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Das schönste Geschenk

Das schönste Geschenk

Nicht das, was wir bekommen, ist entscheidend, sondern was wir zu geben haben.

Wir wollen bekommen. Möglichst reich soll uns das Leben beschenken, möglichst groß die Beute sein. Haben verspricht Sicherheit in unsicheren Zeiten. Wir können uns daran festhalten, es sammeln, ordnen, horten. Doch je mehr wir haben, desto größer wird auch die Angst, es wieder zu verlieren. Mit dem Appetit wächst die Gier. Der Hunger bleibt. Wir greifen nach Dingen, bis sie schließlich uns besitzen, weil die Hände unbenutzbar geworden sind.

Hilflosen Jungvögeln gleich sperrt mancher den Schnabel auf und will bedient werden. Man soll uns geben, was wir wollen. Wunschzettel werden geschrieben, Listen, die Kinder an den Weihnachtsmann und Erwachsene an das Universum schicken. Bekommen wir nicht, was wir uns gewünscht haben, finden wir das Leben ungerecht und sind enttäuscht — eine gute Gelegenheit, etwas zu verändern.

Dem Nehmen gegenüber steht das Geben. Der heilige Martin zerschneidet seinen Mantel in zwei Teile und gibt einen einem Frierenden am Straßenrand, die Heiligen Drei Könige bringen dem neugeborenen Kind ihre Schätze, und wir stürzen uns auf Geschenkejagd ins Weihnachtsgetümmel. Zu kaufen gibt es viel. Doch was haben wir zu geben? Was möchten wir mit anderen teilen?

Soll es in der Welt friedlich und harmonisch zugehen, müssen Geben und Nehmen sich die Waage halten. Das tun sie freilich nicht. Eine Gesellschaft, die auf das Nehmen fixiert ist, erschafft Mangel auf der einen, Überfluss auf der anderen Seite und dazwischen Konflikte.

Heute haben ein paar wenige Menschen sehr viel und sehr viele Menschen sehr wenig. Die, die haben, werden es nicht freiwillig hergeben und jeden Kampf gewinnen. Sie haben die besseren Waffen.

Es bleibt, zu Gebenden zu werden. Nicht, um sich weiter ausnehmen zu lassen und die zu mästen, die ohnehin schon zu viel haben, sondern um eine Gegenbewegung zu erzeugen, die in ein neues Gleichgewicht führt. Geben statt nehmen, sein statt haben, gemeinsam statt allein. Das ist kein frommer Weihnachtswunsch. Es dürfte die einzige Möglichkeit sein, die sich zuspitzenden Ereignisse zu überstehen.

Schöne Bescherung

Was machen wir, wenn aus der Steckdose kein Strom und aus dem Wasserhahn kein Wasser mehr kommt? Wenn das Konto gesperrt ist, das Vermögen gelöscht, das Haus enteignet und auch Gold oder Bitcoin die Situation nicht retten? Wenn wir das Smartphone nicht mehr aufladen können und die Heizung aus ist, wenn es kein Benzin mehr gibt, um in den nächsten Supermarkt zu fahren, der ohnehin leer ist, weil er längst geplündert wurde? Was machen wir dann? Was machen wir, wenn Weihnachten das Licht ausgeht?

Ich möchte niemandem die Vorfreude auf das Fest nehmen. Ich habe keinen Handel für Notfallprodukte und möchte auch nicht dazu anregen, Nudeln und Klopapier zu schenken. Ich möchte fragen, was wir zu geben haben, wenn nichts mehr geht. Was für Fähigkeiten habe ich? Womit kann ich anderen helfen? Wie kann ich Unterstützung bieten? Was kann ich teilen? Was kann ich zur Verbesserung der Situation beitragen?

Einkaufen ist leicht. Doch was, wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht geht? Es muss ja nicht gleich der Weltuntergang sein. Was antworten wir, wenn wir uns fragen, was wir außer dem Käuflichen zu bieten haben? Welche Eigenschaften habe ich, die anderen hilfreich sein können? Wo sind meine Qualitäten, meine Stärken? Was kann ich wirklich gut? Wo kann ich mich nützlich machen? Wie kann ich der Gemeinschaft einen Dienst erweisen?

Ganz einfach

Das ist etwas ganz anderes, als sich zwischen Wunschzettelromantik und Fatalismus zu verlieren. Denn um antworten zu können, treten wir auch an die Frage heran, die die größte und wichtigste ist, die sich ein Mensch stellen kann: Wer bin ich? Darauf zu antworten, kommen wir nicht umhin, wenn es ums Ganze geht. Wie sieht es bei mir aus? Was strahle ich aus? Was gebe ich in die Welt?

Das hat nichts mit Geld zu tun.

Es sind die kleinen Gesten, auf die es ankommt. Jeder kann jemanden anlächeln. Jeder kann grüßen, wenn er einen Raum betritt. Jeder kann einem anderen die Tür aufhalten. Es ist leicht, jemand anderem in die Augen zu sehen und ihm zu zeigen: Ich nehme dich wahr. Du gehörst mit dazu. Jeder kann zuhören. Jeder kann fragen: Wie geht es dir? Jeder kann ein Wort sagen, das jeder besonders gerne hört: seinen Namen.

Die richtig großen Geschenke gibt es umsonst. Nichts macht mehr Freude als die Aufmerksamkeit und die Wärme eines anderen Menschen. Nichts gibt uns mehr Sicherheit als das Gefühl, bei anderen geborgen zu sein, nicht anders gewollt, angenommen, so wie man ist, mit oder ohne Weihnachtsgans, mit oder ohne Familie, mit oder ohne den Hype, der um ein Fest gemacht wird, bei dem es vor allem um eines geht: uns und anderen eine Freude zu machen.

Es ist so weit

So kann das Weihnachtsfest, symbolisch die Neugeburt des Lichts in tiefster Dunkelheit, mehr sein als ein paar Feiertage und eine Menge Aufwand: Taten, die nachwirken, eine Inspiration dafür, wie es im Folgenden weitergehen kann, wenn die Veränderungen kommen, die uns vielleicht an den Rand unserer Existenz drängen. Der große Wandel, der viel zitierte Paradigmenwechsel, der Great Reset ist in vollem Gange. Wir alle werden ihn zu spüren bekommen.

So betrifft uns alle die Frage, was wir tun können, wenn nichts mehr geht. Was mache ich, wenn niemand mehr meine Texte liest oder Sprachen lernt, weil es Wichtigeres zu tun gibt: zu überleben? Was machen die Menschen, wenn ihr Beruf überflüssig geworden ist, wenn es Bäcker statt Bänker braucht, Heiler statt Spezialisten, Handwerker statt Intellektuelle?

Ich habe schon 2021 darüber geschrieben, was hilft, wenn alles zusammenbricht (1). Heute möchte ich etwas hinzufügen: die innere Haltung, die es braucht, um am Leben zu bleiben. Was sind die Ereignisse für uns? Zufallsprodukte eines erbarmungslosen Universums? Ein Schicksal, das es darauf anlegt, uns zu ärgern? Die Strafe Gottes dafür, gesündigt zu haben? Die unausweichliche Folge elitärer Machenschaften? Oder eine Möglichkeit, das eigene Bewusstsein weiter zu entfalten?

Licht im Dunkel

Ich weiß nicht, ob die Ereignisse einen Sinn haben. Ich weiß nur, dass ich ihnen einen geben kann. Ich muss nicht darauf warten, dass etwas passiert, ich kann jederzeit etwas tun. Meine Fähigkeit zu geben kann mir keiner nehmen. Ich bin kein Objekt, mit dem etwas geschieht, ich bin ein Subjekt, das auch dann noch gestalterische Fähigkeiten hat, wenn alles schwarz aussieht.

Immer noch geht jeden Abend die Sonne unter, und jeden Morgen geht sie wieder auf. Auch wenn wir noch so sehr an der Natur herumdrehen: Auf jeden Winter folgt ein Frühling. Jedes Jahr aufs Neue wird in der größten Dunkelheit ein Licht geboren. Solange es diese Zyklen gibt, können wir Vertrauen schöpfen und Zuversicht.

Das leere Glas kann sich immer wieder neu füllen. Solange es Leben gibt, so lange gibt es Überraschungen. Wunder können geschehen. Hilfe kann kommen, mit der wir nicht gerechnet haben. Alles kann sich von einer Sekunde auf die andere komplett ändern. Anstatt jedoch darauf zu warten, dass es geschieht, können wir uns jetzt an die Arbeit machen.

Ans Werk

Es gibt viel zu tun! Das Fest will vorbereitet werden. Ich will Kräuter und Wintergrün sammeln, vielleicht Zweige für den Ofen, vielleicht zum Fluss gehen und Wasser holen. Ich will kochen, stricken, weben, Kleidung nähen, will Räume so gestalten, dass ich und andere sich wohl darin fühlen. Ich will Kerzen anzünden, will zuhören, wenn einer kommt mit dem, was er auf dem Herzen hat. Ich will Geschichten vorlesen oder erzählen, aus denen Hoffnung und Schönheit sprechen, will Lieder singen, Kinder im Arm halten und Menschen pflegen, die Hilfe brauchen.

Das kann ich geben. Das sind meine Geschenke. Das soll von mir zu anderen fließen. Das habe ich denen entgegenzusetzen, die behaupten, man könne nichts tun. Jeder kann das. Jeder hat besondere Fähigkeiten. Jeder hat etwas zu geben. Machen wir uns selbst das Geschenk, es in uns aufzuspüren, um es mit anderen zu teilen. Machen wir uns selbst diese Freude und empfinden wir das Glück, das es bedeutet, Mensch zu sein und geben zu können.

So kann Weihnachten kommen. Die Lichter können angezündet werden. Der Blick erhebt sich zum Himmel, um nach besonderen Sternen zu schauen. Die Tiere werden bedacht, und ein Baum wird geschmückt mit unserem Segen. Wir müssen ihn dafür nicht abholzen und in die gute Stube bringen. Wir können ihn dort besuchen, wo er steht, und uns um ihn herum versammeln. An den Händen können wir uns nehmen und tun, was wir seit Tausenden von Jahren tun: das neue Licht in der Welt begrüßen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.manova.news/artikel/das-worst-case-szenario/

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