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Das Ende der Zeitung

Das Ende der Zeitung

Die Jagd nach Klicks und Digital-Abos lässt vieles von dem verschwinden, was den Journalismus einst ausgezeichnet hat.

Kress, ein Branchendienst für Medienleute, war richtig stolz. Ein Interview mit Jens Ostrowski. Das klingt erst mal mäßig spannend und macht auch dann noch nicht wirklich neugierig, wenn man weiß, wer das ist. Vielleicht hat Kress deshalb etwas dicker aufgetragen: Aus dem Chefredakteur Ostrowski wurde ein „Chief Content Officer“, was bedeutend und gefährlich klingt. Und aus den Ruhr Nachrichten hat man eine „Größe in NRW“ gemacht. Nun ja. Das Gespräch mit Jens Ostrowski braucht eigentlich gar keine Werbung. Selten hat ein Medienmanager so tief in seinen Alltag und damit zugleich in die Zukunft der Zeitung blicken lassen.

Jens Ostrowski ist Anfang 40. Das heißt: Er muss auch dann noch Geld verdienen, wenn die Omas und Opas längst tot sind, die sich heute noch zum Frühstück aus der gedruckten Zeitung vorlesen. Ich schicke das vorweg, um die Euphorie zu erklären, mit der dieser junge Presseoffizier in die digitale Info-Wüste marschiert.

Im Kress-Interview geht es um die Frage, wie man die Leute dazu bringt, für Online-Inhalte zu bezahlen. Genauer: Was muss eine Redaktion tun, damit die Menschen auf ihre Seite gehen, dort so lange wie möglich bleiben und dafür im Idealfall ein Abo abschließen? Ostrowski ist für Kress ein Kronzeuge, weil seine Zahlen stimmen. Wenn irgendeine Zeitung im Internet brummt, dann sind das offenbar die Ruhr Nachrichten.

Den Kontext habe ich in dieser Kolumne mehrfach skizziert. Die Medienhäuser wollen weg vom Gedruckten. Papier und Zustellung waren schon immer die dicksten Kostenstellen und sind in den letzten Jahren noch teurer geworden, weil die Rohstoffpreise anziehen, weil die Wege von Abonnent zu Abonnent länger werden, seit sich auch die Regionalpresse ganz offen an die Seite der Regierung gestellt hat, und weil der Mindestlohn verhindert, dass die Frühaufsteher, die morgens von Haus zu Haus ziehen, mit drei oder vier Euro pro Stunde abgespeist werden können.

Die Branche bettelt deshalb bei der Ampel um Subventionen und lässt ihre Vorreiter testen, wie das Lese-Volk reagiert, wenn man es ans Tablet zwingt. Ergebnis bisher: keine Montagsspaziergänge, jedenfalls nicht in Greiz und in der Prignitz, wo die beiden Monopolverlage die Printausgabe eingestellt haben und das jetzt einfach auf die nächsten Landkreise ausdehnen. Die spannende Frage: Wie schafft man es, im Netz Geld zu verdienen — dort, wo die Konkurrenz nur einen Klick entfernt ist und zum Beispiel mit Medienkolumnen auf Manova lockt?

Die Kress-Antwort von Jens Ostrowski in Kurzform: Ich muss den Journalismus beerdigen. Ich muss meinen Redakteuren austreiben, neugierig auf die Welt zu sein und das Publikum überraschen, anregen, nachdenklich machen zu wollen. Komplexität ist tot. Es lebe das Fast Food der Texthäppchen. Ostrowski sagt das natürlich etwas anders. Er lobt die Daten, die jeder Leser heute liefert, und spricht von Kundenorientierung oder davon, dass es um den „besten Content-Mix“ geht. Manager-Deutsch, das verdeckt, wie tief der Journalismus gerade im Lokalen zu sinken droht oder, wie bei den Ruhr Nachrichten, offensichtlich schon gesunken ist.

Ich lasse den Chief Content Officer jetzt ein wenig sprechen:

„In jeder Redaktion steht bei uns am Konferenztisch ein Stuhl in der Unternehmensfarbe Cyan, auf dem imaginär der Kunde sitzt. Das hat symbolischen Charakter und soll uns daran erinnern, bei jeder Entscheidung dessen Perspektive einzunehmen. Um das hinzubekommen, arbeiten unsere Teams neben den Daten mit Engagement-Faktoren und User Needs.“

Kindergarten, okay. Ein Stühlchen in Farbe. Lassen wir dieses Thema ruhen und kommen zu den „Daten“: Das sind Klicks, Zeit und vermutlich auch die Abo-Rate, also die Zahl der Nutzer, die nach einem Artikel wiederkommen oder sogar bezahlen wollen. Man weiß, dass das in ländlichen Regionen vor allem dann klappt, wenn die Zeitung über Immobilien schreibt.

Zurück zu den Ruhr Nachrichten, zu Jens Ostrowski und damit zur Zukunft des Lokaljournalismus. „Engagement-Faktoren“ und „User Needs“. Zum Glück gab es das in den 1980ern und 1990ern noch nicht. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen, Reporter werden zu wollen. Auch wenn man beide Begriffe übersetzt, wird es nicht besser. Jens Ostrowski sagt, dass sein Laden zehn „Engagement-Faktoren“ definiert habe. Kress verrät er davon vier: Muss-Thema, Aufreger, Marke, Toplage. O-Ton:

*„Bei jedem Thema müssen mindestens zwei, besser aber mehr davon erfüllt sein.“ *

Das neue BMW-Autohaus mit Blick über die Felder wird also gemeldet, denke ich. Marke und Toplage. Vermutlich bekommt der Redakteur fast einen Herzinfarkt, wenn der Monteur anruft oder sogar sein Chef, und hat so gleich noch einen Aufreger und damit irgendwie auch ein Muss-Thema. Viermal Engagement. Da glühen die Tasten.

Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie Redaktionskonferenzen bei den Ruhr Nachrichten ablaufen und wie dort mit Vorschlägen von Freiberuflern umgegangen wird. Vermutlich gibt es in der Region bald kein Grundstück mehr ohne Toplage und auch keine Rezension mehr über die Theatergruppe, die sich nach Feierabend trifft. Keine Marke, kein Aufreger, kein Muss. Weg mit der Kultur und damit irgendwann auch weg mit den Theatergruppen, denn was in der Zeitung fehlt, das existiert irgendwann auch für Lokalpolitik und für die Sponsoren aus den Autohäusern nicht mehr.

Die Sache mit den „User Needs“ ist übersichtlicher: Es gibt nur sechs. Und die stehen alle im Kress-Interview: „Mach’s mir leichter“ (Service), „Unterhalte mich“, „Inspiriere/Berühre mich“ (Porträts interessanter Menschen), „Gib mir Tiefe“ (Hintergrund zu einem zentralen Thema), „Zeig mir verschiedene Meinungen“ und „Gib mir ein Update“ (klassische Nachricht).

Auf den ersten Blick ist das ganz hübsch. Wer gibt seinen Jüngern nicht gern „Tiefe“ und vielleicht sogar ein „Update“? Das Problem: Beides auf einmal geht nicht, jedenfalls nicht bei den Ruhr Nachrichten. Jens Ostrowski: „Wir vermischen keine Needs mehr in einem Artikel.“ Die 220 Lokalreporter wurden entsprechend geschult und müssen seitdem dokumentieren, auf welches der sechs „User Needs“ jeder einzelne Beitrag zielt. Noch einmal Ostrowski:

„Wir haben auch große Plakate gedruckt und jedem Reporter einen Sticker gegeben, der das Modell zeigt. Er klebt auf ihren Notebooks. Als Nächstes verteilen wir Checklisten zu den Kriterien, die für jedes einzelne User Need erfüllt sein müssen.“

Ich könnte mich jetzt weiter über den Kindergarten auslassen oder mich darüber aufregen, dass dieser Medienmanager seine Journalisten zu Bürokraten ihrer selbst macht und offenkundig davon träumt, die Redaktionen bald mit Robotern zu bestücken, die viel besser als jeder Mensch in der Lage sein werden, irgendwelche Checklisten abzuarbeiten. Mein Punkt ist hier ein anderer: Die gute, alte Zeitung wird damit endgültig zu Grabe getragen. Die Medienforscher Klaus Schönbach und Wolfram Peiser haben vor einem Vierteljahrhundert von einer „Insel des Universellen“ gesprochen und in der „Kombination von Führung und Freiheit“ die eigentliche Stärke des Mediums gesehen (1).

Zehn Minuten Blättern am Morgen — und man wusste, worüber die Stadt, die Region, das Land gerade spricht. Man wusste vor allem mehr, als „User Needs“ je erfassen können, weil man fast jeden Tag überrascht werden konnte — von einem Foto, von einer Schlagzeile oder von einem Thema, das bis gestern wenigstens für einen selbst noch gar kein Thema war. Zeitungen wurden gelesen, weil sie im Wortsinn über alles geschrieben und es dabei oft geschafft haben, die Dinge zu ordnen und so zu helfen, die Welt in einem neuen Licht zu sehen (2).

Zeitungen wurden auch gelesen, um dazuzugehören — zu einer Dorfgemeinschaft, zu einer Gruppe wie den Fischköppen oder den Franken, zu einem Land. Benedict Anderson hat von einer „außergewöhnlichen Massenzeremonie“ gesprochen: Man saß zwar meist irgendwo allein mit seinem Blättchen, wusste aber, dass viele andere fast zur gleichen Zeit dasselbe lesen (3). Die Presse machte so auch das möglich, was Anderson als Nation definiert: eine „vorgestellte Gemeinschaft“, der die Zeitungen unaufhörlich sagen, wer alles dazugehört und was es außerhalb dieser Gemeinschaft sonst noch so gibt.

Für Manova-Leser muss ich den Link zur Zeitenwende nicht ausbuchstabieren. Tradition, Heimat und Zusammenhalt stehen unter Dauerbeschuss. Mit der gedruckten Zeitung fällt eine Bastion. Jens Ostrowski will die Schützenfeste nicht ganz aus den Ruhr Nachrichten verbannen, aber das Vogelschießen lieber stundenlang streamen als einen Reporter mit Mikro und Stift in die Heimatgeschichte eintauchen lassen.

Die Digitallogik kennt nur eins und null und nichts dazwischen. Jens Ostrowski kennt nur „User Need“ eins oder zwei oder drei und nichts, was eins und zwei zusammenzählt. Sein Beispiel für die Kress-Leser ist ein Rohrbruch im Dortmunder Westen, ausgelöst durch einen Wartungsfehler. Früher eine Sache für eine große Recherche und vielleicht sogar einer jener Glücksfälle, bei denen ein Lokalreporter zeigen konnte, was alles falsch läuft in der Stadtpolitik.

Im Zeitalter der „User Needs“ machen die Ruhr Nachrichten daraus drei Texte. Nachricht zur Straßensperrung, Schicksal des Verursachers, Tipps für alle, die die Wartungsfrist verpasst haben. Wer bis hier gekommen ist, zähle bitte schnell zusammen, wie viele Bedürfnisse dieser Text erfüllt hat und wie es um die Relevanz bestellt ist, gemessen natürlich über „Engagement-Faktoren“, und schreibe mir, wie ich den nächsten Text optimieren kann. Schließlich will auch Manova hoch hinaus auf den Klick-Olymp.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Klaus Schönbach, Wolfram Peiser: Was wird aus dem Zeitunglesen?, in: Walter Klingler, Gunnar Roters, Maria Gerhards (Herausgeber): Medienrezeption seit 1945, Nomos, Baden-Baden 1998, Seite 103 bis 112
(2) Vergleiche Klaus Schönbach: Die Zukunft der gedruckten Zeitung, in: Zeitungen 2003, BDZV, Bonn 2003, Seite 126 bis 135
(3) Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Campus, Frankfurt am Main 1988, Seite 41


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