Shocking Turner zückte seinen Backstagepass, den man ihm gestern ins Krankenhaus gebracht hatte, und machte sich auf den Weg ins Musikerzelt. Bisher hatte den Mann im Rollstuhl niemand erkannt, obwohl er doch auffällig genug aussah mit seinem Kopfverband und dem zerschundenen Gesicht. Aber die meisten kannten ihn sowieso nur aus dem Radio.
Er schlug die Plane zurück und stand in einem warmen Licht, das durch die gelben Plastikfenster in der Zeltdecke drang. Der Boden war mit Sägespänen ausgelegt, es roch nach Zirkus. Shocking hielt wie verzaubert inne. Der Anblick dieser kleinen, in sich geschlossenen Welt machte ihn glücklich. Oh, wie er sie liebte, diese schrägen Musiker mit ihren goldenen Seelen und den flinken Fingern!
Zwischen den Bänken türmten sich die Instrumentenkoffer: offene mit rotem, blauem, grünem und gelbem Samt ausgeschlagene Gitarren-, Geigen-, Saxophon- und Klarinettenkoffer. Die Luft war mit den bizarrsten Lauten angefüllt. Bis auf die Rock’n Roller hatte niemand der Anwesenden je ein Tonstudio von innen gesehen. Die Aborigines nicht, die Navajos nicht und schon gar nicht das wettererprobte Ensemble aus den Tiefen der russischen Tundra. Dass es ihnen gelungen war, 24 Gruppen aus allen Winkeln der Erde zu rekrutieren, in denen indigene Völker ihr tristes Dasein fristeten, grenzte an ein Wunder. Möglich war es geworden, weil Steve die Organisatoren großzügig aus dem Spendentopf bedient hatte, der sich in Papeete seit einem Monat auf wundersame Weise füllte.
Shocking verharrte fasziniert im Rollstuhl. Neben ihm saß Jerry Butler von den ‚Tombstones’ über eine nicht angeschlossene Fender gebeugt und lauschte verzückt dem virtuosen Stepptanz, den seine Finger auf den Saiten vollführten. Aber auch er hob den Kopf, als plötzlich eine Gruppe von vierzig Tahitianern das Zelt betrat, die Männer martialisch gezeichnet, die Frauen in Baströcken, schimmernd und von Blumen umkränzt. Keiner der Anwesenden hielt es auf seinem Platz. Die Tänzer von OTahiti E reagierten ein wenig verlegen auf den Beifall, der sie umtoste. Shocking Turner hielt die paar salzigen Tränen, die ihm in den Wunden brannten, tapfer aus. Dies war der bewegendste Moment seines Lebens.
Omai war sich bis vor wenigen Stunden noch nicht sicher gewesen, vor welchem Hintergrund er die Videobotschaft sprechen sollte. Cording hatte den Strand vorgeschlagen, mit der Skyline Mooreas als Hintergrundkulisse. Maeva hatte dafür plädiert, dass ihr Bruder vor einem Gemälde von Gauguin posierte. Letztendlich entschied sich Omai für die staatsmännische Lösung: die Aufnahme fand in seinem Arbeitszimmer statt, vor der Fahne der Ökologischen Konföderation Polynesiens*. Er korrigierte den Sitz des weißen Gewandes, nahm den Schemel seines Urahnen unter den Arm, den die Tahitianer in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bei Christies zurückersteigert hatten, und betrachtete sich im Monitor.
Außer Omai, Cording, Steve und Maeva war niemand zugegen, abgesehen von den Leuten vom Fernsehen natürlich. Zehn Minuten! signalisierte der Aufnahmeleiter. In New York feierte das Publikum gerade den Auftritt von OTahiti E.
„Sie machen das sehr gut ...“, ließ sich Omai anerkennend vernehmen, der den Auftritt mit den anderen gebannt verfolgte.
Die Gruppe erntete zu Recht den frenetischen Beifall der zwei Millionen Besucher, von denen in den Vorberichten ständig die Rede gewesen war.
Als die tahitianischen Tänzer die Bühne verließen, ergriff ein Mann im Rollstuhl das Mikrofon. Er trug ein Lederkäppi auf dem bandagierten Schädel und ließ den Blick aus seinen geschwollenen Augen über die Menge streifen, als wollte er ganz sicher gehen, dass er sich zur rechten Zeit am richtigen Ort befand.
„Yesss ..“, flüsterte er, „yesss ...“
Das langezogene S war charakteristisch für den Moderatior und allmählich begriffen die Leute, wer sich ihnen dort so fürchterlich angeschlagen auf den großflächigen Leinwänden präsentierte.
„Hier ist Shok-, Shok-, Shocking Turner und ich verspreche euch: wir wenden das Blatt!“
Ein ohrenbetäubendes Geschrei antwortete dem Moderator.
„Yessss ...“
Es dauerte Minuten, bevor es Turner gelang, die Massen einigermaßen zu beruhigen.
„Danke, Leute, herzlichen Dank! Danke! He ...! Jetzt reichts! Wir haben Wichtigeres zu tun, als einen Bastard wie mich zu feiern! Unterstützen wir das Tahiti-Projekt oder nicht?! Lasst hören, euer Shocking will hören ...!“
Es war, als platzte der Himmel und aller Lärm, der dort für die Zukunft gespeichert war, prasselte auf einmal herab. Diesmal ließ Turner den Begeisterungsstürmen freien Lauf. Irgendwann hob er die Hand zum Käppi und salutierte vor der Menge wie ein Soldat.
„Eine neue Zeit ist angebrochen“, sagte er beschwörend in das abebbende Getöse hinein, „es ist Krieg, Freunde, Omais Krieg! Gewaltlos und zauberhaft. Und wir sind seine gottverdammte Armee! Unsere Farben sind black, white, yellow and red! Bevor wir nach Tahiti schalten, um zu hören, was uns Omai zu sagen hat, möchte ich euch bitten, mit mir einiger Menschen zu gedenken, die in diesem Krieg gefallen sind. Wir beten für Agnes Rasmussen und ihre Kinder Lars und Jette, die in ihrem Ferienhaus heimtückisch erschossen wurden. Wir beten für Professor Thorwald Rasmussen, der uns über die Hintergründe der amerikanisch-chinesischen Verschwörung aufgeklärt hat und auf Tahiti entführt worden ist. Niemand weiß, wo er sich zur Zeit aufhält und ob er überhaupt noch lebt. Wir beten für Michelle Latour, die auf einer Pariser Tahiti-Demo brutal zusammengeschlagen wurde und gestern ihren Verletzungen erlag. Wir beten für meinen Tontechniker und Freund Mavis, der beim Angriff auf das Studio von WNYC ermordet wurde ...“
Turner nahm das Käppi ab, senkte den Kopf und schwieg. Zwei Millionen Menschen standen mit ihm still. Auf den Projektionsflächen, die überall im Park aufgestellt waren, erschien der Geist Omais. Als solchen musste man die in Weiß gehüllte Erscheinung, die sich dank eines genialen Regieeinfalls langsam aus dem Nichts schälte, wohl bezeichnen.
„Iaorana!“
Omai begrüßte die ferne Gemeinde in seiner Landessprache. Dabei neigte er den Kopf diskret nach vorne wie seinerzeit bei der Begrüßung der Journalisten. „Die Menschen von Tahiti lieben euch!“, sagte er ergriffen. „Sie sitzen in ihren Versammlungshäusern und schauen euch zu. Wir sind bei euch — mit ganzem Herzen und voller Dankbarkeit!“
Wieder brach sich ein Sturm der Begeisterung Bahn, die Leute in Manhattan mussten allmählich das Gefühl bekommen, dass die Jubelarien, die ihrer beschädigten grünen Lunge entsprangen, nichts Geringeres als die endgültige Erlösung ankündigten. Omai war sichtlich irritiert von der hysterischen Reaktion, die seinen bescheidenen Worten folgte. Er hob beschwichtigend die Hände und wunderte sich, wie einfach es war, diese Massen via Satellit im Zaum zu halten.
„Wie ihr alle wisst, hat Tahiti einen neuen Lebensweg gewählt“, begann er seine Rede. „Nach vielen Umwegen ist unser Volk wieder dort angekommen, wo es hingehört: bei sich selbst. Wir haben unsere innere Natur mit der äußeren Natur versöhnt. Die indigenen Völker haben trotz aller Erniedrigungen und Vergewaltigungen, die sie im Laufe ihrer Geschichte zu erleiden hatten, nicht vergessen, dass der Mensch nur eine Faser im filigranen Gewebe des Lebens ist. Und dass wir das, was wir diesem Gewebe antun, letztendlich uns selbst antun. Es ist höchste Zeit, dass wir unser versprengtes Wissen bündeln — zum Wohle der gesamten Menschheit. Es gibt keinen Grund für die indigenen Völker, sich länger klein zu machen. Sie sind es doch, die sich auf ihrer irdischen Zwischenstation zu benehmen wissen, anstatt das gastliche Haus Erde in Trümmer zu legen! Es ist höchste Zeit, dass wir uns mit euch an einen Tisch setzen, um unser Wissen und unsere Visionen auszutauschen.“
Die Ruhe und Souveränität, mit der Polynesiens junger Präsident die gemeinsam ausgearbeitete Ansprache vortrug, bereitete Cording Gänsehaut. Die sparsamen Gesten, mit denen Omai seine melodischen Aussagen untermauerte, verhinderten, dass die Botschaft trotz aller Deutlichkeit zur Kampfansage geriet. Es waren ja nicht nur die Besucher des Tahiti-Concerts, die ihm jetzt zuhörten. Von San Francisco bis Sydney, von Rio bis Rom verfolgten über einne Milliarden Menschen seinen Auftritt! Sie alle erlebten Omai als Wortführer ihres Vertrauens. Cording wurde gerade Zeuge, wie sich sein Freund problemlos zu einer historischen Figur aufschwang — zu eben jenem Öko-Ghandi, den Steve hatte kommen sehen ...
Präsident Selby verfolgte das Spektakel vom Oval Office aus, zusammen mit seinem Chefberater Dennis Phelbs. Vor wenigen Stunden hatte er das völkerrechtswidrige Vorgehen der Amerikaner und Chinesen im Südpazifik in einer eigens einberufenen Pressekonferenz nicht nur verteidigt, sondern zu einer notwendigen Maßnahme zur Erhaltung des Weltfriedens erklärt. Er hatte sich praktisch am Nasenring von Global Oil durch die Manege führen lassen. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Wie stünden die USA jetzt da, wenn ihr Präsident hätte eingestehen müssen, dass er nicht mehr Herr im eigenen Hause war, dass der dreiste Coup in polynesischen Hoheitsgewässern zwar aus amerikanischen Steuermitteln finanziert wurde, er selbst aber keine Ahnung davon hatte? Ein solches Eingeständnis hätte nicht nur der Reputation seiner Regierung, sondern dem ganzen Land unermesslichen Schaden zugefügt. Das Vertrauen in die amerikanische Demokratie wäre endgültig erschüttert worden und der Vertrauensverlust auf ewig mit seinem Namen verbunden. Selby hätte sich nie vorstellen können, jemals in eine solche Lage zu geraten.
Um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, hatte er behaupten müssen, dass eine kränkelnde amerikanische Volkswirtschaft das gesamte Weltwirtschaftssystem infizieren würde, weshalb die Schürfaktion letztlich allen Menschen zugute kam. Das war absurd. Raubbau an den letzten Ressourcen konnte doch unmöglich die Lösung sein. Es war höchste Zeit, die Leitvorstellungen der politischen Ökonomie den Leitvorstellungen der Ökologie unterzuordnen, wenn man mit den Machtstrukturen brechen wollte, die der ungezügelte Kapitalismus bis zur Selbstvernichtung aufrecht erhalten würde. Dafür war er angetreten, zumindest wollte er diesen Prozess ein Stück weit befördern. Und ausgerechnet er stand jetzt als reaktionäres Arschloch da, das sich einen Dreck um die wirklichen Probleme der Welt kümmerte. Er musste erleben, wie ein junger, charismatischer Mann aus dem fernsten Winkel der Erde seine Politik mit schlichten Worten vor aller Welt konterkarierte, ohne dass er die Chance hatte, dazu ehrlich Stellung zu nehmen.
„Die Gemeinschaften der Ureinwohner müssen lernen, wie sie auf die verheerende Situation reagieren können, die von der Gier des Kapitals herbeigeführt wurde“, hörte Selby Omai sagen. „Und zwar auf der Grundlage ihres eigenen Wissens und ihrer eigenen Lebensweise. Auf der Grundlage ihrer eigenen Werte, ihres eigenen Potentials und ihrer eigenen Ressourcen. Genau das haben wir auf Tahiti getan. Unsere Lebensweise ist kein Relikt aus der Vergangenheit, wie vielerorts zu lesen war. Im Gegenteil: die Insel ist technisch sehr gut ausgerüstet. Die meisten von euch würden erstaunt sein zu sehen, wie dienlich die moderne Technik sowohl dem Menschen als auch der Natur sein kann. Tahiti ist zu einer Art Labor geworden. Ein Labor für die gesamte Welt. Bedient euch! Macht euch unsere Erfahrungen zunutze! Tut etwas, anstatt euch weiterhin vom Verwesungsgeruch der trägen Herzen betäuben zu lassen!“
Diesmal wollte es Omai nicht gleich gelingen, die Beifallsstürme zu bändigen, die seine letzten Worte ausgelöst hatten. Also wartete er lächelnd ab. Quälende fünf Minuten lauschten auch Selby und Phelbs den Eruptionen einer Begeisterung, die sich vom Central Park aus ihren Weg um den Globus bahnten.
„Es wird euch vermutlich nicht überraschen“, schloss Omai seine Rede, „wenn ich euch verrate, dass sie uns inzwischen eine Menge Geld für die Schürfrechte geboten haben. Ist das nicht sonderbar? Sie glauben immer noch, dass es eine Sache des Geldes ist, Frieden mit der Schöpfung zu schließen! Sie wollen nicht akzeptieren, dass dieser Frieden allein durch Verständigung erreicht wird und nicht durch Verträge! Ich habe in meiner Botschaft an euch bewusst darauf verzichtet, den respektlosen Übergriff auf unser Hoheitsgebiet in den Mittelpunkt meiner Rede zu stellen. Dieses Problem wird sich regeln, die Amerikaner und Chinesen werden nicht bleiben, da bin ich sicher, nicht so lange wir eure Unterstützung haben!“
Spätestens als Tahitis Präsident ankündigte, demnächst vor der UN-Vollversammlung in Genf sprechen zu wollen, wurde Präsident Selby und seinem Chefberater klar, dass sie die Angelegenheit völlig falsch eingeschätzt hatten.
Am Tag nach Omais spektakulärem Auftritt schnellte die Zahl der Zugriffe auf die von Steve verwaltete Homepage in ungeahnte Höhen. Die meisten Downloads verzeichnete die Show von OTahiti E. Bei den Sachthemen rangierten Verkehr und alternative Energien gleichauf an erster Stelle, gefolgt von der neuen Geldordnung, der Baubiologie, der Landwirtschaft, dem Gesundheitswesen und der Bildung. Aber selbst die Parlamentsreform sowie das Bodenrecht verzeichneten mit 27 beziehungsweise 25 Millionen Zugriffen ein erstaunlich hohes Interesse. Insgesamt hatten bisher über 800 Millionen Menschen aus aller Welt das Tahiti-Projekt im Internet besucht, ein Drittel davon allein in den vergangenen 24 Stunden. Der Spendenertrag belief sich auf knapp 600 Millionen Euro, eine gewaltige Summe, die wohl nur dadurch zustande gekommen war, dass seit dem Tahiti-Concert jeder Zugriff aus der EU, China, Japan und den USA einen Euro kostete, der offensichtlich gerne bezahlt wurde.
Als Cording zum morgendlichen Briefing erschien, fand er nicht nur Steve und Fara vor, sondern auch Omai, der dem Jungen für dessen Einsatz und Erfolg dankte und ihn beglückwünschte. Vermutlich war der Präsident von der Reaktion auf Tahitis Internet-Performance ebenso überrascht wie Cording, der nicht ohne Wehmut daran erinnert wurde, dass die klassischen Medien beim großen Publikum ausgespielt hatten. Die Internet-User gestalteten ihre eigenen Programme, das Podcasting erfreute sich vor allem in der jungen Generation großer Beliebtheit. Für Cording war die Mediengesellschaft längst ins schwarze Loch der Erkenntnis gefallen, wo alles gezählt und nichts bemerkt wurde. Dass es sich im Fall Tahitis anders verhielt, dass im allgemeinen Info-Overkill tatsächlich noch so etwas wie eine Initialzündung möglich war, hätte er nicht zu hoffen gewagt. Steve hatte ihn eines Besseren belehrt. Ihm war es gelungen, Tausende von Geo-Bloggern zu vernetzen und damit einen Bodensatz an weltweiter Empörung aufzuwühlen. Sogar das von ihm installierte Internet-Parlament funktionierte. Über neunzig Prozent der Besucher stimmten für den Abzug der Amerikaner und Chinesen aus dem Südpazifik.
„Ich hab ein neues Portal gebastelt, das müsst ihr euch angucken!“, sagte Steve und rief die Homepage des Tahiti-Projekts auf.
Sie sahen, wie sich Omai auf den Großbildschirmen im Central-Park aus dem Nichts schälte. Eine Majestät im weißen Gewand, die sich dezent verneigte. „Tut etwas, anstatt euch weiterhin vom Verwesungsgeruch der trägen Herzen betäuben zu lassen!“, ließ sich der Präsident sanft vernehmen, bevor die Mädels von OTahiti E die Hüften schwangen. Klischeehafter hätte der Einstieg nicht sein können. Aber Cording hatte es aufgegeben, mit Steve zu diskutieren. Sobald er es versuchte, sah er alt aus in diesen Tagen ...
Omai hatte ihn sicher nicht ohne Grund auf diesen Spaziergang eingeladen. Cording hoffte, dass Tahitis Präsident ihn endlich in den Geheimplan einweihte, der seit ihrem gemeinsamen Besuch auf Raiatea keinerlei Erwähnung mehr gefunden hatte. Zwar ließ sich Maeva gelegentlich zu einigen Bemerkungen hinreißen, aber schlau wurde er aus ihren euphorischen Andeutungen nicht.
Sie starteten ihren Ausflug an der Nordküste der Hauptstadt, wo auf dem Gebiet des alten Industrieviertels eine tropische Parklandschaft heranwuchs, die sich schon nächstes Jahr bis zu den Fähranlegern im Herzen Papeetes erstrecken sollte. Die beiden Leibwächter hielten sich diskret im Hintergrund.
Omai hüllte sich zunächst in Schweigen. Cording hatte kein Problem damit, er war die letzten Tage kaum aus dem Büro gekommen und so genoss er die frische Brise, die von der Lagune herüberwehte. Die Ufer der Lagune waren zu seinem Erstaunen mit unzähligen miteinander vertäuten Pirogen gesäumt. Ihm fiel ein, dass das Heiva-Fest kurz bevor stand. Die Bootsrennen gehörten neben den Tanzwettbewerben zu den Höhepunkten dieses jährlichen Spektakels. Er machte allerdings eine Reihe von Bootstypen aus, die zu den Rennen nicht zugelassen waren. Ein sechzehnsitziges, mit zwei Auslegern bestücktes Kanu zum Beispiel. Je näher sie dem Damm kamen, der Papeete mit dem ehemaligen Tanklager Motu Uta verband, desto dichter wurde dieser skurrile Bootsteppich, der die Lagune bald vollständig bedeckt hielt.
„Wir werden die Eindringlinge vor Makatea wie Moskitos umschwirren“, sagte Omai, der Cordings Verwunderung bemerkt hatte. „Unsere Belagerung wird sie so sehr jucken, dass sie freiwillig das Weite suchen ...“
Er wies Cording auf die vier Autofähren hin, die an den Kais entladen wurden. Dutzende fleißiger Helfer flitzten unter dem Beifall zahlreicher Schaulustiger die Rampen auf und ab und schleppten Boote der unterschiedlichsten Größen aus dem Bauch der Fähren, die allesamt den langen Weg von Neuseeland hierher gefunden hatten.
„Diese Schiffe waren zwischen den Fidschis, Tonga und den Cook Islands unterwegs, um aufzusammeln, was uns dort als Unterstützung zugesagt worden ist“, bemerkte Omai. „Neuseeland zeigt sich erfreulich hilfsbereit. Überhaupt gibt es unter den Inseln des Südpazifiks, die ich um Hilfe gebeten habe, nicht eine, die ihren Beistand versagt hätte. Unsere polynesische Armada wird aus mehr als zehntausend Booten bestehen. So etwas hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. Oder täusche ich mich ...?“
Das also war der geheime Plan! Während Cording sich in den letzten Wochen krampfhaft darum bemüht hatte, der Weltpresse einen Funken Aufmerksamkeit für die dreiste Völkerrechtsverletzung der Amerikaner und Chinesen abzuringen, was erst durch Steves aggressive Internet-Auftritte von Erfolg gekrönt gewesen war, hatte es Omai in aller Stille vermocht, eine Solidaritätsaktion auf die Beine zu stellen, die alles übertreffen würde, was sich bisher in Sachen Tahiti auf der weltweiten Protestbühne zugetragen hatte.
„Tut mir leid“, sagte Omai entschuldigend, „ich konnte dir nicht eher davon erzählen — nicht bevor ich hundertprozentig sicher war, dass der Plan auch funktionieren würde.“
Cording erfuhr, dass die Boote, die hier vor Tahiti auf ihren Einsatz warteten, längst nicht alle waren. Der Großteil fand Unterschlupf im weitläufigen und gut geschützten Atoll von Rangiroa, das nur hundert Kilometer von Makatea entfernt lag.
„Die Leute, die dort warten, kommen von den Tuamotus“, sagte Omai, „von Kaukura, Fakarava, Makemo, Hao. Nicht wenige sogar von den Marquesas. Sie alle wollen uns helfen. Das ist die wunderbarste Erfahrung meines Lebens, mein Freund, glaub mir.“
Omai bat Cording, dafür zu sorgen, dass ein Team von Emergency-TV vor Ort sein würde, um das Spektakel live in alle Welt zu übertragen. Aber er sollte Mike erst kurz vor Beginn der Aktion anrufen. Gerade rechtzeitig genug, dass dieser seine Leute noch nach Tahiti einfliegen konnte. Omai schien von Kühlings Sinneswandel nicht restlos überzeugt. Offenbar befürchtete er, dass sich Mike auf alte Allianzen zurückbesinnen und Global Oil über die bevorstehende Aktion informieren könnte. Sicher würde sich der Öl-Multi eine solche Information ein Vermögen kosten lassen.
Am Quai d´honneur wartete Rudolf mit dem Wagen auf sie. Sie fuhren zum Flughafen, wo vor wenigen Minuten eine Transportmaschine der Air New Zealand gelandet war. Die Fracht, die sie an Bord hatte, musste von äußerster Wichtigkeit sein. Warum sonst hatte Omai für die Landung des vierstrahligen Jumbos die erste Ausnahmegenehmigung seit fünf Jahren erteilt?
Das Rollfeld war voller Menschen. Sie traten beiseite, als Omai, Cording und Rudolf sich der Maschine näherten. Viele verneigten sich, andere klatschten rhythmisch in die Hände. Die drei Männer marschierten zum Heck des Flugzeuges, wo sich die Ladeluke zu Boden senkte. In der dunklen Höhle lag ein schneeweißes, aufgeblasenes Monstrum, das den gesamten Raum ausfüllte. Es erinnerte Cording an einen gefesselten Wal. Das Ding war etwa vier Meter hoch und dreißig Meter lang. Die Menge mochte sich bei seinem Anblick kaum beruhigen. Nachdem das Monstrum ausgeladen worden war, erkannte Cording, dass es sich um eine Art Zeppelin handelte. Omai gab den Menschen zu verstehen, dass sie näher treten sollten. Hunderte zierlich brauner Hände strichen daraufhin zärtlich über die Außenhaut des weißen Ungetüms, als wollten sie es für ihre gute Sache verpflichten.
Der Pilot bat Tahitis Präsidenten und seine Begleitung ins Innere des Skycats. Der Raum, in dem sie sich nun befanden, war kein Kommandostand, er war eine Kathedrale der Technik! Das Cockpit, die Steuer- und Mischpulte, die Touchscreens, der ganze blanke Wahnsinn regenbogenfarbener Anzeigen waren eine Welt für sich. Beeindruckt betrachtete Cording das Tonstudio, die Monitore und den Wandbildschirm, auf dem das Flugfeld mit den begeisterten Massen zu sehen war. Der Skycat war ein fliegendes Studio, ideal, um den unendlichen Zug der Pirogen übers Meer nach Makatea zu begleiten, wo sie den schwarzen Hebetankern die Luft abschnüren wollten. Ursprünglich war der Skycat gebaut worden, um Naturkatastrophen aus der Luft zu beobachten, damit so die Hilfe so effektiv wie möglich organisiert werden konnte. In diesem Fall jedoch würde das seltsame Luftschiff als Auge der Weltöffentlichkeit fungieren.
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Quellen und Anmerkungen:
*Die Erklärungen der im Roman verwendeten Fachbegriffe sowie Hinweise für interessierte Leser auf weiterführende Literatur oder Webseiten befinden sich im Buch. Obwohl das „Tahiti-Projekt“ ein Zukunftsroman ist, sind die in ihm dargestellten technischen Lösungen und sozioökologischen Modelle keine Fiktion: sie existieren bereits heute! Das einzig Fiktive ist die Annahme, dass irgendwo auf diesem Planeten tatsächlich mit konkreten Veränderungen in Richtung auf eine zukunftsfähige Lebensweise begonnen wurde.