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Zurück in die Zukunft

Zurück in die Zukunft

In der Nachkriegszeit bot sich die Chance, ein globales Sicherheitssystem zu errichten und damit langfristig Frieden zu ermöglichen — Bericht aus einer parallelen Realität.

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Welche Chancen bot das im Mai 1949 verabschiedete Bonner Grundgesetz für einen dauerhaften Frieden in Europa und in der Welt? Der Friede war die Chance des Augenblicks, die es zu nutzen galt. Die Alternative, eine nach Rechtsprinzipien gestaltete Friedensordnung, war möglich geworden. Darum ging es: Die Bedingungen der Möglichkeit von Frieden sollten friedenswirksam genutzt werden. Wer waren die Akteure?

Welche Anhaltspunkte gab es, und welche Schlüsse können wir daraus für einen dauerhaften Frieden heute ziehen? Können wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, und ist das Versäumte überhaupt wieder gutzumachen? Oder müssen wir uns damit abfinden, dass der Krieg für immer ein Mittel der Politik bleiben wird?

Die erste Sitzung des Deutschen Bundestages fand „Unter einem regenschweren Himmel, aber in der leuchtenden Fülle von Fahnen und Blumen“, am Mittwoch, dem 7. September 1949, in einem Anbau der ehemaligen Pädagogischen Akademie statt – so schrieb die Tageszeitung Die Welt am 8. September 1949 (1).

Die erste Bundestagswahl hatte am 14. August stattgefunden und der CDU eine knappe Mehrheit gebracht. Auch viele ehemalige Mitglieder der NSDAP hatten, wie auch Johannes Mario Simmel in seinem Buch Alle Menschen werden Brüder schreibt, für die Christdemokraten gewählt. Am 15. September wurde Konrad Adenauer zum Bundeskanzler gewählt.

Konrad Adenauer und Carlo Schmid waren in gewisser Hinsicht Kontrahenten. In seiner Rede am 8. September 1948 im Deutschen Bundestag hatte Carlo Schmid über die Rolle des Grundgesetzes und die Souveränitätsfrage gesprochen. Er hatte eine genaue Vorstellung von dem, was da passieren sollte:

„Theorie ist ja kein müßiger Zeitvertreib, sondern manchmal der einzige Weg, komplexe Verhältnisse zu klären, und manchmal die einzige Möglichkeit, sicher des Weges zu gehen, die einzige Möglichkeit, die Lage des archimedischen Punktes zu definieren, an dem wir den Hebel unserer politischen Aktivität anzusetzen haben“ (2).

Genau darum ging es, nämlich um die Frage, wo der Hebel am effektivsten angesetzt werden könnte, um einen auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden zu begründen. Carlo Schmidt weiter:

„Ich glaube darum, dass das Grundgesetz eine Bestimmung enthalten sollte, die besagt, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes unmittelbar geltendes Recht in diesem Lande sind, dass also das Völkerrecht von uns nicht ausschließlich als eine Rechtsordnung, die sich an die Staaten wendet, betrachtet wird, sondern auch als eine Rechtsordnung, die unmittelbar für das Individuum Rechte und Pflichten begründet. Weiter sollte man eine Bestimmung vorsehen, die es erlaubt, im Wege der Gesetzgebung Hoheitsbefugnisse auf internationale Organisationen zu übertragen.

Ich glaube, dass dieses Grundgesetz durch eine solche Bestimmung lebendig zum Ausdruck bringen würde, dass das deutsche Volk (…) entschlossen ist, aus der nationalstaatlichen Phase seiner Geschichte in die übernationalstaatliche Phase einzutreten.“

Tatsächlich hatte Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat und beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee dafür gesorgt, dass solche Bestimmungen in das neu entstehende Grundgesetz aufgenommen wurden.

Mit seinem französischen Freund Léon Blum hatte er während seines Aufenthalts in Paris zwischen Mai und Dezember 1946 Gespräche geführt und über die kollektive Sicherheit der Vereinten Nationen gesprochen. Léon Blum (1872 bis 1950), Mitglied der Résistance und dreimal französischer Premierminister, vertrat die „Idee einer weltweiten, über den Nationen stehenden Souveränität”, gegründet auf den „freiwilligen Verzicht jedes Staates auf den notwendigen Teil seiner eigenen Souveränität.“

Georges Bidault, der Vorsitzende der französischen Delegation hatte bei der Eröffnungssitzung der Konferenz der Vereinten Nationen in San Francisco am 25. April 1945 erklärt, Frankreich sei „zum Wohle der neuen Welt bereit, solche Souveränitätsopfer zu bringen, wie sie gemeinsam vereinbart und von beiden Seiten als für die kollektive Sicherheit notwendig anerkannt werden“ (3).

„Keine Grenzen“, so hatte Blum wenig später erklärt, und „keine Waffen werden jetzt der Zerstörung durch die Atombombe im Wege stehen. Frieden kann nur in einer globalen Organisation der kollektiven Sicherheit erreicht werden (…) sie muss die Form einer Föderation autonomer Nationen annehmen, die jeweils einen Teil ihrer Souveränität an eine mit eigenem Management ausgestattete internationale Organisation abtreten“ (4).

Diese Auffassung wird auch heute noch von den französischen Völkerrechtlern vertreten (5). „Wir sollten uns”, so Schmid in dem bereits zitierten Vortrag,

„die Tore in eine neugegliederte überstaatliche politische Welt weit öffnen. Wir wollen uns doch nichts vormachen: In dieser Zeit gibt es kein Problem mehr, das ausschließlich mit nationalen Mitteln gelöst werden könnte (...) Wir werden keine Wehrmacht mehr haben. Ich für meinen Teil begrüße es, dass das Zeitalter der nationalen Wehrmachten zu Ende zu gehen scheint und dass die Wehrhoheit mehr und mehr auf übernationale Instanzen überzugehen scheint. Das setzt aber voraus, dass sich die Staaten in einem System kollektiver Sicherheit zusammenschließen, wo die Sicherheit nicht mehr ausschließlich durch das nationale militärische und industrielle Machtpotential garantiert wird. Ich glaube darum, dass das Grundgesetz eine Bestimmung enthalten sollte, die es möglich macht, auf einfache Weise einem solchen System kollektiver Sicherheit auf der Grundlage der Gegenseitigkeit beizutreten“ (6).

Wenig später, am 14. Dezember des Jahres schrieb Carlo Schmid in einem Artikel in der Tageszeitung Die Welt mit dem Titel „Legionäre fremder Interessen? Kollektive Sicherheit statt Remilitarisierung“:

„Die Staaten, die sich einem System kollektiver Sicherheit anschließen wollen, müssten bereit sein, in gewisse Beschränkungen ihrer Hoheitsrechte einzuwilligen und gewisse Souveränitätsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen (...) entscheidend wird sein, dass die Staaten, die einem solchen System angehören, sich für ihre Streitigkeiten gegenseitig einer allgemeinen, obligatorisch umfassenden internationalen Schiedsgerichtsbarkeit unterwerfen (...)“

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz in der Schlusssitzung des Parlamentarischen Rates ausgefertigt und verkündet. Es war Konrad Adenauer, der Vorsitzende, der am Ende noch einmal das Wort ergriff:

„Uns alle leitete bei unserer Arbeit der Gedanke und das Ziel, das die Präambel des Grundgesetzes in so vortrefflicher Weise in folgenden Worten zusammenfasst: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.(7)”

Offensichtlich teilte Konrad Adenauer Schmids Position.

Auch Bundespräsident Theodor Heuss betonte die Notwendigkeit einer funktionierenden internationalen Ordnung. Dabei hatte Theodor Heuss 1933 für Hitlers Ermächtigungsgesetze gestimmt und auch Adenauer hatte seine Bereitschaft erklärt, mit dem neuen Regime zusammenzuarbeiten.

Nach dem Krieg war man geläutert. Es galt, vergangene Fehler wieder gut zu machen.

Léon Blum war Adenauer, der französisch sprach, bekannt. Er wusste, dass die französische Verfassung in Friedensfragen Vorbild für das Bonner Grundgesetz war. In der französischen Verfassung hatte sich Frankreich unter der Bedingung der Gegenseitigkeit zu Souveränitätsbeschränkungen verpflichtet. Ziel sei die Organisation und Verteidigung des Friedens (8). Die Bedingung der Gegenseitigkeit zielte auf Deutschland.

Ich hebe ab: Zurück in die Zukunft. Etwas Unglaubliches geschieht. Die Zeit verschwimmt, verschwindet in der Zukunft. Die Ereignisse überschneiden sich, nehmen eine neue Gestalt an, werden überlagert von dem, was in Wirklichkeit (nicht) stattfand. Wie konnte das passieren? Was ging da vor sich? Wunsch und Wirklichkeit hatten angefangen sich zu vermischen.

Bedingungslos stimmte Adenauer den Ausführungen Carlo Schmids vom September 1948 zu und betonte die Notwendigkeit „im Wege der Gesetzgebung Hoheitsbefugnisse auf internationale Organisationen zu übertragen”, wie Carlo Schmid gefordert hatte. Er hatte erkannt, dass Deutschland nun „aus der nationalstaatlichen Phase seiner Geschichte in die übernationalstaatliche Phase” eintreten müsse, und zwar „so schnell wie möglich.“ In seiner Rede vor dem Bundestag wandte sich der Bundeskanzler an Carlo Schmid:

„Lieber Carlo Schmid, die CDU ist bereit, mit Ihnen in allen Fragen, die den Frieden und die Sicherheit unseres Landes betreffen, zusammenzuarbeiten. Als Erstes wollen wir uns der Rechtsprechung des IGH unterwerfen, um ein Signal nach Osten zu senden und zu zeigen, dass wir uns an die Haager Friedenskonferenzen erinnern, zu denen Russland vor 50 Jahren eingeladen hatte. Deutschland hatte damals keine rühmliche Rolle gespielt und eine verbindliche internationale Rechtsprechung zur friedlichen Lösung zwischenstaatlicher Streitigkeiten gegen die große Mehrheit der teilnehmenden Staaten abgelehnt.

Diesen Fehler gilt es wieder gut zu machen. Und deshalb haben wir uns entschlossen, nachdem unser Nachbar, die Schweiz, bereits im vergangenen Jahr mit gutem Beispiel vorangegangen ist (9),einen Gesetzentwurf vorzubereiten, um uns der Rechtsprechung des IGH zu unterwerfen.

Wir wollen eine am christlichen Friedensideal orientierte Politik betreiben, ohne Wenn und Aber. Völkerrechtlich ist dieses Friedensideal heute realisiert im organisatorischen, wissenschaftlichen Pazifismus der Vereinten Nationen, wie ihn Walter Schücking (10) und Hans Wehberg (11) vertreten haben.“

Obwohl Adenauer als Jurist nicht sehr erfolgreich gewesen war, kannte er Schücking als denjenigen, der als einziger Deutscher von 1931 bis zu seinem Tod 1935 am Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag als Richter tätig gewesen war. Er wusste, dass die verbindliche Rechtsprechung unerlässlicher Teil eines jeden Systems kollektiver Sicherheit sein würde und ohne sie nicht funktionieren konnte. Carlo Schmid antwortete:

„Verehrter Herr Bundeskanzler! Wie Sie wissen, wird die Fraktion der SPD Sie in dieser Absicht voll unterstützen! Wir möchten Sie auch ermutigen, nach diesem ersten Schritt den nächsten in Erwägung zu ziehen, nämlich den Vereinten Nationen bestimmte Hoheitsrechte, die den Frieden und die Sicherheit betreffen, zu übertragen und sich in das von den Vereinten Nationen vorgesehene, aber noch nicht geschaffene System kollektiver Sicherheit einzuordnen. Damit würde die Sicherheitshoheit automatisch auf die Vereinten Nationen übergehen und uns davon befreien, für unsere Sicherheit selber Sorge tragen zu müssen.“

Die deutsche Initiative, sich umgehend der Rechtsprechung des internationalen Gerichtshofes unterwerfen zu wollen, wurde nicht nur in Washington, London und Paris, sondern auch in Moskau äußerst positiv aufgenommen. Die deutsche Presse berichtete von diesen Entwicklungen, und die Tageszeitung Die Welt schrieb unter der Überschrift „CDU und SPD kooperieren für den Weltfrieden“:

„Albert Einstein hatte im Oktober 1947 einen ‘Offenen Brief an die Generalversammlung der Vereinten Nationen’ geschrieben, in dem er um die ‘Mitarbeit Russlands und seiner Verbündeten’ bei der Errichtung einer den Weltfrieden sichernden ‘Weltregierung’ bat. Bekanntlich war die russische Reaktion zunächst nicht positiv (12). Wir begrüßen, dass die sowjetische Führung inzwischen ihre Meinung geändert hat und in dem Zusammenhang auch die neuen Vorschläge der Bundesregierung gutheißt. Viel Applaus hat in Moskau vor allem auch der Hinweis auf die Haager Friedenskonferenzen bekommen.“

1949 hatten die Amerikaner auch eine Resolution verabschiedet, in der es hieß:

„Das Repräsentantenhaus (mit Zustimmung des Senats) beschließt, dass es nach Auffassung des Kongresses ein grundlegendes Ziel der Außenpolitik der Vereinigten Staaten sein sollte, die Vereinten Nationen zu unterstützen und zu stärken und ihre Entwicklung zu einem Weltverband anzustreben, der allen Nationen offensteht und über festgelegte und begrenzte Befugnisse verfügt, die geeignet sind, den Frieden zu wahren und Aggressionen durch den Erlass, die Auslegung und die Durchsetzung des Weltrechts zu verhindern“ (13).

Die Resolution hatte über 100 Mitunterzeichner, darunter die Abgeordneten Gerald Ford (späterer Präsident der Vereinigten Staaten), John F. Kennedy (späterer Präsident der Vereinigten Staaten) und Franklin D. Roosevelt aus New York. Der Diplomat Ernst von Weizsäcker schrieb in seinem Buch Erinnerungen:

„Manche reden von einem Dritten Weltkrieg. Was er zerstören würde, kann man sich vorstellen. (…) Ich kann mir nicht denken, dass jemand diese Richtung der anderen vorziehen würde, die gleichfalls offensteht: Die friedliche und solidarische Bewegung zum föderalistischen Überstaat“ (14).

Hier zeigte sich ein gangbarer Weg mit dem klaren Ziel, einen dauerhaften Frieden zu begründen.

Diese US-Resolution wurde von allen Parteien im Deutschen Bundestag befürwortet und in den Medien umfassend kommentiert. Auch das russische Engagement in Bezug auf die 1950 anstehende Auseinandersetzung in Korea, das in einer Resolution zum Ausdruck kam, in der die UdSSR sich zu den Zielen des Artikels 106 der UNO-Charta (15) bekannte und seine Umsetzung forderte, um an der kollektiven Sicherheitsaktion der Vereinten Nationen gegen den nordkoreanischen Aggressor teilnehmen zu können (16), fand bedingungslose Anerkennung in der Bundesrepublik. Man hatte erkannt, dass es notwendig und möglich war, mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten.

Nach der Berliner Blockade und dem Gerangel um die Währungsreform kam es zwischen den vier Westzonen und der Ostzone zu einer Einigung. Otto Grotewohl (1894 bis 1964) schlug vor, in den Beratungen der Außenministerkonferenz der Vier Mächte, die gerade bevorstanden, solle „über die Durchführung gesamtdeutscher freier Wahlen für eine Nationalversammlung zur Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden Deutschlands“ und „über die Beschleunigung des Abschlusses des Friedensvertrages mit Deutschland“ gesprochen werden (17).

Mit der Erklärung Grotewohls vom 10. Oktober 1951, die Mehrzahl der Grundsätze sei „annehmbar“, schien sich der Beginn eines gesamtdeutschen Dialogs anzukündigen. Adenauer stimmte diesen Vorschlägen zu und traf entsprechende Vorkehrungen, um die beiden deutschen Teilstaaten zusammenzuführen.

Es gab jedoch auch Hindernisse. Eine wirksame Friedensorganisation und -durchsetzung setzte voraus, dass die Befürworter einen wissenschaftlichen Pazifismus, wie ihn der bereits erwähnte Völkerrechtler Walter Schücking vertrat, verstehen und sich dafür einsetzen könnten. In ihrem „Düsseldorfer Programm“ hatte sich die SPD 1946 gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands ausgesprochen. Insbesondere Gustav Heinemann (der später von der CDU zur SPD überwechselte) und Paul Löbe (1875 bis 1967) nahmen eine sehr klare pazifistische Haltung ein. Nachdem Konrad Adenauer nun Carlo Schmid seine Unterstützung zugesagt hatte, bat er Gustav Heinemann, in die CDU zurückzukehren, um dabei zu helfen, die gesetzgeberischen Schritte, die zur Stärkung der Organisation der Vereinten Nationen notwendig waren, auszuarbeiten.

Die Ereignisse überschlugen sich blitzartig. Der amerikanische Diplomat und Historiker George Kennan (1904 bis 2005) meldete sich mit einem Neutralisierungsplan für Deutschland zu Wort; ein neutrales, entmilitarisiertes Deutschland sollte als Puffer zwischen der Sowjetunion und dem Westen dienen.

Carlo Schmid riet Adenauer zuzustimmen. Der Neutralisierungsplan sollte verhindern, dass Deutschland zum Brennpunkt eines Konflikts zwischen Ost und West würde. Kennans Programm forderte den vollständigen Abzug der britischen, französischen, amerikanischen und sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland als ersten Schritt zur deutschen Wiedervereinigung (18).

Zur gleichen Zeit machte Josef Stalin, der von George Kennans Plänen wusste, einen ähnlichen Vorschlag, der auf einen vereinten, neutralen Staat abzielte. Die sogenannten „Stalin-Noten“ waren an keine Bedingungen hinsichtlich der Wirtschaftspolitik geknüpft und garantierten „die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Meinungs- und Pressefreiheit, der Religions- und politischen Überzeugungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit.“ Paul Sethe (1901 bis 1967), einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, glaubte an „die Ernsthaftigkeit von Stalins Notizen.“ Der Historiker Rolf Steininger (geboren 1942) meinte: „Stalins Angebot war ernst gemeint“ (19).

Ein geeintes, entwaffnetes und neutrales Deutschland mit einer Verfassung, die in der Lage wäre, den Prozess der Ermächtigung der Vereinten Nationen einzuleiten, war nun eine reale Möglichkeit. Das war es, was sowohl die Amerikaner als auch die Russen wollten!

Es war gut, dass die Regierung Adenauer friedenspolitisch die Initiative ergriffen und damit den Wünschen einer großen Mehrheit der Bevölkerung – die sich schon als befreite Weltbürger fühlten — entsprochen hatte. In einer Petition an Bundespräsident Theodor Heuss (1884 bis 1963), wahrscheinlich Ende 1951, verlangten 250.000 registrierte deutsche Weltbürger, Bundesregierung und Bundestag sollten einen „Beitrag (...) zur Erhaltung des Friedens“ leisten, indem sie „anlässlich der in Paris stattfindenden Generalversammlung der Vereinten Nationen und der gleichzeitig in Paris stattfindenden zweiten Tagung des Völkerkonvents“ der Weltbürger und Weltföderalisten (20) einen Antrag „auf folgende Beschlussfassung“ einbringen:

„Artikel 1: Erfüllung des Grundgesetzes, Artikel 24, Absatz 2“ (kollektive Sicherheit). In der „Begründung“ heißt es, „Es ist ein geschichtliches Verdienst des Parlamentarischen Rates (…) dem Bedürfnis Deutschlands nach einer föderativen Weltordnung durch Artikel 24 des Grundgesetzes Rechnung getragen zu haben“ (21).

Auch ein Wahlgesetz sollte erlassen werden, „das in der Bundesrepublik Deutschland Wahlen von Abgeordneten zum Völkerkonvent (…) ermöglicht“ (22).

Interessanterweise hatten am 3. August 1950 im US-Bundesstaat Tennessee bereits offizielle Wahlen von Delegierten für das Weltparlament stattgefunden. Die Amerikaner waren besonders fortschrittlich. Am 25. Oktober 1951 reichten die Weltbürger eine Petition ein, in der sie baten, Bundesregierung und Parlament sollten sich „um die gleichberechtigte Mitgliedschaft (…) in der Organisation der Vereinten Nationen (…) bemühen.“

Zugleich unterzeichneten in Frankreich die Gemeindevertretungen „von mehr als 40 Städten und Gemeinden mit mehr als 3 Millionen Einwohnern die ‚Weltbürgercharta‘ und erklärten sich symbolisch als Teil eines Weltstaates. Dem Beispiel folgten in Deutschland Königswinter, Oberwinter-Rolandseck und Bad Wimpfen am Neckar sowie viele andere Gemeinden in Italien, Belgien, Dänemark, Japan, Indien usw.“ (23).

Es war ein Glück, dass eine aufgeklärte Bundesregierung die Initiative ergriffen hatte, um zukünftige Kriege für immer zu ächten und unmöglich zu machen — Ziel schon der Haager Friedenskonferenzen.

Am 2. September 1953, nachdem Dänemark am 5. Juni 1953 den Artikel 20 angenommen hatte, verabschiedete der Deutsche Bundestag folgendes Gesetz:

DAS PARLAMENT

Vorschlag und Initiative für ein Gesetz zur Übertragung von Hoheitsrechten auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen

BUNDESTAG Gegenstand: Übertragung von Hoheitsrechten, betreffend das Recht des Staates auf Kriegführung und die nationale und internationale Sicherheit und den Weltfrieden, auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, gemäß Artikel 24 I GG und Artikel 24 I VN-Charta

Der Bundestag,

  • im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
  • von dem Willen beseelt, einen Prozeß einzuleiten, in dessen Verlauf sich die Organisation der Vereinten Nationen zu einem fähigen Instrument der Friedenssicherung entwickeln kann,
  • in der Erkenntnis der Notwendigkeit, daß zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit konkrete, vertrauensbildende Maßnahmen und rechtliche Schritte erforderlich sind, um ein schnelles und wirksames Handeln der Vereinten Nationen zu gewährleisten,
  • für die Organisation und Verteidigung des Friedens,
  • indem er aufrichtig einen internationalen Frieden auf der Grundlage der Gerechtigkeit und Ordnung anstrebt,
  • für eine Organisation, die den Frieden und die Gerechtigkeit zwischen Nationen sichert.

etc. etc. (24).

Von den 509 gewählten Abgeordneten stimmten 398 für den Gesetzentwurf. Fünf Abgeordnete enthielten sich der Stimme.

In New York stieß die deutsche Initiative auf große Zustimmung und sogar Begeisterung. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld (Schweden), kommentierte:

„Dank der deutschen Initiative sind wir jetzt in der Lage, das Unmögliche möglich zu machen. Es geht um den Frieden als innere Ordnung der Weltgesellschaft. Frieden ist mehr als die bloße Aussetzung der Gewalt, Friede muss organisiert werden.

Deutschland hat damit den Anstoß gegeben, damit die Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, den Übergang zu echter kollektiver Sicherheit und Abrüstung bewerkstelligen können. Wir sehen, wie eine Friedensverantwortung in den Gesellschaften entsteht.“

Italien zog mit einem ähnlichen Gesetzentwurf nach. Dänemark, Indien und Pakistan schlossen sich an. Auch die Ostblockstaaten gehörten zu den ersten, die dem Beispiel folgten, ebenso die südamerikanischen Staaten.

Juristen machten sich nun daran, für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Grundgesetz auszuarbeiten. Der Jurist Wilhelm Grewe hatte in seinem Kommentar zu der Charta der Vereinten Nationen 1948 geschrieben:

„Wenngleich die Charta in der Entwicklung zu einem föderativen Weltsystem vielleicht nützliche Dienste zu leisten vermag, so enthält sie doch selbst noch keine wesentlichen Ansätze zur Verwirklichung eines solchen Systems“ (25).

Mit der deutschen Initiative und der Umsetzung des Friedensgebots sei nun jedoch, so Grewe, der Ansatz zur Verwirklichung eines solchen Systems gegeben.

Insgesamt brauchte der Prozess, der mit der deutschen Initiative seinen Anfang genommen hatte, einige Zeit. 1955 markierte das Ende der Besatzungszeit in Deutschland und Österreich.

Bei seiner Moskaureise spricht Bundeskanzler Konrad Adenauer mit Parteichef Nikita Chruschtschow und Verteidigungsminister Nikolai Alexandrowitsch Bulganin. Auch die Sowjetunion bekennt sich, wie zuvor Frankreich, Großbritannien, die USA und China, zu ihrer Verantwortung, während des Übergangs zu dem System der kollektiven Sicherheit und Abrüstung dafür zu sorgen, dass keine Sicherheitslücken entstehen.

Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer hatte zuvor verkündet:

„Nach meiner Überzeugung kann nur dadurch in Wahrheit der Frieden in der Welt wiederhergestellt werden, dass die mächtigsten Länder der Welt (…) kontrollierte Abrüstung in einem solchen Grade vereinbaren und vornehmen, dass (…) keine Angriffe mehr Aussicht auf Erfolg bieten (…) auf dieser Grundlage lassen sich Sicherheitssysteme aufbauen“ (26).

Etwas später sagte er in einem Interview in der Welt am Sonntag:

„Kein Sicherheitssystem, es mag noch so gut gemeint, noch so gut ausgedacht sein, wird der Welt den Frieden geben, wenn nicht wenigstens der Beginn einer allgemein kontrollierten Abrüstung Wirklichkeit wird“ (27).

Eben dies stand nun im Begriff Wirklichkeit zu werden.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen forderte die UN-Mitgliedstaaten auf, die Einrichtung einer internationalen Polizeitruppe zu unterstützen und dem Sicherheitsrat entsprechende Einheiten zur Verfügung zu stellen.

In Dänemark hatte der Vorsitzende der dortigen Weltföderalisten, Dr. Hermod Lannung (1895 bis 1996), gute Vorarbeit geleistet und zu vielen osteuropäischen und kommunistischen Kollegen Kontakt gepflegt, mit ihnen einen friedenspolitischen Dialog unterhalten und Pläne geschmiedet.

Die Sowjetunion entwickelte sich zu einer Föderation, deren Einzelstaaten im Rahmen der sich entwickelnden Weltordnung eine autonome Stellung zukam.

Es gab allerdings auch Schwierigkeiten, da einige Staaten versuchten, George Orwells Vision zu realisieren und eine Blockpolitik zu betreiben. Während Bürgerinitiativen, NGOs, Vereine und die Friedensbewegung den Abrüstungsprozess vor Ort begleiteten, kontrollierten, und halfen, den Abrüstungsprozess durchzusetzen, formierten sich einige Bürger in einer Widerstandsbewegung gegen das von ihnen angenommene „Diktat“ der „Weltregierung“, gingen in den Untergrund und sammelten Waffen für den Widerstand.

Nur der Frieden lastet nicht auf der Erde. Sayonara.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Die in den Fußnoten angegebenen Quellen sind allesamt Originalquellen. https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/75jahre/erster_bundestag/konstituierende-sitzung-933586/.
(2) https://www.slpb.de/fileadmin/media/Themen/Geschichte/CSchmid_GG.pdf.
(3) The Charter of the United Nations: With Addresses Selected from the Proceedings of the UNITED NATIONS CONFERENCE, San Francisco, April–June 1945, Vorwort Frederick Lewis Allen, Scranton, Pa., The Haddon Craftsmen 1945, Seite 78. Siehe auch L’oeuvre de Léon Blum. Naissance de la Quatrième République: La Vie du Parti et la doctrine socialiste, 1945 bis 1947, Paris, Editions Albin Michel 1958, Seite 228.
(4) Oevre de Léon Blum, Seite 174: nulle frontière, nul armement ne feront désormais obstacle aux destructions de la bombe atomique. La paix ne peut être recherchée que dans une organisation mondiale de la sécurité collective. … elle doit prendre la forme d'une fédération de nations autonomes abandonnant chacune une part de leur souveraineté à un organisme international doté d'une direction propre. Siehe auch Les idées politiques et sociales de la résistance, by Henri Michel and Boris Mirkine-Guetzévitch, 1954.
(5) So auch der französische Kommentar: LA CHARTE DES NATIONS UNIES. Commentaire article par article sous la direction de Jean-Pierre COT et Alain PELLET, mit einem Vorwort von Kofi ANNAN und Javier PEREZ de CUELLAR, Paris, ECONOMICA 1985.
(6) Vergleichen Sie auch: Petra Weber, Carlo Schmid, 1896 bis 1979. Eine Biographie, Suhrkamp 1998, die einmal, auf Seite 360 schreibt: „Fest stand für ihn [Carlo Schmid], dass nur ‚regionale Pakte‘ im Rahmen der UN, nicht die UN selbst, ein wirksames System der kollektiven Sicherheit schaffen können,“ widerspricht sich aber auf Seite 453, wo sie Carlo Schmid zitiert: „Ich habe von einem System kollektiver Sicherheit gesprochen, das die Ganzheit der Staatenwelt umspannen soll und nicht von einem, das aus einer Reihe machtpolitischer Blöcke bestehen soll.“
(7) Erklärung des Präsidenten des Parlamentarischen Rates anlässlich der Verkündung des Grundgesetzes Für die Bundesrepublik Deutschland in Bonn am 23.Mai 1949. https://www.konrad-adenauer.de/seite/23-mai-1949/.
(8) Klaus Schlichtmann, 1950—how the opportunity for transitioning to United Nations Collective Security was missed for the first time (1950 — wie die Chance zum Übergang zur kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen zum ersten Mal verpasst wurde), Global Nonkilling Working Papers, Nummer 11 (2016), Seite 18 und 47 zum französischen Artikel.
(9) Die Schweiz hatte sich am 28. Juli 1948 der Rechtsprechung des IGH unterworfen.
(10) Klaus Schlichtmann, Walther Schücking (1875-1935) — Völkerrechtler, Pazifist und Parlamentarier, HMRG, Bd. 15 (2002), Seite 129 bis 147.
(11) Hans Wehberg, Die Ächtung des Krieges. Eine Vorlesung an der Haager Völkerrechtsakademie und am Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales (Genf), Berlin, Verlag von Franz Vahlen, 1930.
(12) Albert Einstein, Über den Frieden. Weltordnung oder Weltuntergang? herausgegeben von Otto Nathan und Heinz Norden, Vorwort von Bertrand Russell, Melzer Verlag 2004. Der Vorgang findet sich auf den Seiten 450 bis 455.
(13) United States Congress, House, Committee on Foreign Affairs. To Seek Development of the United Nations into a World Federation. Hearing. 81st Cong., 1st Sess., October 12 and 13, 1949, pp. 1-2. S. auch Lawrence H. Fuchs, The World Federation Resolution: A Case Study in Congressional Decision- Making, Midwest Journal of Political Science, vol. 1, no. 2 (1957).
(14) Ernst von Weizsäcker, Erinnerungen, München, Leipzig und Freiburg im Breisgau, Paul List 1950, Seite 380.
(15) Kapitel XVII (Übergangsbestimmungen betreffend die Sicherheit), Artikel 106: Bis das Inkrafttreten von Sonderabkommen der in Artikel 43 bezeichneten Art den Sicherheitsrat nach seiner Auffassung befähigt, mit der Ausübung der ihm in Artikel 42 zugewiesenen Verantwortlichkeiten zu beginnen, konsultieren die Parteien der am 30. Oktober 1943 in Moskau unterzeichneten Viermächte-Erklärung und Frankreich nach Absatz 5 dieser Erklärung einander und gegebenenfalls andere Mitglieder der Vereinten Nationen, um gemeinsam alle etwa erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Namen der Organisation zu treffen.
(16) Die russische Resolution wurde zum ersten Mal am 27. Juni und zuletzt am 11 Oktober1950 in einer UN- Unterkommission eingereicht, siehe Seite 381: https://legal.un.org/repertory/art106/english/rep_orig_vol5_art106.pdf.
(17) https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/OQHVKFHTV2QNBXZAVUNIB5VKQARVN7CD.
(18) John Gleb, Dividing Germany, Accepting an Invitation to Empire: The Life, Death, and Historical Significance of George Kennan’s ‚Program A‘, Claremont-UC Undergraduate Research Conference on the European Union, Vol. 2017, Article 9. Online: https://scholarship.claremont.edu/urceu/vol2017/iss1/9.
(19) Rolf Steininger, Eine vertane Chance. Die Stalin-Note vom 10, März 1952 und die Wiedervereinigung, Dietz Verlag 1985.
(20) Die erste Tagung des Völkerkonvents fand vom 30.Dezember 1950 bis 5.Januar 1951 in Genf statt. https://www.spiegel.de/politik/weltbuerger-a-07d3067a-0002-0001-0000-000029193576.
(21) Ebd.
(22) Klaus Schlichtmann, Helmut Hertling (1890-1991) und die Weltbürgerbewegung, in Detlev Bald und Wolfram Wette (Hrsg.), Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges, Klartext 2010.
(23) Ebd.
(24) Einen ähnlichen Vorschlag hatten die deutschen Weltföderalisten 1987 in New York auf der Konferenz der Vereinten Nationen über den Zusammenhang zwischen Abrüstung und Entwicklung eingebracht.
(25) Wilhelm Grewe, Die Satzung der Vereinten Nationen 1948, Seite 34.
(26) Konrad Adenauer vor dem Deutschen Bundestag, 27.Mai 1955. Bulletin 99/55.
(27) Welt am Sonntag, 17. Juli 1955. Bulletin 131/555.

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