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Das herzlichste Land

Das herzlichste Land

Die Ukrainer bewahren trotz Gewalt und kaltem Krieg ihre Menschlichkeit. Ein Interview mit den Machern des Dokumentarfilms „Road-Movie Ukraine“.

Elisa Gratias: Olga und Lutz, ich habe euren Film auf Youtube zufällig entdeckt, weil ich nach Vorbereitungsmaterial für meine eigene Ukraine-Reise suchte, und war sehr überrascht. Er zeigt ein ganz anderes Bild der Ukraine, gerade auch der Ostukraine und Kiews, als ich es mir anhand dessen vorstellte, was ich in Büchern und den Medien las — egal ob Mainstream oder unabhängige Portale — in denen es eben immer eher um die politische oder geostrategische Ebene geht. Doch zunächst einmal: Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt, denn Olga, du bist Ukrainerin, und Lutz, du bist Deutscher?

Olga: Ich bin vor 18 Jahren für mein Kunststudium nach Deutschland gekommen.

Lutz: Wir waren auf der gleichen Uni und ich hatte Olga gefragt, ob sie nach dem Studium ein Atelier brauchte. Irgendwann waren wir dann ein Paar.

Wie seid ihr auf die Idee gekommen, diesen Film zu drehen?

Lutz: Olga hat zu mir gesagt: „Dreh‘ mit mir einen Film über meine Heimat!“ Da habe ich einfach mal ja gesagt.

War das deine erste Reise in die Ukraine?

Lutz: Ja. Ich liebe es, Länder im Schlepptau mit Einheimischen kennenzulernen. Olga, eine Muster-Ukrainerin, hat mich an Orte gebracht, die ich nie gesehen hätte. Beim Gedanken an diese Reise werden meine Augen feucht.

Hattet ihr ein Drehbuch oder einen Plan, wie der Film aussehen sollte, oder habt ihr euch einfach ins Abenteuer gestürzt, seid losgezogen, habt die Kamera laufen lassen und geschaut, was dabei herauskommt?

Lutz: Einen Monat haben wir uns fast gestritten, ob es jetzt einen Fahrplan braucht oder nicht. Dann sind wir ohne losgefahren. 32 Stunden mit dem Bus! Ein paar haben uns erwartet, den Rest haben wir uns auf der Straße aufgerissen, während unserer Reise durch die Ukraine mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Hattet ihr Angst, in die Gebiete zu fahren, wo bereits Krieg herrschte oder erst wenige Tage zuvor extrem gewaltsame Ausschreitungen stattfanden wie in Odessa? Denn eure Reise seid ihr ja direkt danach angetreten — vom 11. Mai bis 2. Juni 2014.

Lutz: Ich hatte solche Angst, dass ich mir zwei Tage vor der Abreise nachts einen Zahn ausgebissen hatte, der wurde noch am nächsten Tag repariert. Viele haben uns abgeraten zu fahren — aber uns hält keiner so schnell auf.

Olga: Nein, ich hatte gar keine Angst.

Vielleicht hattest du keine Angst, weil du das Land kanntest?

Olga: Ja, vielleicht auch. Da lebt meine Familie. Wobei sogar meine Eltern uns abgeraten haben, weil alles so unsicher war. Das war ja kurz nach der Revolution. Und ich konnte es einfach nicht glauben, dass da jetzt so etwas passiert. Unsere Wohnung ist auch nicht weit vom Maidan.

Es war unrealistisch für dich?

Ja, ich konnte es nicht verstehen. Auch durch Recherche hätte ich es nicht verstehen können. Dafür brauchte ich die Reise. Ich musste vor Ort sein.

Hier nehmen wir in den Medien die politische Ebene und die spektakulärsten Ereignisse wahr und machen uns dann eine Vorstellung vom Leben dort. Die Menschen, die in eurem Film zu Wort kommen, überraschten mich durch ihre Weisheit, Freundlichkeit, Gelassenheit und Friedfertigkeit. Es war so ein komplett anderes Bild. Seid ihr zufällig ausgerechnet auf so besonnene Menschen gestoßen oder war es schwer, sie zu finden?

Lutz: Die Medienpropaganda zu hinterfragen war ein Anreiz für uns. Es ergaben sich eine Menge unterschiedlicher Begebenheiten. Wir haben 17 Tage lang, 12 Stunden am Tag nichts anderes gemacht, als diese Begebenheiten einzufangen. Es waren mehrere Krebsschicksale dabei, gescheiterte Existenzen, Feste und vieles mehr.

Beim Ansehen des Films fragte ich mich, wie bei so friedfertigen Menschen — die über so heikle Themen so menschlich warm und ruhig sprechen, gerade im Gegensatz zum Debattenstil in deutschen Wohnzimmern oder Stammkneipen — ein Krieg ausbrechen konnte? Fragt ihr euch das nach eurer Reise auch noch oder versteht ihr den Konflikt und die Ursache des Krieges nun besser?

Lutz: Geopolitik.

Einige im Film äußern sich sehr medienkritisch und sagen, sie meiden die Medien. Wie schätzt ihr die Situation für die Mehrzahl der ukrainischen Bevölkerung ein?

Lutz: Ich schätze, die Menschen dort sind einer Vielzahl mehr Fake News als wir ausgesetzt. Man muss sich vor allem mit Mundpropaganda sein eigenes Bild und seine eigene Welt erschaffen. Gute Seilschaften helfen beim Überleben auf der ganzen Welt.

Olga: Ja, manchmal braucht es nur einen guten Redner. (Seufzt). Wie leicht kann man einen Menschen manipulieren …

Was mir an eurem Film besonders gefällt ist, dass er über den Krieg vor allem traurig und nachdenklich stimmt, während in Medien oft eher ein hetzerischer, kalter Ton herrscht und auch die Stimmung in der Ukraine so beschrieben wird. Wie nahmt ihr die Gesamtstimmung wahr?

Lutz: Die Ukraine ist das herzlichste Land, das ich bereist habe. Ich dachte eigentlich, dass ich nie dort sein werde — Tschernobyl war ein einschneidendes Erlebnis für mich.

Euer Film könnte wirken wie eine Romantisierung der Situation im Land. Zeigt er eher eine andere Seite der Medaille, einen kleinen Hoffnungsschimmer inmitten einer gefährlich aggressiven Gesamtstimmung, oder entspricht die besonnene und eher betroffene, traurige und zugleich hoffnungsvolle Atmosphäre außerhalb der vom Krieg betroffenen Ostgebiete tatsächlich eher der Realität im Land und unser Bild von der Ukraine ist von Deutschland aus durch die Berichterstattung total verzerrt?

Lutz: Das hat Berichterstattung so an sich. Man arrangiert sich. Eine Wahl haben viele nicht. Die eigene Existenz zu wahren, ist für viele anstrengend. Politikverdruss gibt es nicht nur in der Ukraine. Uns geht es halt besser. Klar ist, von Putin ist noch mehr in dieser Richtung zu erwarten.

Was meinst du damit?

Tschetschenien, Nord Stream 1 und 2, da ist ja schon der nächste Herd am Brennen. Es ist ja alles so crazy. Putin hilft ja auch dem Kim Jong-il. Wobei ich auch sagen muss, dass ich da nicht so drin bin und auch nur auf die Informationen angewiesen bin, die so auf uns einrieseln.

Im Rubikon kommen nach all dem Russland-Bashing in den Mainstream-Medien vor allem Autoren zu Wort, die ein positiveres Bild von Putin und der russischen Politik zeigen und die Freundschaft zwischen Deutschland und Russland fördern möchten. Auch ich sehe eher die NATO als eine Gefahr für den Frieden und als Provokateur als Russland.

Lutz: Ich bin ein Freund der Russen. Aber was diese Politik von Putin anbelangt und was ich so darüber aufschnappe und in Alltagsgesprächen höre, das verunsichert mich. Am Ende muss ich sagen, ich finde die ganze Militärpolitik von beiden Seiten scheiße. Von den USA und von Putin. Die meisten Menschen möchten einfach nur in Frieden leben und in Ruhe gelassen werden. So auch die Mehrzahl der Ukrainer, denen wir begegneten, egal ob sie nun pro- oder antirussisch waren. Ich wünsche mir die Ukraine in die EU. Das würde dem Land neuen, eigenen Stolz bringen.

Wenn die Ukraine in die EU käme, würde die NATO bis an die Grenze Russlands reichen, was extrem gefährlich für den Weltfrieden wäre, um es mal vorsichtig auszudrücken. Aber mir ist auch bekannt, dass viele Westukrainer die NATO anders wahrnehmen, quasi als „die Guten“. In meinem Co-Working-Büro in Palma sitzt ein Ukrainer aus Lemberg, der die EU und die NATO idealisiert, sich aber zugleich gelassen, freundlich und ruhig meine NATO-Kritik anhörte und lächelnd sagte, er sei anderer Meinung. Seine Fähigkeit, sich eine andere Meinung anzuhören und darauf ganz gelassen zu reagieren, überwältigte mich, so wie auch die Leute in eurem Film. Also frage ich mich, ob die Situation in der Westukraine wirklich so ist, wie ich es hier oft lese, sprich, dass es gefährlich ist, sich dort pro-russisch zu äußern oder russisch zu sprechen. Wie habt ihr das empfunden?

Olga: Da ich seit 19 Jahren in Deutschland lebe und russischsprachig aufgewachsen bin, führte ich die Interviews auch in der Westukraine auf Russisch und die Leute hatten damit gar kein Problem. Sie waren alle freundlich zu uns und antworteten auch auf Russisch.

Lutz: Wie gesagt, die meisten Menschen möchten einfach ihre Ruhe haben, ein besseres Leben und sind herzlich und warm. Viele sehen eben, dass es den Menschen in den EU-Ländern besser geht und verbinden Russland noch mit der Sowjetzeit. Sie haben genug von Oligarchen, die am Volk vorbei regieren und das Land nicht voranbringen. Diese ganze geopolitische Kacke spaltet aber natürlich auch Freundschaften und Familien, wie es ebenfalls im Film zum Ausdruck kommt. Ich persönlich sehe, dass die normale Bevölkerung von diesen ganzen Ost-West-Machtkämpfen die Schnauze voll hat, wir könnten als Völker alle in Frieden leben.

Was erhofft ihr euch von diesem Film?

Lutz: Wir als Kommunikationskünstler haben zuallererst unser Bedürfnis befriedigt, unseren Teil zur Befriedung beizutragen. Wir waren ein zweites Mal dort, um mit unserem Koffer-Kino dieselbe Reise noch einmal zu machen. 22 Mal haben wir mit Beamer, Lautsprechern, Laptop und riesigem Bettlaken nicht nur unsere Protagonisten wiedergetroffen, sondern auch neue Orte, Museen, Hallen, Regierungsämter mit unserem Film bereichert.

Olga: Ja, aber leider gab es da auch Kritik, weil wir verschiedene Meinungen zeigen. Als Soldaten den Film sahen, hatte ich das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, dass er so eine — im Vergleich zu ihrer Realität — Traumwelt zeigt, doch sie waren ganz verständnisvoll und gerührt und sagten, dass der Film sie daran erinnert habe, was sie an ihrem Land so lieben, zumal der Krieg bei den Dreharbeiten noch nicht so krass war. Einige Zuschauer ärgerten sich aber eben darüber, dass eine andere Meinung als ihre gesagt wurde und der Film nicht patriotisch genug sei. Die Kritik machte mir damals etwas zu schaffen, denn für alle Inhalte war ich verantwortlich, da Lutz ja kein Russisch und kein Ukrainisch versteht.

In Deutschland sind die Reaktionen bisher einheitlich positiv. Von außen ist es eben anders. Wenn man drin ist, ist man emotional geladen und muss sich quasi für eine Seite entscheiden. Auch jetzt nach der Wahl ist die Stimmung wieder komisch, aber darüber will ich hier von Weitem nichts sagen. Ich war in der Ukraine, um zu wählen, doch mir ist die Friedensbotschaft der Bevölkerung wichtig. Der Film und unsere Botschaft sollen nicht politisch sein, er ist ein Kunstwerk, das die Menschen im Idealfall berühren und zusammenführen soll.

Lutz: Mein halbes Leben bin ich damit beschäftigt, die Menschen zusammen zu bringen. Das gelingt mir heute am besten vor der eigenen Haustür in der Offenbacher Akademie für interdisziplinäre Prozesse. Wenn das viele Menschen auf der ganzen Welt so machen und andere an die Hand nehmen, dann steigt der Lebensstandard weltweit. Menscheln kann man überall und andere dazu überreden auch — sei doch mit dabei!

Ich hoffe, dass „Road-Movie Ukraine“ viele Menschen in und außerhalb der Ukraine und vor allem natürlich auch in meiner Heimat Deutschland erreichen und an unsere menschliche Wärme erinnern wird — unseren größten Schatz, den wir den spaltenden, kriegstreiberischen Kräften überall entgegenzusetzen haben.
Danke für das Interview.



Olga Petrova, Jahrgang 1982, kommt aus Kiew in der Ukraine und studierte am Frankfurter Städel sowie an der renommierten Kunsthochschule HfG Offenbach. Heute betreibt sie die „Malstube“ für Kinder und Erwachsene in Frankfurt am Main.

Lutz Jahnke ist Diplom-Designer und kommt aus einem kleinen Dorf im Fichtelgebirge. Er studierte an der renommierten Hochschule für Gestaltung in Offenbach und betreibt dort heute sein eigens Design-Studio „interdisziplinäres büro für gestaltung“.


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