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Das elfte Gebot

Das elfte Gebot

„Du sollst keinen Völkermord begehen“ ist ein Grundsatz, den eigentlich niemand anzweifeln könnte. Dennoch verstößt Israel auf brutale Weise dagegen — mit westlicher Hilfe.

Es gibt nur eine Möglichkeit, den anhaltenden Völkermord in Gaza zu beenden. Bilaterale Verhandlungen sind es nicht. Israel hat unter anderem durch die Ermordung des führenden Unterhändlers der Hamas, Ismail Haniya, hinreichend gezeigt, dass es an einem dauerhaften Waffenstillstand kein Interesse hat.

Die einzige Möglichkeit, Israels Völkermord an den Palästinensern zu beenden, ist die Einstellung aller Waffenlieferungen der USA an Israel. Und dies wird nur und nur dann geschehen, wenn genügend US-Amerikaner deutlich machen, dass sie nicht die Absicht haben, eine Präsidentschaftskandidatur oder eine politische Partei zu unterstützen, die diesen Völkermord befeuert.

Die Argumente gegen einen Boykott der beiden Regierungsparteien sind bekannt: „Er würde die Wahl Donald Trumps sicherstellen.“ — „Kamala Harris hat rhetorisch mehr Mitgefühl gezeigt als Joe Biden.“ —„Wir sind zu wenige, um etwas zu bewirken.“ — „Wir können innerhalb der Democratic Party arbeiten.“ — „Die Israel-Lobby, vor allem das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC), dem die meisten Kongressabgeordneten angehören, ist zu mächtig.“ — „Letztendlich werden Verhandlungen ein Ende des Gemetzels erreichen.“

Kurz gesagt: „Wir sind machtlos und müssen unsere Handlungsfähigkeit aufgeben, um ein Massentötungsprojekt aufrecht zu erhalten.“ — „Wir müssen es als normale Vorgehensweise einer Regierung akzeptieren, dass Hunderte Millionen US-Dollar an Militärhilfen an einen Apartheidstaat gehen, dass im US-Sicherheitsrat Vetos dafür eingesetzt werden, Israel zu schützen, und dass internationale Bemühungen, den Massenmord zu beenden, aktiv behindert werden.“ — „Wir haben keine Wahl.“

Völkermord, international als Verbrechen aller Verbrechen anerkannt, ist keine politische Frage. Man kann ihn nicht gleichsetzen mit Handelsabkommen, Infrastrukturabkommen, Charterschulen oder Immigration.

Es handelt sich um eine moralische Frage. Es geht um die Auslöschung eines Volkes. Jegliche Kapitulation vor dem Völkermord verdammt uns als Volk und als Spezies.

Er bringt uns der Barbarei einen Schritt näher. Er höhlt die Rechtsstaatlichkeit aus und verhöhnt jeden Grundwert, den aufrecht zu erhalten wir vorgeben. Er ist eine Kategorie für sich. Und den Völkermord nicht mit jeder Faser unseres Seins zu bekämpfen, bedeutet eine Mitschuld an dem, was Hannah Arendt als das „radikale Böse“ definiert — das Böse, das menschliche Wesen als solche überflüssig macht.

Die schiere Fülle der Holocaust-Studien hätte dies unauslöschlich deutlich machen sollen. Holocaust-Studien wurden jedoch von Zionisten gekapert. Sie bestehen darauf, dass der Holocaust einzigartig sei, dass er irgendwie abseits der menschlichen Natur und Geschichte angesiedelt ist. Juden werden als ewige Opfer des Antisemitismus vergöttert. Nazis zeichnen sich durch eine besondere Art von Unmenschlichkeit aus. Israel ist die Lösung — wie das United States Holocaust Memorial Museum in Washington feststellt. Der Holocaust war einer von mehreren Völkermorden, die im 19. und 20. Jahrhundert verübt wurden. Der historische Kontext wird jedoch ignoriert und damit auch unser Verständnis der Dynamik einer Massenvernichtung.

Die wichtige Lehre aus dem Holocaust ist, wie Schriftsteller wie Primo Levy betonen, dass wir alle zu (bereit)willigen Henker werden können. Dazu bedarf es nur wenig. Wir können alle mitschuldig am Bösen werden — wenngleich auch nur durch Gleichgültigkeit und Apathie.

„Bestien existieren“, schreibt Levy, der Auschwitz überlebt hat, „aber damit sie wirklich gefährlich werden, sind sie zu wenige. Gefährlicher sind die einfachen Menschen, die Funktionäre, die bereit sind, zu glauben und zu handeln, ohne Fragen zu stellen.“

Sich dem Bösen entgegenzustellen, selbst ohne Aussicht auf Erfolg, hält unsere Menschlichkeit und unsere Würde am Leben. Wie Vaclav Havel in „The Power of the Powerless“ (deutsch: Die Macht der Machtlosen) schreibt, können wir in der Wahrheit leben, in einer Wahrheit, die die Mächtigen nicht ausgesprochen haben wollen und die sie zu unterdrücken suchen. Es ist ein Wegweiser für jene, die nach uns kommen. Es zeigt den Opfern, dass sie nicht alleine sind. Es ist „die Revolte der Menschlichkeit gegen eine aufgezwungene Position“ und ein „Versuch, die Kontrolle über das eigene Verantwortungsgefühl wieder zu erlangen.“

Was sagt das über uns aus, wenn wir eine Welt akzeptieren, in der wir eine Nation bewaffnen und finanziell unterstützen, die täglich Hunderte Unschuldige tötet und verwundet?

Was sagt das über uns aus, wenn wir eine bewusst herbeigeführte Hungersnot und das Vergiften der Wasserversorgung in Gegenden, in denen das Polio-Virus auftaucht, unterstützen, weswegen Zehntausende erkranken und viele sterben werden?

Was sagt das über uns aus, wenn wir zehn Monate lang zulassen, dass Flüchtlingslager, Krankenhäuser, Dörfer und Städte bombardiert werden, um ganze Familien auszulöschen und Überlebende dazu zu zwingen, im Freien zu lagern oder in primitiven Zelten Schutz zu suchen?

Was sagt das über uns aus, wenn wir die Ermordung von 16.456 Kindern akzeptieren — wobei dies sicher zu niedrige Zahlen sind?

Was sagt das über uns aus, wenn wir dabei zusehen, wie Israel die Angriffe auf UN-Einrichtungen, Schulen — darunter auch die Al-Tabaeen-Schule in Gaza-Stadt, in der über hundert Palästinenser bei der Verrichtung des Abendgebets Fajr getötet wurden, — und andere Notunterkünfte eskaliert?

Was sagt das über uns aus, wenn wir zulassen, dass Israel Palästinenser als menschliche Schilde nutzt, indem sie Zivilisten — darunter auch Kinder und Alte — in Handschellen und manchmal in israelische Militäruniformen gesteckt — dazu zwingen, Tunnel und Gebäude, die möglicherweise mit versteckten Sprengsätzen versehen sind, noch vor den israelischen Soldaten zu betreten?

Was sagt das über uns aus, wenn wir Politiker und Soldaten unterstützen, die die Vergewaltigung und Folter von Gefangenen verteidigen?

Wenn wir nicht an moralischen Imperativen festhalten, sind wir dem Untergang geweiht. Dann wird das Böse siegen. Dann wird es kein richtig und falsch mehr geben. Dann wird alles, auch Massenmord, erlaubt sein.

Demonstranten vor dem Parteitag der Demokraten im United Center in Chicago fordern ein Ende des Völkermords und der US-Hilfe für Israel, drinnen speist man uns mit einer widerwärtigen Konformität ab. Die Hoffnung liegt auf der Straße.

Eine moralische Haltung hat immer ihren Preis. Ohne diesen ist sie nicht moralisch. Dann ist sie nur eine konventionelle Überzeugung.

„Aber was ist der Preis für den Frieden?“, fragt der radikale katholische Priester Daniel Berrigan, der für das Verbrennen von Einberufungsbefehlen während des Vietnamkriegs ins Bundesgefängnis kam, in seinem Buch „No Bars to Manhood“:

„Ich denke an die guten, anständigen, friedensliebenden Menschen, die ich zu Tausenden kennengelernt habe, und ich frage mich: Wie viele von ihnen sind an der auszehrenden Krankheit ‚Normalität‘ erkrankt, dass sich ihre Hände, während sie selbst sich zum Frieden bekennen, krampfhaft-instinktiv ihrer Bequemlichkeit, ihren Häusern, ihrer Sicherheit, ihrem Einkommen, ihrer Zukunft, ihren Plänen entgegenstrecken — dem Fünfjahresplan des Studiums, dem Zehnjahresplan für den beruflichen Status, dem Zwanzigjahresplan für das Wachstum und die Verbundenheit der Familie, dem Fünfzigjahresplan eines anständigen Lebens und ehrenwerten natürlichen Ablebens.“

„Natürlich, lasst uns Frieden haben“, schreien wir, „aber lasst uns gleichzeitig auch Normalität haben, lasst uns nichts verlieren, lasst unsere Leben unangetastet, lasst uns weder Gefängnisse noch einen üblen Ruf noch Beziehungsbrüche erleben.“ Und weil wir dieses umfassen und jenes beschützen müssen, und weil unsere Hoffnungen um jeden Preis — wirklich um jeden Preis — nach Plan laufen müssen, und weil es unerhört wäre, wenn im Namen des Friedens ein Schwerthieb dieses feine und raffinierte Netz, das unsere Leben gewoben haben, zerstören sollte, weil es unerhört wäre, wenn gute Menschen Ungerechtigkeit erleiden oder Familien auseinandergerissen oder ein guter Leumund verloren werden — deswegen rufen wir nach Frieden und rufen nach Frieden, aber es gibt keinen Frieden.

Es gibt keinen Frieden, weil es keine Friedensstifter gibt. Es gibt keinen Frieden, weil das Schaffen von Frieden mindestens so kostspielig ist wie das Schaffen von Krieg — mindestens so zwingend, mindestens so zerstörerisch, mindestens so verantwortlich dafür, Schande, Gefängnis und Tod nach sich zu ziehen.

Die Frage ist nicht, ob Widerstand sinnvoll ist. Die Frage ist, ob Widerstand richtig ist.

Wir sollen unseren Nächsten lieben, nicht unser Volk. Wir müssen darauf vertrauen, dass das Gute das Gute anzieht, selbst wenn die empirischen Beweise um uns herum düster sind. Das Gute ist immer im Handeln verkörpert. Es muss gesehen werden. Es spielt keine Rolle, ob die weitere Gesellschaft überkritisch ist. Wir sind dazu aufgerufen, uns — durch Akte des zivilen Ungehorsams und durch Zuwiderhandlungen — den Gesetzen des Staates zu widersetzen, wenn diese, wie es oft der Fall ist, mit dem moralischen Gesetz kollidieren.

Wir müssen, koste es, was es wolle, den Gekreuzigten der Erde zur Seite stehen. Wenn wir diese Haltung nicht einnehmen, sei es gegen den Missbrauch vonseiten der militarisierten Polizei, gegen die Unmenschlichkeit unseres riesigen Gefängnissystems oder den Völkermord in Gaza, werden wir zu denen, die andere kreuzigen.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Thou Shalt Not Commit Genocide“. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.


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