Eine Kolumne, die Medienrealität heißt, ist eine Art Müllkippe. Frust abladen. Auf die Leitmedien schimpfen, Staat, Parteien und Behörden anklagen, Bücher verreißen. Irgendetwas gibt es immer. Wenn der Journalismus seinen Job machen würde, hätten die Angstmacher keine Chance. Dann würden wir in aller Ruhe reden — über Kriege und über Viren genauso wie über Forscher, die vom nahen Untergang der Welt singen. Wir würden dann schnell sehen, dass es Gegenargumente gibt, Alternativen und vor allem keinen Grund zur Panik. Rubikon lebt, weil das nicht passiert. Und Rubikon ist nicht allein, weil eine Müllkippe nicht reicht für all das, was ergänzt, eingeordnet, widerlegt werden muss.
Das große Aber:
Wer immer nur dagegen ist, verliert irgendwann die Welt aus dem Blick, in der er gern leben würde.
Natürlich: Ich weiß, woran ich die Leitmedien messe. In Kurzform: Auftrag Öffentlichkeit. Alle Themen und alle Perspektiven, ohne dass dem Publikum gesagt wird, was es von diesem zu halten hat und was von jenem. Ich weiß auch, warum die Redaktionen an diesem Auftrag scheitern und ihn deshalb inzwischen am liebsten umschreiben würden (2). Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es besser machen könnte, und schon gar nicht, dass ich etwas in der Tasche habe, wenn ich morgen als Medienminister aufwache.
Ganz stimmt dieser letzte Satz nicht mehr. Ich muss dazu etwas ausholen und von einem Forschungsverbund erzählen, den ich 2017 beim Wissenschaftsministerium in Bayern beantragt habe. Es ging um die „Zukunft der Demokratie“ und vor allem um den Wunsch, den Elfenbeinturm zu verlassen und all das aufzugreifen, was jenseits der Universität längst gedacht und gewusst wird. Auch hier wieder in Kurzform: die Menschen nicht nur befragen und deuten, sondern ernst nehmen und im Zweifel selbst schreiben lassen. Bürgerwissenschaft sozusagen.
Mein eigenes Projekt in diesem Verbund hieß „Media Future Lab“ und hat in Schritt eins erst einmal alles eingesammelt, was es zum Journalismus der Gegenwart zu sagen gibt. Realität und Idealismus in den Redaktionen, Gegenpositionen von Paul Schreyer über Jens Wernicke und Marcus B. Klöckner bis zu Florian Rötzer, linken Aktivismus und Volkes Stimme, gehört zum Beispiel bei „Corona-Gesprächen in München und Oberbayern“ oder „am Rande der Wahrheit in Hildburghausen“ (3). Die Fachgemeinschaft hat dieses Buch von einem prominenten Kollegen in den Papierkorb werfen lassen. Tenor: Kennen wir schon, brauchen wir nicht. Viel zu nah an Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern. Und dann wird noch nicht mal gegendert (4).
Dieses Buch war allerdings ohnehin nur Mittel zum Zweck. Schritt zwei sollte ein Bürgergutachten liefern: Wie können — vielleicht sogar: wie müssen — wir den Journalismus organisieren, um den Glaubwürdigkeitsverlust zu stoppen und Lügenpresse-Rufe obsolet zu machen? Ein solches „Bürgerbuch“ gibt es jetzt, mit etlichen Sternchen im Text und einigen Verbeugungen vor den Götzen Coronas (5). So ein Verriss aus berühmter Feder hinterlässt Spuren.
Ich bin zwar Projektleiter geblieben, habe das Ergebnis aber erst gesehen, als es aus der Druckerei kam. Man braucht etwas Geduld, um die Texte der Bürger zu finden und diesen Kern von dem Gesäusel zu trennen, das um ihre Entstehung gemacht wird. Der Kern aber ist gut. Aus diesem Kern kann etwas wachsen.
Das beginnt mit Frieder Schädlich aus Zwickau, einem der wenigen Beteiligten, der nicht nur beim Vornamen genannt wird. Frieder sagt: Die Leitmedien sind nicht zu reformieren. Es lohnt sich nicht einmal, über eine Reform nachzudenken, weil Leitmedien immer die Interessen der Macht transportieren. Frieder spricht deshalb über eine andere Gesellschaft. Weniger Egoismus, Basis- und Rätedemokratie, ähnliche Werte trotz unterschiedlicher Bildung. Der neue Journalismus, sagt Frieder, komme dann von ganz allein und bringe nur noch das, was wir brauchen, um mitdenken und mitmachen zu können — „unabhängig, wahrheitsgemäß, ohne fremde Macht- oder finanzielle Interessen“ (6).
Dass Jimmy Gerum an eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks glaubt, dürfte sich herumgesprochen haben. Jimmy war schon im ersten Buch dabei, damals noch unter Pseudonym. Seine Medienkritik gibt es jetzt auch im zweiten Buch, ausgeformt in einer Münchner Arbeitsgruppe, die einen großen Bogen schlägt von der Regierungsnähe des Journalismus über das Herzland und Tabus bis zur Geldtheorie und einem Menschenbild, das Homo democraticus heißt und das Fundament ist, auf dem vor über einem Jahr erst der „Leuchtturm ARD“ gebaut wurde und nun seit mehr als 30 Wochen ein „Medien-Mahn-Marathon“ mit Aktionen im ganzen Land. Wenn man so will: Jimmy Gerum hat nicht auf ein Bürgerbuch gewartet, sondern einfach gemacht. Ausgang offen.
Seine Arbeitsgruppe hat derweil eine „Verfassungsutopie“ formuliert. Untertitel: „Wie der Rat für Nachhaltiges Informieren den demokratischen Selbstbetrug stoppt“ (7). Nachhaltig tatsächlich großgeschrieben und wie die meisten Adjektive überflüssig – in diesem Fall ganz besonders, da das Wort eher Teil des Problems zu sein scheint als seine Lösung. Geschenkt. Auf den Inhalt kommt es an. 150 Mitglieder in Vollzeit, zur Hälfte gewählt, zur Hälfte ausgelost und einem Auftrag verpflichtet, der vorab so breit wie möglich diskutiert werden soll. Die drei Vorschläge aus Jimmys alter Gruppe: auf die Gewichtung von Themen und Argumenten achten, Interessen und Befangenheiten offenlegen und so für Transparenz sorgen sowie Versöhnung anstoßen zwischen den Leitmedien und ihren Kritikern.
Zentral ist der Schluss: ohne Ausgewogenheit bei den Informationen keine freie Meinungsbildung und damit keine Demokratie. In München sieht man das nicht anders als Frieder Schädlich in Zwickau. Nicht alle Sachsen sind pessimistisch.
Von hier stammen drei Ideen, die auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zielen – auf den Kanal, den wir alle bezahlen müssen und der deshalb gewissermaßen von selbst zum Thema wird, wenn man Bürger nach ihren Medienträumen fragt. Am weitesten sind dabei sechs Leipziger gekommen, die ihr Papier mit einer „Vision“ beginnen. Ein Rundfunk, der die Politik kontrolliert und allen gehört. Ein Journalismus, der frei ist „von ökonomischen und strukturellen Zwängen“ und offen für jeden. „Technik zur Veröffentlichung stellt der ÖRR zur Verfügung.“ Und, nicht unwichtig: „Qualität“ statt „Quote“ (8).
Der Schlüssel, um solche Wünsche wahr werden zu lassen: ein Rundfunkrat, der ausgelost und so geschult und bezahlt wird, dass er das Programm tatsächlich beobachten und überall dort eingreifen kann, wo aus Journalismus „Meinungsmanipulation, ideologische Propaganda oder Desinformation“ wird. Neben dieser Feuerwehr schlagen die Leipziger feste Arbeitsverträge vor, den Verzicht auf jedes Outsourcing und damit auf jede Bereicherung zulasten der Allgemeinheit sowie ein Transparenzregister, das Netzwerke genauso offenlegt wie Mitgliedschaften, Werdegang und Besitz.
Auf den knapp 20 Seiten dieser „Arbeitsgruppe Leipzig“ gibt es noch mehr und vor allem gute Gründe, am Ende aber steht ein Zitat von Heiko Hilker, in den 1990ern einer der wichtigsten Köpfe der DT64-Bewegung und heute einer der wenigen Rundfunkpolitiker, die diesen Namen verdienen. Hilker, seit einer Ewigkeit im MDR-Rundfunkrat, glaubt nicht an eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: „Er müsste schöpferisch zerstört werden, aber Sie werden ihn nicht neu gründen können. Weil es sofort eine massive Auseinandersetzung mit anderen Interessengruppen gäbe. In dieser Gesellschaft wird das nicht gehen. Erst wenn sich das gesellschaftliche System verändert, kann sich auch ein Mediensystem reformieren, wie damals nach 1989“ (9). Damit sind wir wieder bei Frieder Schädlich.
Vermutlich sieht das auch Maren Müller so, seit 2014 Kopf der „Ständigen Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien“. Die Programmbeschwerden, die dieser Verein auf seiner Webseite dokumentiert, sind Legion. Mir war vom ersten Tag an klar: Für das Projekt „Media Future Lab“ gibt es keine bessere Partnerin. In Marens Gruppe sind zwei Vorschläge gewachsen, die das flankieren, was die Leipziger planen: ein Tool, auf dem jeder für alle sichtbar unterbringen kann, was ihm nicht gefällt, sowie ein Stiftungskonzept (10). Arbeitstitel: Medientest. Über die Details lässt sich streiten. Brauchen wir wirklich „Qualitätssiegel“ und „Warnhinweise“? Reichen nicht Stipendien, Tagungen, Aufklärung? Überhaupt: Was ist mit Hilfe zur Selbsthilfe – mit dem, was früher Medienkompetenz hieß und heute eher Informationsautonomie oder Journalismushygiene genannt werden sollte?
Egal. Wenn Intendanten, Gremien und Parteien ihre Sonntagsreden zur Medienreform ernst meinen und nicht auf eine Revolution aus dem Hause Schädlich warten wollen, dann haben sie jetzt einen Anfang. Sie sehen hier auch, dass man keine Angst haben muss und die Bürger einfach machen lassen kann. Ich sage das auch zu mir selbst. Mein Menschenbild, das dieses Projekt getragen hat, ist seit dem Frühjahr 2020 erschüttert. Ein Dank an Frieder, Jimmy und Maren, ein Dank an die Leipziger und die vielen nicht Erwähnten. Mit euch können Medienträume Wirklichkeit werden.
Das Buch können Sie hier bestellen: als Taschenbuch, E-Book oder Hörbuch.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche Alexis von Mirbach: Medienträume. Ein Bürgerbuch zur Zukunft des Journalismus. Herbert von Halem, Köln 2023
(2) Vergleiche Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft, München, Rubikon 2021
(3) Vergleiche Alexis von Mirbach, Michael Meyen: Das Elend der Medien. Schlechte Nachrichten für den Journalismus. Herbert von Halem, Köln 2021
(4) Vergleiche Siegfried Weischenberg: Wie groß ist das „Elend der Medien“? In: Journalistik Nummer 3/2021, Seite 199 bis 217
(5) Alexis von Mirbach (Anmerkung 1)
(6) Ebenda, Seite 89
(7) Ebenda, Seite 118 bis 127
(8) Ebenda, Seite 133 bis 150. Auch die Zitate im folgenden Absatz stammen aus dem Papier der „Arbeitsgruppe Leipzig“.
(9) Ebenda, Seite 151
(10) Ebenda, Seite 160 bis 178
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