäftigt, die am 25. Mai auf Twitter auftaucht und dort mit einem Stakkato loslegt, als hätte sie nie etwas anderes getan. Die nicht zum Arzt geht, sondern auf einen Kanal, der sie sonst überhaupt nicht interessiert. Mitte Juni hat sie immer noch genau ein Thema und folgt nur einem einzigen Account. Dieser Student sollte sich natürlich auch mit dem „Rechercheverbund“ von NDR und Süddeutscher Zeitung beschäftigen, noch so ein schönes Wort, der es eine Woche später, kurz vor den vier Rammstein-Konzerten in München, an einem Freitagabend, für knapp zweieinhalb Minuten in die Hauptausgabe der Tagesschau schafft, mit verschwommenen Bildern und nachgesprochenen Frauenstimmen, die eigentlich nur sagen: Heute bin ich klüger. Heute würde ich das nicht mehr machen. In den nächsten zwei Wochen folgen auf der Webseite der wichtigsten deutschen Nachrichtensendung gut 40 Meldungen zum Thema, und Daniel Drepper, von seinem Arbeitgeber als „Investigativ-Journalist“ bezeichnet, wird zu einem Fernsehgesicht. Wir bleiben dran, na klar. Wir finden jeden Tag jemanden, der sich distanziert oder irgendetwas zu fordern hat. Und wir übersehen alle Verteidiger. Dafür reichen sechs oder sieben Redakteure nun wirklich nicht.

Diese Abschlussarbeit würde vermutlich auch nach Kayla Shyx fragen, Selbstbeschreibung: Influencerin, die vor einem Jahr auf einem Konzert in Berlin war und dort „angsteinflößend angeguckt“ worden ist, als ihr die Party zu blöd wurde. Ich erwähne diese Frau hier nur, weil sie ebenso freimütig berichtet, dass ihr das Management geraten habe, jetzt mit der Story online zu gehen. Wie das so ist bei knapp 800.000 Followern. Da geht man keinen Schritt allein.

Das Video wurde mehr als fünf Millionen Mal geklickt. So jemanden muss man casten, wenn man einen Rufmord plant. Der Student würde uns am Ende auch sagen können, wann genau das „Rechercheteam“ angefangen hat, unsere Rundfunkbeiträge zu verschlucken. Bei solchen Projekten rechnet man nicht in Tagen und nicht einmal in Wochen.

Ich verzichte hier darauf, die Spiegel-Titelgeschichte auseinanderzunehmen oder an anderer Stelle tiefer einzusteigen in den Mediensumpf. Wenn tatsächlich irgendetwas vorgefallen sein sollte von dem, was nicht einmal Ronen Steinke für wahrscheinlich hält, wird man uns es auf den Titelseiten sagen. Mich interessiert das Objekt. Wer wurde dort angegriffen? Zunächst: das Stadion als ein Kommunikationsraum, der nicht so leicht zu kontrollieren ist.

Die Öffentlichkeitstheorie spricht von Versammlungen ― von Orten, die zwar nicht von jedem zur gleichen Zeit gesehen werden können wie eine Ausgabe der Tagesschau, wo aber trotzdem viele zusammenkommen, die sich nicht kennen, und dort beobachten können, was andere von den TV-Nachrichten halten. Ein Resonanzboden, der die Kraft hat, das Gedankengefängnis zu sprengen, in das uns die Leitmedien Tag für Tag stecken wollen.

Und: Nicht auszudenken, wenn so eine Masse nach draußen geht. 60.000 Menschen, die von der Bühne zum Rathaus geschickt werden.

„Fuck Corona“ stand auf der Maske, die Till Lindemann Anfang März 2020 auf einem Foto im Gesicht hatte. Ein paar Wochen später, als die Labortheorie noch etwas für Insider war, hat er sinngemäß gesagt, dass das Virus erst noch erschaffen werden müsse, dass ihn umbringen kann. So ein Berg von einem Mann ist bedrohlich ― erst recht, wenn ihm Millionen Fans zujubeln und an den Lippen hängen.

Es ist kein Zufall, dass die beiden größten Musik-Acts dieses Sommers unter Beschuss geraten sind. Anders als Roger Waters spricht Till Lindemann auf der Bühne wenig oder gar nicht. Es gibt dort keine Politik und keine Systemkritik, jedenfalls nicht explizit. Die Botschaft heißt Rammstein. Ein Welterfolg aus dem Osten, der die Netzwerke aus dem Westen nicht gebraucht hat und auf Deutschland genauso pfeifen kann wie auf Amerika, auf den Kapitalismus und überhaupt auf alles, was heute politisch korrekt ist.

Das darf auch deshalb nicht mehr sein, weil Rammstein gerade dabei war, aus der Schmuddelecke in die Mitte der Gesellschaft vorzustoßen. In diesem Jahr viermal in Münchens Wohnzimmer und dreimal im Olympiastadion von Berlin. Die Tickets in Windeseile ausverkauft. Der Profifußball hat das gerade hinter sich. Vom Proletensport und halb leeren Stadien zu einem Society-Event, bei dem man sehen und gesehen werden will und sich in Wartelisten einträgt, um an eine Jahreskarte zu kommen. Vor dem Anpfiff und in der Halbzeitpause läuft dort inzwischen so laut Musik, dass jede Vermassung ausgeschlossen ist, die über das Spiel hinausweist.

Früher konnte ich meine Studenten schocken, wenn ich ihnen erzählt habe, dass ich Rammstein mag. Heute treffe ich sie bei den Konzerten. Sie suchen dort sicher etwas anderes als ich, der in Musik und Videos seine Jugend findet und einen Hauch von Rock und Singebewegung in der DDR, wo es immer auch um den Text ging, um die Stimme und um Botschaften, die sich so oder so deuten ließen. Jeder Fan weiß: Rammstein ist zuallererst Stimme. Till Lindemanns Stimme. Jede Silbe zu verstehen, trotz der Metall-Mengen, die in den Stadien verbaut werden, trotz des Menschenauflaufs. Wer sich in der DDR auf eine Bühne stellte, hat nur selten Klartext gesungen.

Rammstein sperrt sich gegen die Eindeutigkeit ― gegen den Code Eins-Null, der keine Zwischentöne zulässt. Und Rammstein spielt mit der deutschen Sprache, nicht nur in der Deutschlandhymne, die man als Abgesang auf Deutschtümelei und Nationalismus lesen oder als Anlass nutzen kann, „Deutschland über alles“ zu skandieren, im Chor und vielleicht sogar mit erhobenem Arm, so gesehen vor vier Jahren.

Damals hat die Ostsee-Zeitung eine Homestory gemacht, als die Band nach Rostock kam. Ein Reporter hat Gitta Lindemann besucht, die Mutter des Sängers, und sie gefragt, was sie an den Musikern bewundert. Den Mut, sagt sie in der Zeitung. „Die trauen sich was und ecken an. Das war denen immer schietegal, ob etwas verboten ist oder was die Leute über sie denken“.

Vorbei. Von der Medienflut überrollt und weggespült, genau wie das Land, aus dem Rammstein stammt und ohne dass dieser Welterfolg nicht zu erklären ist. In Kurzform: Westdeutschland hat 1990 nicht auf die neuen Kollegen gewartet. Die Claims waren abgesteckt und die Kuchen verteilt. Ostkünstlern fehlte alles, was nötig war ― Kontakte vor allem, Fürsprecher, Geld, Interesse. Das wuchs hierzulande erst, als die Band in den USA schon eine Riesennummer war. An Amerika kommen wir nicht vorbei. Was dort für gut befunden wird, ist hier selbst dann irgendwie heilig, wenn man es nicht verstehen kann oder verstehen will.

Wie sollte man das auch in westdeutsch dominierten Feuilleton-Redaktionen. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Die sechs Mitglieder von Rammstein sind zwischen 1963 und 1971 geboren ― hinein in die „guten Jahre“ der DDR, die es tatsächlich gegeben hat, weil der Alltag besser funktionierte als in der Nachkriegszeit und es auch sonst aufwärtszugehen schien. Die Weltfestspiele 1973, die Anerkennungswelle, die Liberalisierung in Sachen Westfernsehen, weil Erich Honecker den moralischen Druck milderte und außerdem ein Leben in Wohlstand versprach. Zu diesen guten Jahren gehört das Schulwissen über all das, was nicht ganz so optimal gelaufen ist in der deutschen Geschichte. Zumindest in den systemnahen Milieus gehört dazu auch, dass Kapitalismus und Großdeutschland keine Optionen sind.

Zu Rammsteins „Deutschland“ gehört die DDR. Fast möchte man schreiben: „natürlich“, aber ganz so natürlich ist das nicht, weil öffentliches Sprechen immer noch Sache der Westdeutschen ist. Zu Rammsteins „Deutschland“ gehören der Blick auf die hässlichen Seiten der Geschichte und die Absage an jede Vaterlandsliebe oder Nationalromantik. Zu Rammsteins „Deutschland“ gehört auch, die Mechanismen des öffentlichen Diskurses offenzulegen. Man muss sich dazu nur das Video ansehen, das den Namen dieses Landes trägt, oder sich an den Trick erinnern, mit dem die Band seinerzeit für einen Aufreger und damit für Aufmerksamkeit sorgte. Ein Schnipsel vorab im Netz, der alle triggert, die immer schon wussten, was gut und richtig ist. Jetzt hat das Imperium zurückgeschlagen. Einen Anlass findet jedes „Rechercheteam“, wenn man ihm Zeit und Mittel gibt.


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