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Das Kolonialkarma

Das Kolonialkarma

Über Jahrhunderte hinweg hat sich Europa das Erdenrund untertan gemacht — seit dem 20. Jahrhundert kommt dies jedoch wie ein Bumerang zurück. Exklusivauszug aus „Die Eroberung der Alten und Neuen Welt“.

Spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts tarnten sich Eroberer gerne als Philanthropen.

„Der Zivilisation den einzigen Teil unseres Planeten erschließen, in den sie noch nicht vorgestoßen ist, die Dunkelheit zu durchdringen, die ganze Völkerschaften umhüllt, darf ich wohl als einen Kreuzzug bezeichnen, der diesem Zeitalter des Fortschritts wohl ansteht“ (1).

Dies erklärte der wohl schlimmste Kolonialherr des 19. Jahrhunderts, der belgische König Leopold II. (1835 bis 1909). Vom Image eines Wohltäters der Menschheit sollte sich niemand Sand in die Augen streuen lassen.

Angesichts des europäischen Kolonialismus ist in Vergessenheit geraten, dass unser Kontinent vor 1000 Jahren selbst erobert wurde und wir uns bis heute nicht von dieser feindlichen Übernahme erholt haben. Seetaugliche Skandinavier unterwarfen im Verbund mit dem Kirchenkonzern nicht nur im 11./12. Jahrhundert die Britischen Inseln, Süditalien, Dalmatien und Griechenland, sondern erschlossen sich über schiffbare Flüsse den ganzen Kontinent. Bald saßen sie an allen Verkehrswegen und kassierten Zölle und Schutzgeld, gerne immer wieder angereichert mit Lösegeld für verschleppte Menschen. Der Übergang vom Zoll zum Raub war fließend (2).

Die indigenen Kelten, Germanen und Slawen fanden sich nach ihrer unfreiwilligen Bekehrung unter Verlust ihres Eigentums in Staatsformen wieder, die wir heute beschönigend Feudalgesellschaft nennen. Der französische Jurist Étienne de la Boéthie (1530 bis 1563) ließ vor knapp 500 Jahren keinen Zweifel an der Art der feindlichen Übernahme:

„Es stimmt, dass man zu Beginn durch Gewalt bezwungen und besiegt wurde“ (3).

Angsteinflößende Burgen und Festungen, später als Kirchen genutzte Hallen und Basiliken wurden von Schottland bis Sizilien, von Portugal bis nach Syrien die sichtbaren Herrschaftszeichen der neuen oligarchischen Rittergesellschaft, in der 0,1 Prozent alles und 99,9 Prozent nichts besaßen. Rohe Gewalt und fingierte Besitzurkunden enteigneten die ursprünglichen Bewohner, die fortan als Leibeigene oder Hörige eine „adelige“ Oberschicht und den Klerus ernähren mussten.

Mit der Expansion nach Übersee ab dem 15. Jahrhundert haben die Europäer ihr eigenes Schicksal anderen Kontinenten angedeihen lassen. Der unerbittliche Missionierungseifer, Forderungen nach bedingungsloser Unterwerfung, Monopolanmaßungen und die Gier ihrer Raubzüge sind auch durch die vorausgegangenen Demütigungen auf dem eigenen Kontinent zu erklären.

Die Bevölkerungen Europas waren Täter und Opfer.

Der von Kulturhistorikern beschworene „kolumbianische Austausch“ zwischen Europa und den Neuen Welten war eine sehr einseitige Angelegenheit:

„Von damals bis zum heutigen Tage haben die Weißen uns nichts gebracht als Kriege und Elend“ (4).

Die Verachtung der Ureinwohner war fester Bestandteil des Wertekanons europäischer Kolonisten. Ging man doch davon aus, die ganze Welt müsse dem christlichen Europa als vermeintlicher Erbin eines phantasierten griechisch-römischen Herrschaftsanspruches untertan sein (5). Gemäß den Überlieferungen war man schon in der Antike bei Beanspruchung fremden Terrains nicht zimperlich und immer auf Expansionskurs.

„Eroberung macht die Menschen erbarmungslos, Kolonisation macht sie unversöhnlich. Alle vorhandenen Geschöpfe des Landes, die Menschen, die Landtiere, Fische bleiben nicht Gegenstände der Wissbegier oder des Entzückens, sondern werden zu Objekten der Ausbeutung“ (6).

Dies gilt gleichermaßen für die katholischen Majestäten der iberischen Halbinsel wie später für niederländische, englische oder preußische Protestanten. Bereits in Spanien tarnten die katholischen Herrscher ihren 700-jährigen Angriffskrieg auf den muslimisch geprägten Süden als „Reconquista“ (=Rückeroberung), obwohl das Territorium vorher nie in ihrem Besitz war. Mit Feuerwaffen und Feuerwasser gestählt, sollten alle anders und anderswo lebenden Menschen im kirchlich-feudalen Korsett „zivilisiert“ werden. Im Schulterschluss mit dem Kirchenkonzern ging es von Beginn an um eine dauerhafte Beherrschung. Der Auftrag aus Rom für die portugiesischen Kreuzfahrer lautete unmissverständlich „alle Sarazenen, Heiden jeder Art und andere Feinde von Jesus Christus zu erobern, alle aufzustöbern, einzufangen, zu bezwingen und zu unterwerfen … und sie auf ewig zu versklaven“ (7).

Für Cristobal Colón (1451 bis 1506) sind Unterwerfung und Deportation Einheimischer ab 1492 aktenkundig:

„Sollten Eure Hoheiten den Befehl erteilen, die Inselbewohner nach Kastilien zu schaffen oder aber sie auf ihrer eigenen Insel als Sklaven zu halten, so wäre dieser Befehl leicht durchführbar, da man mit einigen fünfzig Mann alle anderen niederhalten und zu allem zwingen könnte“ (8).

Seither war die Landnahme das bevorzugte Vorgehen der Europäer. Das britische Empire vergrößerte sich im 19. Jahrhundert fast täglich. „Ich würde die Planeten annektieren, wenn ich könnte“, gestand der englische Diamantenkönig und Gouverneur von Südafrika, Cecil John Rhodes (1853 bis 1902), ein.

Nach dem Ersten Weltkrieg stand über die Hälfte der Erde und 40 Prozent der Weltbevölkerung unter europäischer Herrschaft (9). Davon kontrollierten die Engländer etwa die Hälfte.

Der Unterwerfungsanspruch, den die Konquistadoren allen Bewohnern in den von ihnen beanspruchten Gebieten überbrachten, bringt die Grundhaltung aller christlichen Eroberer zum Ausdruck:

„Gott der Herr hat Petrus und all seinen Nachfolgern die Gewalt über die Erde übertragen, so dass alle Menschen den Nachfolgern Petri gehorchen müssen. Nun hat einer dieser Päpste den spanischen Königen diese Lande zum Geschenk gemacht, so dass also ihre Majestät Herr dieser Inseln und dieses Festlandes sind. Ihr werdet also nun aufgefordert, die heilige Kirche als die Herrin der gesamten Welt anzuerkennen und dem spanischen König als eurem neuen Herrn zu huldigen. Andererseits werden wir mit Gottes Hilfe gewaltsam gegen euch vorgehen und euch unter das Joch der Kirche und des Königs zwingen. Wir werden euch euer Eigentum nehmen und euch, eure Frauen und Kinder zu Sklaven machen. Zugleich erklären wir feierlich, dass nur ihr an dem Blut und dem Unheil schuld seid, das dann über euch kommen wird“ (10).

Aber nichts ist unumkehrbar. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entdeckten nordamerikanische Industriekapitäne („robber barons“) das alte Europa als Beute.

Mit dem allmählichen Abtreten der Europäer von der kolonialen Bühne, erfanden die Vereinigten Staaten von Amerika den Neokolonialismus, der sich vom europäischen Kolonialismus vor allem darin unterscheidet, den unterworfenen Ländern vorzugaukeln, in Freiheit zu leben.

Die USA eroberten sich sukzessive die ehemaligen Territorien der Europäer und fügten aus den Trümmern ihr neues Imperium. Mit den steigenden Widerständen in Mittel- und Südamerika, Teilen Afrikas und Asiens rückte das wohlhabende Europa in den Fokus.

Seither geht es den Europäern erneut an ihre Rechte, ihren Besitz und ihren Kragen. Nach zwei vom Zaun gebrochenen Weltkriegen, die Europa zur amerikanischen Einflusssphäre degradierten, richtet sich der Kreuzzug jetzt gegen die postkolonialen „Klimaschädlinge“ der Industrieländer. Der Wohlstand der Europäer wird inzwischen in Containern und Datenwolken abtransportiert. Große Gemeinwesen wie die EU sind keineswegs eine Sicherheitsgarantie gegen eine koloniale Unterwerfung. Im Gegenteil, Bündnisse und ein Staatenverbund können zum Brandbeschleuniger einer Ausbeutung werden. Längst nicht alle Ortsansässigen haben die Plünderung bisher bemerkt. Die heutigen europäischen Vasallenstaaten der USA konnten nur einige Jahrzehnte Wohlstand anhäufen berauscht von der Illusion unbegrenzter Möglichkeiten.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Leopold II. et la Confèrence géographique de Bruxelles 1876. in: Académie Royale des Sciences Coloniales. S. 197; Brüssel 1956
(2) Reuter, T.: Die Unsicherheit auf den Straßen im europäischen Früh- und Hochmittelalter: Täter, Opfer und ihre mittelalterlichen und modernen Betrachter. in: Fried, J. (Hrsg.): Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter. 1996; 43:169-202
(3) La Boétie, É.: Von der freiwilligen Knechtschaft der Menschen. Edition Deutsche Klassik; Berlin 2021
(4) Haveaux, GL.: La Tradition Historique de Bapende Orientaux. S. 47; Institut Royal Colonial Belge; Brüssel 1954
(5) Reinhard, W.: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015, C.H. Beck; München 2016
(6) Cumming, WP., Skelton, RA., Quin, DB. : Die Entdeckung Nordamerikas. S. 294; Prisma; München/Gütersloh/Wien 1972
(7) Crowley, R.: Conquerors. How Portugal forged the first global Empire. S. 14; Faber & Faber; London 2016
(8) Colón, C.: Bordbuch 14.10.1492; zitiert nach: Todorov T: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. S. 59; Suhrkamp; Frankfurt am Main 1985
(9) Pelizaeus, L.: Der Kolonialismus. Geschichte der europäischen Expansion. 2. Auflage S. 14; Marix; Wiesbaden 2017
(10) Requerimiento 1513; https://kdhist.sitehost.iu.edu/H105-documents-web/week02/Requerimiento1513.html

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