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Das Corona-Tagebuch

Das Corona-Tagebuch

Die Mutmach-Redaktion lädt die Rubikon-Leser zum kollektiven Schreiben ein. Teil 26.

Briefe aus dem Gefängnis

1. Mai 2020

Schräg gegenüber joggt eine Frau im Kreis auf der Dachterrasse ihres Gebäudes, während ich in meiner zeitlosen Isolation im Sessel sitze und aus dem Fenster schaue. Seit fast zwei Monaten — sieben Wochen, 49 Tagen — sitze ich alleine in meiner Wohnung.

Ich kann es beinahe selbst nicht glauben, dass ich seit März, als es noch frischer war und ich noch einen Wintermantel trug, nicht mehr wirklich draußen war. Es ist Mai! Den ganzen Frühling verbringen die Menschen hier in der Wohnung. Kinder durften gar nicht aus dem Haus, nicht einmal zum Einkaufen! Erst seit dieser Woche — nach sechs Wochen! — dürfen sie eine Stunde am Tag an die frische Luft.

Ein oder zweimal pro Woche gehe ich die hundert Meter bis zum Supermarkt und drehe heimlich eine kleine Runde durchs Viertel. Einmal pro Woche fahre ich zu meiner Therapeutin die acht Kilometer nach Palma — erst mit dem Bus, die letzten zwei Male mit dem Fahrrad am Meer entlang. Genießen kann ich diese Fahrt nicht, da ich unterschwellig immer Angst vor einer Polizeikontrolle habe.

Doch wovor fürchte ich mich eigentlich? Vor einer Geldstrafe oder Gefängnis? Wohl kaum. Ich gehe davon aus, dass ich einfach nur nach Haus geschickt würde. Wovor habe ich dann Angst? Vor genau diesem Gefühl? Dass ein wildfremder Mensch mich nach Hause schicken darf, als wäre ich ein ungezogenes Kind, das in sein Zimmer gehen soll?

Solange ich freiwillig die Kontrollen vermeide, fühle ich mich vielleicht noch nicht ganz so entmündigt? Ebenfalls wie ein ungezogener Teenager, der nachts heimlich aus dem Fenster klettert, schlendere ich durch kleinere Straßen in meinem Viertel, bis zu meiner Lieblingsstelle am Meer und sitze dort eine Weile. Doch auch hier genieße ich das nicht wie sonst, denn vielleicht, so denke ich, verpetzt mich einer der Hundebesitzer, die vorbeikommen, oder der Hubschrauber, der in unregelmäßigen Abständen die Küsten abzusuchen scheint, kehrt zurück.

Ich sehe den wenigen Menschen, die vorbeikommen, bewusst in die Augen und grüße mit einem Lächeln. Alle lächeln zurück. Niemand verpetzt mich.

Meine Stimmung schwankt in diesen Wochen der Isolation von einem Extrem ins andere. Oft durchlebe ich sämtliche Emotionen an einem Tag. Freudig beschwingt schmeiße ich mich in Schale, springe im roten Blumenkleid auf meiner Terrasse Trampolin, um eine Stunde später wie ein Häufchen Elend auf dem Teppich im Arbeitszimmer zu sitzen und unter Tränen zusammenzubrechen.

Nach 32 Tagen fühle ich mich ausgelaugt und ohne Hoffnung auf ein „Danach“. Wenn ich „#Quedateencasa“- und „#Stayathome“-Posts in den sozialen Netzwerken sehe, überkommt mich eine große Lust, diesen Menschen eine zu scheuern. Nicht sehr friedfertig, ich weiß. Doch es macht mich so wütend, dass so getan wird, als wäre das nichts. Bleibt doch einfach mal zuhause! Als würde es keine seelischen Spuren hinterlassen. Also poste ich selbst ein Selfie, das mich so zeigt, wie ich mich fühle.

Bild

Hört doch mal auf so zu tun, als ginge es hier nur um die anderen. Immer schauen wir auf die anderen und tun so, als würden wir uns um sie sorgen. Die Armen, die Alten, die Minderheiten. Stattdessen wissen wir ja nicht einmal, wie wir richtig für uns selbst sorgen. Vielleicht wollen die anderen unsere „Hilfe“ gar nicht. Hat die mal jemand gefragt? Es erscheint mir so scheinheilig. Zum Schutz der „Anderen“ bringen wir jetzt Opfer. Dieser Selbstbetrug.

Wir können nur uns selbst schützen. Den anderen tun wir vielleicht den größten Gefallen, wenn wir sie wie mündige Erwachsene behandeln und sie erst einmal zu Wort kommen lassen, bevor wir uns selbst einsperren und jedem an die Gurgel gehen, der Wert auf seine Bewegungsfreiheit und wirkliche Gesundheit durch frische Luft und Tageslicht legt.

Das Skurrilste an der Ausgangssperre ist der Eindruck, als wäre alles wie immer, nur ruhiger, friedlicher, schöner. Die Natur atmet auf. Kein Lärm durch Autos und Flugzeuge. Stattdessen ein munteres Treiben an Vögeln am Himmel. Gleichzeitig fühlt es sich unterschwellig so an, als zöge sich eine unsichtbare Schlinge um meinen Hals immer fester zu und nehme mir mit der Zeit die Luft zum Atmen.

Vor wenigen Monaten noch lasen mir Isabelle und Hans den Auszug aus den Briefen aus dem Gefängnis von Rosa Luxemburg vor, in dem sie ihre unbegründete Heiterkeit beschreibt, während sie in der Finsternis ihrer Gefängniszelle liegt. Nur eine Woche vor der Ausgangssperre sprach ich darüber noch mit Ken Jebsen in unserem „Nur Mut!“-Interview und fragte mich, wie ich in der Stunde der Bewährung reagieren würde. Wer hätte gedacht, dass diese bereits eine Woche später schlagen würde?

Ich weiß noch immer nicht, wie ich reagieren würde, denn diese jetzige Stunde der Bewährung fühlt sich nicht so an, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Es ist völlig unspektakulär. Ich soll einfach in der Wohnung sitzen bleiben. Verweigere ich den Gehorsam, rette ich weder die Demokratie noch erregt es irgendeine Aufmerksamkeit. Ich würde einfach eine Geldstrafe zahlen. Niemand würde es mitbekommen.

Ich fühle mich wie eine Versagerin. Bedeutungslos. Schäme mich, dass ich so viel über meine Isolation herumjammere, während meine Vorbilder wie Julian Assange und Rosa Luxemburg das sicher nie tun würden. Oder vielleicht doch? Wenn keiner sie sieht? Sind sie nicht auch nur Menschen?

Die Autorin Katrin McClean hat die Idee, ein Corona-Tagebuch zu starten und bittet uns als Mutmach-Redaktion um Hilfe. Begeistert setzen wir uns — digital — zusammen und starten die Aktion. Ich fühle mich besser. Unternehme immerhin aus der Ferne etwas, um in Deutschland zur Verteidigung der Grundrechte und dem Frieden in der Gesellschaft beizutragen, den Menschen ein Sprachrohr zu bieten, wo sie sich mitteilen und austauschen, vernetzen und in Aktion treten können.

An manchen Tagen fühle ich mich von all den Einsendungen per Mail überfordert, an anderen beflügelt. Ich verbringe zu viel Zeit am Computer. Mein Tor zu anderen Menschen. Doch der digitale Kontakt ersetzt nun einmal keine Umarmung.

Nach einer Therapiesitzung fahre ich spontan zu meiner Freundin Petra, als ich keine Polizei in ihrer Straße sehe, durch die ich sowieso fahre. Ich trage mein Fahrrad die vier Etagen hoch, damit es keine Aufmerksamkeit erregt. Nach sechs Wochen sehen wir uns das erste Mal wieder und umarmen uns. Eine Umarmung. Wie sehr habe ich das gebraucht.

Auf dem Nachhauseweg am Meer entlang fühle ich mich frei. Ab und zu treffe ich andere Menschen. Heute habe ich keine Angst, genieße die Fahrt, sprudele vor Lebensenergie über, als wehe ein frischer Wind durch meinen ganzen Körper.

Als ich ohne Polizeikontrolle zuhause ankomme, kehrt die Beklemmung zurück. Ich bin zurück in meinem goldenen, unsichtbaren Gefängnis. Die mir willkürlich erscheinende Verlängerung der strengen Ausgangssperre alle zwei Wochen, die Ungewissheit, wann der Spuk ein Ende hat und noch immer der quälende Gedanke, wie lange die Menschen — auch ich — uns das noch gefallen lassen.

2. Mai 2020

Vor ein paar Tagen kam nun die Erleichterung: Wir dürfen ab heute wieder vor die Tür zum Spazierengehen oder Sportmachen. Dazu gibt es bestimmte Zeiten für die verschiedenen Altersgruppen. Ich darf von 6 bis 10 Uhr morgens und von 20 bis 23 Uhr abends raus.

Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder empören soll. Wie affig ist das eigentlich alles? Hier scheint niemand in Frage zu stellen, ob das alles Sinn ergibt und nicht absolut unverhältnismäßig ist. Die Gelassenheit der Mallorquiner, die ich kenne, tut mir gut und macht mich zugleich wütend.

Ich erinnere mich an ein Buch, in dem ich von der Gleichzeitigkeit der Dinge las. Genau das erlebe ich nun:

Die Situation macht mir Angst, ich fühle mich entmündigt, der Passivität einer Masse, gegen die ich nicht ankomme und die ich nicht erreichen kann, ausgeliefert, gleichzeitig aber bin ich voller Tatendrang, meinen Beitrag zu leisten und nicht aufzugeben, egal, wie aussichtslos es scheint, mich jeden Tag nach meiner Absicht zu fragen und die lautet für Frieden und Menschlichkeit aktiv zu sein, also lächle ich weiter die Menschen an, die mir begegnen, erinnere uns beide dadurch an unseren lebendigen Kern, dem das ganze Affentheater der Politik und Großkonzerne egal ist, weil er einfach lebt, egal, was sie tun.

Und auf einmal empfinde ich Aufbruchstimmung. Stelle staunend fest, dass Menschen in Deutschland sich meditierend und friedlich für das Grundgesetz auf die Straße setzen, neue Parteien gründen, uns beim Rubikon bestärkende Liebesbriefe schreiben und fühle mich nicht mehr so allein in meinem Hausarrest, sondern als Teil der Menschheitsfamilie.

Auf einmal bekomme ich mit, dass die Mallorquiner sich auch schon seit einer Weile diskret und heimlich gegenseitig besuchen und doch nicht einfach zulassen, dass man ihnen das nimmt, was ihnen das Wertvollste ist: Die Geselligkeit und Lebensfreude. Hasta la victoria siempre, grinst eine Stimme schelmisch in meinem Kopf. Für die Revolution aus dem Hamsterrad des Materialismus hin zu einem artgerechten Leben als Menschheitsfamilie. Ich weigere mich, diese Hoffnung aufzugeben.


Das Corona-Tagebuch im Überblick:

Teil 1: Katrin McClean, Corona-Tagebuch
Teil 2: Roland Rottenfußer, Der letzte freie Tag
Teil 3: Isabelle Krötsch, Corona-Tagebuch
Teil 4: Kerstin Chavent, An das Mögliche glauben
Teil 5: Anonym, Meine Mutter und die Isolation
Teil 6: Gabriele Herb, Aufruf zur Wachsamkeit!
Teil 7: Paul Löber, Spanienbericht
Teil 8: Liselotte Korfmacher-Finke, DemokratInnen unerwünscht
Teil 9: Michael Bock, Sind wir bereit, uns zu verändern?
Teil 10: Oliver Märtens, Corona-Tagebuch
Teil 11: Dirk Hüther, Gehen, Sehen, Handeln!Teil
Teil 12: Doris Röschmann, Jenseits von richtig und falsch
Teil 13: Mathilda Libertad, Irgendnirgendsicherwo
Teil 14: Heidemarie Weber, Corona-Tagebuch
Teil 15: Daniela Wolter, Corona-Tagebuch
Teil 16: Thomas Hochschild, Corona-Tagebuch
Teil 17: Wolf Schneider, Hausarrest
Teil 18: Jitka Nickel, Kopfcorona — das Trauma sickert ein
Teil 19: Heike Wentland, Corona-Tagebuch
Teil 20: Michael Bock, Die fast perfekte Show & Eine Frage an die Liebe
Teil 21: Dijana Ilic, Eine Antwort auf die Frage : Mama, wo warst Du?
Teil 22: Anna Köppel, Nicht in meinem Namen
Teil 23: Ines Maas, Was soll ich tun?
Teil 24: Helene Bellis, Wie ich auszog, die verrückt gewordene Welt zu retten
Teil 25: Sophia Alt, Anarchie zum Frühstück


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


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