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Das zerstörte Mosaik

Das zerstörte Mosaik

Syrien, früher ein Land kultureller und religiöser Vielfalt, wurde durch den Zugriff ausländischer Mächte, aber auch infolge der eigenen inneren Zerrissenheit zu einem vorerst gescheiterten Staat.

Am 23. Juni 2025 starben bei einem Selbstmordattentat in einer Damaszener Kirche 25 Menschen, weitere 63 wurden verletzt. Das Innenministerium teilte mit, der Täter habe die Kirche betreten und unversehens begonnen, auf die Gläubigen zu schießen. Danach zündete er einen Sprengsatz, dem auch er selbst zum Opfer fiel. Die Behörden machen den Islamischen Staat (IS) dafür verantwortlich. Wie konnte das geschehen? War die Ursache pauschaler Hass auf alle Christen?

Im März 2025 überfielen dschihadistische Kämpfer gemäß Presseberichten „das Siedlungsgebiet der Alawiten, wo sie nach Angaben von lokalen Beobachtern mehr als 4.000 Zivilisten töteten, darunter Männer, Frauen und Kinder, Alte und Behinderte“. Von einer Massakerserie an Angehörigen der Glaubensgemeinschaft, der auch Bashar al-Assad angehört, ist in vielen Quellen die Rede. Aber was heißt das überhaupt, „Alewit“ — und woher kommt der Hass zwischen den Religionsgruppen?

Ein Brennpunkt der Weltgeschichte

Syrien war und ist ein sehr bedeutendes Land, ein Brennpunkt der Weltgeschichte. Sich damit zu befassen, ist lohnenswert. Schon gar nicht kann dem Land gerecht werden, wer den Fokus auf einige schwer nachvollziehbare Gewalttaten syrischer Flüchtlinge in Deutschland wie dem Messeranschlag von Solingen legt. Sicher: Viele Syrer kommen traumatisiert und voller Zorn hierher — und das hat nachvollziehbare Gründe. Aber damit ist ihre Wesensart nicht erschöpfend beschrieben.

Der Nahost-Experte Gerhard Schweizer bringt in seinem lesenswerten Buch „Syrien verstehen“ die historische Bedeutung des Landes auf einen kurzen Nenner:

„Einst war der syrische Raum eine geistige Hochburg des frühen Christentums, dann ein Kernland des Islam, für beide Weltreligionen ein Zentrum entscheidender geistiger Weichenstellungen. Syrien war der hauptsächliche Schauplatz der Kreuzzüge, deren verhängnisvolle Nachwirkungen auf die Emotionen von Muslimen wie Christen bis heute zu spüren sind und immer wieder politisch instrumentalisiert werden. Syrien war einer der maßgeblichen Brennpunkte, in denen sich die Religionsspaltung in Sunniten und Schiiten entwickelte.“

Zwei Religionen — „intensiv aufeinander bezogen“

Erinnern Sie sich noch, wo Cyrenius um die Zeit der Geburt Jesus Landpfleger war? Wer das Weihnachtsevangelium noch in Kirchen gehört hat, weiß es: in Syrien. Und wie nennt man das entscheidende Erweckungserlebnis des Apostels Paulus? Richtig: Damaskus-Erlebnis. Syrien war vor der Islamisierung im 7. Jahrhundert ein zentraler Brennpunkt christlicher Geschichte gewesen. Mehr noch: Das „Heilige Land“, das Schauplatz der Evangelien war, war politisch damals ein Teil von Großsyrien — in arabischer Sprache auch bekannt als „Sham“, bestehend neben dem heutigen Staatsgebiet auch aus dem Libanon und Palästina. Das aus der Bibel bekannte Wort „Philister“ ist sprachlich verwandt mit „Palästina“.

Verkehrssprache der Juden war von Jerusalem bis Aleppo und Antiochia das Aramäische.

Wer Syrien aus seiner Kulturgeschichte heraus verstehen will, muss wissen, dass es kein „monochrom“ islamisches Land ist, eher ein religiöses Mosaik, wenn auch in den letzten Jahrhunderten mit islamisch-sunnitischer Dominanz.

Die vier Evangelien sind vermutlich in syrischen Städten entstanden. Der Begriff „Christos“ als griechische Übersetzung von „Messias“ ist erstmals im syrischen Antiochia geprägt worden.

Kein anderes Land des Nahen Ostens, so Gerhard Schweizer, liefere derart augenfällige Beispiele dafür, „wie intensiv Islam und Christentum schon von Anfang an aufeinander bezogen sind“. Die Bedeutung Syriens als einer Wiege der Christen hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass das Land zum Brennpunkt der Kreuzzüge im 12. Jahrhundert wurde — damals regierte der auch im Westen sehr bekannte Sultan Saladin. Diese Ereignisse schufen Gräben zwischen den Religionen, die bis heute nicht ganz zugeschüttet sind. Das Konzept des „heiligen Krieges“ war in der Zeit der Kreuzzüge ursprünglich ein christliches. Der „heilige“ Bernard von Clairvaux (1090 bis 1153) sagte in einer seiner Predigten:

„Der Soldat Christi, sage ich, tötet unbekümmert, noch sicherer stirbt er. Wenn er stirbt und wenn er tötet, überstellt er sich Christus. Denn nicht ohne Grund trägt er das Schwert: Er steht im Dienst Gottes, um den zu bestrafen, der Böses tut.“

„Eine wichtige Stütze der Regierung“

Auch nach den Kreuzzügen war die Liste wechselseitiger Gewalttaten zwischen beiden Religionen lang, wobei der Islam meist in der stärkeren Position war. Im Juli 1860 haben Muslime in Damaskus innerhalb einer einzigen Nacht alle Kirchen zerstört, viele Basare, Handwerkerstuben und Wohnhäuser von Christen abgefackelt und über dreitausend von ihnen erschlagen, auch Frauen und Kinder. Das erinnert — bei aller Vorsicht, die bei historischen Vergleichen angebracht ist — an die von den Nazis initiierte „Reichspogromnacht“ 1938. Überwiegend handelte es sich bei den Opfern um arabische Christen, die über viele Generationen friedlich mit Muslimen zusammengelebt hatten.

Weiter in großen Zeitsprüngen in die Zehner-Jahre des 21 Jahrhunderts: Ein armenischer Christ, mit dem Gerhard Schweizer bei seinen Recherchen zu „Syrien verstehen“ sprach, lobte die Regierung Assad dafür, dass Christen nun in Syrien sicher leben und ihren Geschäften nachgehen könnten, „ohne sich vor Schikanen und Belästigungen fürchten zu müssen“. Christen seien nunmehr „eine wichtige Stütze der Regierung“. Der Armenier wies stolz darauf hin, „dass die Gassen in dem Christenviertel viel sauberer seien als bei den Muslimen“. Und er warnte vor einem Ende der Herrschaft der Baath-Partei. „Dann würden wieder typische Muslime an die Macht kommen: engstirnig, intolerant…“ Sehr tolerant wirken die Äußerungen von besagtem Informanten jedoch auch nicht.

Eine labile Machtbasis

Die Baath-Partei war die politische Machtbasis der Assad-Dynastie, also von Bashar und seinem Vater Hafiz al-Assad. Interessanterweise wurde die zugleich panarabisch-nationalistische und sozialistische Bewegung von einem Christen gegründet, Michel Aflak (1910 bis 1989). Dieser postulierte eine arabische Nationalität nach dem Vorbild europäischer Nationalstaaten, unter deren Dach sich Christen vom Status einer geduldeten Minderheit emanzipieren und als mit Muslimen gleichgestellte Bürger verstehen konnten. Baath kam unter der Führung von Hafiz al-Assad 1970 durch einen Putsch an die Macht. Aflak und Assad waren Anhänger einer Ein-Parteienherrschaft nach dem Vorbild Lenins.

Langfristig konnte sich die Partei gegen die überwältigende Mehrheit orthodoxer Sunniten nur durch einen perfekt organisierten Repressions- und Überwachungsapparat an der Macht halten.

Gleichzeitig favorisierte die Baath-Partei einen säkularen Staat, was für religiöse Minderheiten wie Christen, Alawiten und Drusen lange Zeit ein erträgliches Umfeld garantierte. Fürchten mussten sich in der Regierungszeit der beiden Assads eher diejenigen, die deren Herrschaft nicht bedingungslos unterstützten, zum großen Teil also Sunniten.

1982 kam es zu einem Gemetzel von „Glaubenskriegern“ der Muslim-Bruderschaft an Funktionären der Baath-Partei in der Stadt Hama. Die Assad-Anhänger wurden aus ihren Betten geholt und niedergemetzelt, angefeuert auch von sunnitischen Imamen, die die „Rechtgläubigen“ über Lautsprecher zum Heiligen Krieg aufriefen. Noch fürchterlicher war dann die Reaktion der Assad-Regierung, die Hama mit 12.000 Soldaten einkesseln ließ. Nach 14 Tagen Belagerung lag die Stadt mit ihren Häusern und Moscheen mehr oder weniger in Trümmern, 30.000 Einwohner wurden getötet, etwa 10.000 in Gefängnisse verschleppt. Danach herrschte eine ganze Zeit lang Friedhofsruhe in Syrien.

Immer Stress wegen Ali

Hier müssen wir nun auf das Problem der unterschiedlichen islamischen Konfessionen zu sprechen kommen, das in Syrien zu einer besonders explosiven Gemengelage führt. Muawiya, der fünfte Kalif des Islams, verlegte seine Residenz im Jahr 661 aus der eng mit der Lebensgeschichte des Propheten Mohammed verbundenen Stadt Medina nach Damaskus. Syrien war also lange Zeit Kernland des Islams. An die erste islamische Dynastie, die Umayyaden, erinnert bis heute die prachtvolle Umayyaden-Moschee in Damaskus. Der Nachfolger Muawiyas, Kalif Yasid, soll hier den in der Schlacht bei Kerbala abgeschlagenen Kopf des Propheten-Enkels Hussein entgegengenommen haben.

Wer die Geschichte des Islams aus schiitischer Perspektive kennt, dem fällt auf, dass der größere sunnitische Zweig des Islams in Syrien seit Beginn der Glaubensspaltung fest verwurzelt war. Sunniten respektieren zwar Ali, den vierten Kalifen des Islams, als einen Gefährten Mohammeds, sehen aber im Gegensatz zu Schiiten keinen Hinweis darauf, dass der Prophet in Ali seinen natürlichen Nachfolger gesehen habe. Der arabische Begriff „Sunna“ bedeutet „Tradition“ oder „herkömmlicher Weg“. „Schia“ dagegen bedeutet „Partei“ — gemeint ist: Die Partei Alis.

Ali, der auch Gatte von Mohammeds Tochter Fatima war, starb als Kalif 661 durch ein Attentat. Er gilt deshalb unter Schiiten als der erste Märtyrer, jedoch lasten Schiiten seine Tötung sowie die seines Sohnes Hussein normalerweise nicht allen Sunniten an.

Die Glaubensspaltung entzündete sich vielmehr an der unterschiedlichen Gewichtung der Person Alis.

Sieben oder zwölf Imame?

Die schiitische Richtung spaltete sich in der Folge in weitere Untergruppen auf. Zunächst gibt es die „Siebener-Schiiten“, welche der Meinung sind, dass die Kette der Imame — biologische Nachfahren des Propheten Mohammed, die als unfehlbar Autoritäten gelten — mit dem siebten Iman, Ismail, abgerissen ist. Man nennt die Siebener-Schiiten auch „Ismailiten“. Die zweite Richtung wird durch die „Zwölfer-Schiiten“ repräsentiert, die das religiöse Leben im Iran bis in die Gegenwart unter Ayatollah Ali Khamenei dominieren. Nach ihrem Glauben gab es nach Ismail noch vier weitere „rechtgeleitete“ Imame — der zwölfte wurde schon als Kind vor Häschern versteckt und später nach Ansicht von Gläubigen in jenseitige Sphären entrückt. Zwölfer-Schiiten identifizieren den zwölften Imam auch als den „Mahdi“, den Erlöser der Zukunft, der Gottes Reich auf Erden am Ende der Zeit wiederherstellen werde.

Auf Basis dieser Vorkenntnis können wir uns nun auch mit den Alawiten beschäftigen, der Religionsgruppe Baschar al-Assads und eines Großteils seines Regierungsapparats, welche eine Art schiitische Sekte darstellt. Die Alawiten repräsentieren eine Variante der Siebener-Schiiten oder Ismailiten, was ihnen auch das Missfallen der iranischen Zwölfer-Schiiten einbrachte. Das eigentlich Skandalöse und Unannehmbare am Glauben der Alawiten ist jedoch für Sunniten wie Schiiten die Tatsache, dass Ali — dessen Name auch im Wort „Alawiten“ steckt — bei ihnen einen sogar noch höheren Rang genießt als der Prophet Mohammed. Gott habe Ali noch weitere persönliche Offenbarungen herabgesandt, die über jene des Korans hinausgingen. Dies sei geheimes Wissen, nur Eingeweihten zugänglich.

„Untypische“ Muslime, die provozieren

Alawiten haben der Shahada, dem islamischen Glaubensbekenntnis, kurzerhand noch eine dritte Komponente hinzugefügt. Bei ihnen heißt es nicht nur: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott und ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist“, sondern zusätzlich: „Ich bezeuge, dass Ali der Freund Gottes ist.“ Wir haben es also mit einer Art Trinität zu tun, wobei Mohammed eher die am wenigsten bedeutende „Ecke“ dieses heiligen Dreiecks darstellt.

Ali ist nach alawitischer Auffassung eine Mensch gewordene Erscheinungsform Gottes. Das erinnert an die „Avatare“ (Emanationen des Göttlichen) im Hinduismus, aber natürlich auch an die Einheit Jesu mit Gott („Der Vater und ich sind eins“) im Christentum.

Weiter provozieren Alawiten die orthodoxen Sunniten durch ihre Nähe zu Elementen des christlichen Glaubens, was interessant ist, wenn man die reiche christliche Tradition in Syrien betrachtet. Alawiten feiern Weihnachten und Ostern und verehren in besonderer Weise Jesus, der im Islam ja generell als wichtiger Prophet anerkannt ist. Alawiten nehmen es auf der anderen Seite mit „typischen“ islamischen Bräuchen nicht so genau, was selbst die berühmten „Säulen des Islam“ umfasst. So betrachten sie es als unnötig, fünfmal am Tag zu beten und regelmäßig in eine Moschee zu gehen. Ramadan und Pilgerfahrt nach Mekka gelten ihnen allerdings als entbehrlich. Der alawitische Glaube ist ein sehr „innerlicher“, dem der reine Zustand des Herzens wichtiger ist als äußere Rituale und die Treue zur Tradition. Weiter kennzeichnet es Alawiten, dass es ihnen leichter fällt, sich der Moderne zu öffnen, weil ihre Lebensweise freier ist, weniger festgelegt durch detaillierte Vorschriften.

„Liberal“, „sozial“, „säkular“

Alawiten misstrauen einer zu engen Verbindung von Religion und Staat. In der Türkei etwa haben sich Aleviten — so die Schreibweise für die türkische Variante — bereitwillig der säkularen Reformbewegung von Mustafa Kemal Atatürk angeschlossen. Ein Grund dafür könnten negative Erfahrungen mit Verfolgung durch sunnitische Fanatiker gewesen sein. Aleviten neigten auch schon früh zu „sozialistischen“ Vorstellungen. Schon im 14., 15. und 16. Jahrhundert sollen sie sich in der Türkei an Aufständen armer Bauern gegen sunnitische Feudalherren beteiligt haben. In ähnlicher Weise war der alawitische Glaube auch in Syrien leichter mit der Ideologie der sozialistisch geprägten Baath-Partei kompatibel, der Baschar al-Assad und sein Vater Hafiz al-Assad angehörten.

Eine andere Eigenheit der Alawiten, die im Westen positiv bewertet wird, ist die relativ liberale Haltung dieser Religionsgruppe gegenüber Frauen. Für diese gab es nie eine Schleierpflicht. Laut Gerhard Schweizer haben Alawiten „ihren Frauen schon Jahrhunderte zuvor größere Rechte eingeräumt als etwa die Sunniten und Schiiten“. Asma al-Assad, die Ehefrau des früheren Präsidenten, ist übrigens Sunnitin, besuchte aber in London das christlich-anglikanische King‘s College.

Angst vor dem Machtverlust der Alawiten

Für Sunniten ist vieles, was Alawiten tun oder unterlassen, ein No-Go. Zwischen beiden Religionsgemeinschaften herrscht teilweise blanker Hass — ausgelöst durch den gegenseitigen Vorwurf der Ketzerei.

Die Spannungen in Syrien während der Amtszeit Assads waren zum großen Teil auf folgende labile Konstruktion zurückzuführen: Sunniten machten rund 70 Prozent der Bevölkerung aus und hatten wenig politische Macht; Alawiten stellten 11 Prozent und hatten fast die ganze Macht inne.

So überrascht es nicht, dass ein syrischer Gesprächspartner Gerhard Schweizers schon um das Jahr 2014 eine düstere Prophezeiung machte:

„Falls die Alawiten die Macht verlören, würde es zu Blutvergießen kommen, die Situation in Syrien könnte wieder für sehr lange Zeit instabil werden.“

Natürlich entstammen die Aussagen aus dem genannten Buch einer Zeit lange vor dem Machtwechsel im Dezember 2024. Vieles daran kann aber mit Blick auf die jüngsten Ereignisse als prophetisch betrachtet werden. Schweizer erklärt, bezogen auf die Entstehungszeit des Buches, „dass relativ viele Christen sich demonstrativ zum Baath-Regime bekennen, denn der ‚jetzt amtierende Staatspräsident‘ verteidige mehr als seine Vorgänger die Rechte der Christen gegen die Forderungen radikaler Muslime“. Noch deutlicher lobten Alawiten die Baath-Regierung, „sie, die ein paar Jahrzehnte früher sich noch vor Anfeindungen orthodoxer Sunniten und Schiiten fürchten mussten“.

Elitär und zugleich tolerant: die Drusen

Noch ein paar Worte zu der Religionsgruppe, über die derzeit viel gesprochen wird: den Drusen. Sie machen in Syrien etwas 3 Prozent der Bevölkerung aus, und Syrien ist das Land, in dem sie weltweit am stärksten vertreten sind. Die Drusen sind, wie die Alawiten, „Siebener-Schiiten“ beziehungsweise „Ismailiten“. Die Gruppierung wurde im 11. Jahrhundert von dem persischen Wanderprediger Mohammed Ibn Ismail ad-Darazi begründet. Aus „Darazi“ entstand dann auch der Begriff „Druse“. Der Religionsgründer erklärte den während seiner Lebenszeit regierenden Kalifen Hakim zu einer menschgeworden Inkarnation Gottes — vergleichbar dem, was ihre jeweiligen Anhänger über Ali oder auch Jesus sagen. Drusen nehmen es, ähnlich wie Alawiten, mit „typisch“ islamischen Vorschriften nicht so genau und kennen über den Koran hinausreichende heilige Schriften. Sie deuten den Koran nicht wörtlich, sondern allegorisch, was zu einer generell toleranteren Haltung führt.

Allerdings wird die drusische Religion weitgehende von Geheim- und Eingeweihten-Wissen bestimmt und ist insofern schwer zugänglich. „Mitglied“ wird man normalerweise nicht durch Bekehrung und willentlichen Beitritt, sondern nur durch Vererbung. Druse ist, wessen Eltern Drusen waren. Sehr großzügig sind Drusen, was die Anerkennung anderer Religionen betrifft. Nicht nur Moses und Jesus, sondern zum Beispiel auch Buddha und Sokrates werden von ihnen als Weisheitslehrer anerkannt.

Reinkarnationsglaube in der islamischen Welt

Außergewöhnlich und in der islamischen Welt ziemlich einzigartig ist die Tatsache, dass Drusen an Seelenwanderung, also an Reinkarnation glauben. Damit widersprechen sie der sunnitischen und auch christlichen Vorstellung, dass die menschliche Seele bis zum jüngsten Tag ruhen und dann auferweckt werde.

Problematisch sind die Auswirkungen der Reinkarnationslehre auf die praktischen Moralvorstellungen der Drusen. So ist es bei diesen durchaus gängig, das Leiden eines Menschen in der Gegenwart als Folge von Verfehlungen in einem Vorleben zu interpretieren, während von erfolgreichen Menschen angenommen wird, sie ernteten die Früchte vieler guter Taten aus früheren Inkarnationen.

Diese Haltung erinnert an die Lehren US-amerikanisch geprägter Populär-Esoterik. Oder an das Werk Thorwald Dethlefsens, der behauptet hat: „Das Resonanzprinzip besagt, dass jeder das erhält, was er verdient.“ Auch Drusen lebten im Übrigen mit der Regierung Assad auf gutem Fuß, weil sie sich von ihm Schutz vor Übergriffen der sunnitischen Mehrheit erhofften und auch bekamen. Noch vor wenigen Tagen haben aber offenbar syrische Regierungstruppen 19 drusische Zivilisten getötet. Dem neuen Machthaber Ahmed al-Sharaa wird vielfach vorgeworfen, er sei am Schutz religiöser Minderheiten in Syrien nicht ernsthaft interessiert. Wegen der fortlaufenden Gewalttaten meinte nun auch Benjamin Netanjahu, tun zu müssen, was er am liebsten tut: gewaltsam zu intervenieren. Bomben fielen auf Damaskus. Die Türkei zeigte sich „not amused“ — wieder stehen wir vor der Gefahr eines Flächenbrands mit ungewissem Ausgang.

Ein „Hoffnungsträger“ teilt aus

Aber zurück zur Ära Assad. Hafiz‘ Sohn, Baschar al-Assad, startete 2000 als Hoffnungsträger, der zusammen mit seiner gebildeten Frau Asma eine Aura des Fortschritts und der Toleranz um sich herum zu verbreiten wusste. Nicht nur die Boulevard-Blätter, auch westliche Regierungschefs hofierten das schmucke Paar, welches einen „modernen“ Orient zu repräsentieren versprach. Der „Damaszener Frühling“ endete aber nach etwa einem Jahr jäh, als Bashar sich mit Unterstützung seiner Berater zur brutalen Niederschlagung einer damals noch vergleichsweise kleinen Demonstrationsbewegung entschloss. Neben ausländischer Einflussnahme sieht Gerhard Schweizer für das Scheitern einer möglichen Demokratisierung Syriens noch ein weiteres, für dieses Land spezifisches Problem.

„Anders als in den meisten arabischen Ländern gehören in Syrien Regierende und Opposition nicht derselben Konfession an.“

Der Aufstand im März 2011 hatte einen unzweifelhaft religiösen Hintergrund. In Homs, einem der Zentren sunnitischer Islamisten, skandierten demonstrierende Assad-Gegner: „Christen nach Beirut — Alawiten in den Sarg.“

Entscheidend für die weitere Entwicklung im Bürgerkrieg war nun auch die Tatsache, dass sich der „Islamische Staat“ (IS) seit 2014 im Norden Syriens in einer Art eigenem Staatsgebilde etablieren konnte. Damit unterlief er auch das Modell des Nationalstaats als einer Heimat für alle Bewohner und stellte den alles entscheidenden Gegensatz zwischen „Gläubigen“ (Sunniten) einerseits und „Ungläubigen“ (Schiiten, Alawiten, Christen) andererseits in den Vordergrund. Im Einflussbereich des IS war und ist „Abwendung vom Islam“ ein Grund für die Anwendung der Todesstrafe. Selbst Sunniten, die eine freiere Interpretation des Islam favorisieren, schweben in Lebensgefahr.

Komplizierte Bündnisfronten

Die Bündnisfronten, die sich im Zuge des syrischen Bürgerkriegs bildeten, erscheinen für nicht genau informierte Beobachter teilweise schwer nachvollziehbar. Der Iran unterstützte die Assad-Regierung. Man kann Schiiten wie Alawiten als religiös „verwandt“ betrachten, weil der Partei des Propheten-Schwiegersohns Ali zugeneigt. Andererseits ähneln sich der schiitisch regierte Iran und der sunnitische IS in ihrer Konzeption eines Gottesstaats ohne Ansätze von religiösem Pluralismus. Schwieriger und nur durch globalen Machtpoker zu erklären ist die klare Frontstellung des „christlichen“ Westens gegen Assad, unter dessen Regierung ja Christen lange unbehelligt leben konnten. In der Folge der Jahre andauernden propagandistischen und militärischen Kampagne musste das Ehepaar Assad ins ebenfalls verbündete Russland fliehen, und sunnitische Fundamentalisten — im Grunde Geistesverwandte des IS — regieren Syrien.

Die Rolle Israels in Syrien ist doppelt kompliziert, weil der „jüdische Staat“ traditionell eine besonders enge Verbindung zu den Drusen pflegt, deren wichtigstes Verbreitungsgebiet neben Syrien und Libanon Israel ist.

Die Frage, welcher der beiden Hauptgegner im Bürgerkrieg der schlimmere gewesen sei, lässt sich sehr schwer moralisch und etwas leichter statistisch bestimmen. Das Syrian Centre for Policy Research gibt eine Zahl von 470.000 Toten im Syrischen Bürgerkrieg an. Das Land hat binnen knapp vier Jahren drei bis vier Millionen seiner Bürger durch Flucht ins Ausland verloren, rund 15 bis 20 Prozent davon landeten in Europa, unter anderem in Deutschland. Dass sich darunter viele schwer Traumatisierte befinden, ist mit Händen zu greifen.

Syrische Konflikte auf deutschen Straßen

Laut Gerhard Schweizer floh die Mehrheit davon nicht vor dem IS, sondern vor dem „Terror des Assad-Regimes“. Dies sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass der damalige syrische Präsident dicht besiedelte Ballungsräume mit Fassbomben verwüsten ließ. Dem Syrian Network für Human Rights zufolge „haben Assads Soldaten zwischen Januar und August 2015 insgesamt ungefähr 11.500 Menschen getötet, der IS dagegen etwa 1.800“. Dies entschuldigt die Taten der islamistischen „Rebellen“ natürlich nicht.

Schweizer deutet auch die Schwierigkeiten, die syrische Flüchtlinge in Deutschland vielfach haben beziehungsweise verursachen, mit Blick auf die ethnischen und religiösen Konflikte in deren Heimat.

„Fast immer lässt sich beobachten, dass die Massenschlägereien sich entlang ethnischer Grenzlinien entladen: Syrer gegen Kurden, Iraker, Pakistani und andere. Oder auch entlang religiöser Grenzlinien: Sunniten gegen Schiiten, Alawiten, Christen und umgekehrt.“

Es sind in diesem Sinne eindeutig importierte Konflikte, die Deutschland belasten — zunächst, ohne dass einzelne deutsche Bürger dafür verantwortlich wären.

Das moderne Syrien — eine Schöpfung der CIA?

Andererseits berücksichtigt die bisher von mir wiedergegebene Erzählung zu wenig die Mitverantwortung westlicher Nationen für den Verlauf der syrischen Geschichte und insbesondere des Bürgerkriegs seit 2011. Ich habe mich bewusst für eine Deutung entschieden, die sich auf innersyrische und hier besonders auf religiöse Konflikte fokussiert. Daraus lassen sich wertvolle Erkenntnisse gewinnen, die in einer rein „materialistischen“, tagespolitischen Deutung vielleicht zu kurz kommen. Der von mir häufig zitierte Gerhard Schweizer blendet westliche Einflüsse fast völlig aus, was zu einem schiefen Gesamtbild führen kann.

Für die Betrachtung von Einflüssen der USA und anderer westlicher Länder empfehle ich das grundlegende Buch von Michael Lüders: „Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien in Chaos stürzt“. Lüders schreibt darin rund heraus:

„In Syrien geht es nicht um ‚Werte‘, sondern um Interessen. Geopolitik erklärt, warum aus dem Aufstand eines Teils der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime in kürzester Zeit ein Stellvertreterkrieg werden konnte.“

Und: „Die Hauptakteure allerdings sind seit 2012 Washington und Moskau.“ Lüders behauptet sogar: „Wer sich mit Syrien befasst, muss sich auch mit der CIA befassen.“

Vorwürfe gegen Assad — nur westliche Propaganda?

Michael Lüders leugnet die schweren Menschenrechtsverletzungen nicht, die von der Assad-Regierung selbst ausgingen — obwohl sein Hauptfokus auf dem verheerenden Einfluss des Westens liegt. Die Schwärze der einen Seite macht die Weste der anderen nicht weißer.

Vielmehr haben wir es eher mit einer Teufelskreisdynamik einander auslösender destruktiver Aktionen und Reaktionen zu tun. „Ja, das Assad-Regime ist verbrecherisch“, schreibt Lüders.

„Die Vorstellung aber, auf Seiten der ‚Rebellen‘, die außerhalb der kurdischen Gebiete fast ausschließlich aus Dschihadisten bestehen, wären Menschenfreunde am Werk, die nur töten, um sich gegen das Regime zu verteidigen, hat mit der Realität nichts zu tun. Jeder Syrien-Bericht etwa von Amnesty International oder Human Rights Watch straft solche Überzeugungen Lügen.“

Eine zu wohlwollende Assad-Apologie, wie wir sie gelegentlich auch in den „alternativen Medien“ finden, ist in Anbetracht der Fakten schwer durchzuhalten. Mit dem von mir gewählten — und nicht vollständigen — Ansatz einer hauptsächlich religionsgeschichtlichen Betrachtung vermeide ich aber eine mögliche Einseitigkeit. Syrien wird so nicht wie ein weißes Blatt Papier betrachtet, dass von ausländischen Invasoren wie USA, Frankreich, Israel, Türkei, Iran oder Russland nach Belieben vollgeschrieben wurde. Auf diesem „Blatt“ stand, lange bevor diese mächtigen Nationen ihre Interessen geltend machten, schon sehr viel Eigenes.

Ein Schmelztiegel wird zur Trümmerwüste

Syrien ist nicht allein Opfer der Grausamkeit und des Wahns anderer — es hat davon leider genug aus sich selbst heraus hervorgebracht.

Speziell auch auf dem Gebiet religiösen Zwists und fundamentalistischer Rechthaberei, die sich zum Beispiel um die Bedeutung des Propheten-Schwiegersohn Ali Abu ibn-Talib rankt. Solche Glaubensfragen — im Verein mit den Verirrungen des spirituell weitgehend ausgehöhlten materialistischen Westens — haben aus dem bunten und reizvollen Religionen-Mosaik Syrien einen Hexenkessel hasserfüllter Anwürfe und schließlich eine Trümmerwüste gemacht.

Mein Eindruck ist, dass viele „Sollbruchstellen“ der syrischen Gesellschaft hausgemacht sind und weit in die Geschichte zurückreichen, dass aber ausländische Mächte aus Eigeninteresse nochmals Keile in schon vorhandene Risse getrieben und die religiösen Empfindungen von Einheimischen in ihrem Sinne instrumentalisiert haben. Man darf auch nie die inhärente Dämonie der Macht vergessen, den unheimlichen Drang, andere Menschen zu beherrschen oder gar zu zerstören — einen Impuls, dem weder die Assad-Regierung noch Vertreter verschiedener Religionsgruppen noch ausländische Akteure wie die USA offenbar widerstehen konnten und können.

Ein muslimischer Aufklärer

Der Korangelehrte Abu Hamid Mohammed al-Ghazali, der im 11. Jahrhundert unter anderem in Bagdad und Damaskus lebte, gehört sicher zu den großen Denkern der Vergangenheit, von denen man sich wünschen würde, dass sein Werk nicht nur im modernen Syrien, sondern auch bei uns mehr Gehör fände. Sein Beispiel zeigt:

Eine Aufhellung des geistig-religiösen Horizonts müsste keinesfalls durch westliche Narrative erfolgen, die dem Orient „übergestülpt“ werden. Sie könnte aus der eigenen Tradition hervorgehen, sofern sich eher offene und wenige vernagelte Kräfte dort durchsetzen würden.

Al-Ghazali schrieb unter anderem Kritisches über die stumme Unterwerfung der Mehrheit unter religiöse Autoritäten, die er als bequem geißelte.

„Denn es ist eine Bedingung des Autoritätsglaubens, dass er seinem Träger nicht bewusst ist. Sobald der Autoritätsgläubige merkt, dass er autoritätsgläubig ist, zerbricht das Glas seines Glaubens, und die Scherben lassen sich nie wieder zusammenflicken.“

Mystik als Mittel gegen den Hass

Al-Ghazali verneinte, dass man mithilfe der Vernunft die Existenz Gottes oder einer unsterblichen Seele beweisen könne. Ebenso wenig könne man beides logisch widerlegen. Gewissheit sei im Grund unmöglich zu erlangen, was den großen Philosophen in mancher Hinsicht als einen orientalischen Immanuel Kant erscheinen lässt — der jedoch viele Jahrhunderte vor letzterem lebte.

Al-Ghazalis Ausweg aus dem Dilemma war Mystik, wie er sie dem Weg der Sufis entnahm. Diese habe gedankenlosen, auf Gehorsam beruhenden Dogmatismus ebenso überwunden wie einseitig rationale Theologie. Eher vertraute er auf Gefühl und Meditation als Wege zum Göttlichen, wodurch die Macht religiöser Autoritäten relativiert wird und auch Andersgläubige grundsätzlich in den Stand versetzt werden, den mystischen Weg zu gehen. „Um zu bekommen, was du liebst“, sagte er, „musst du zuerst geduldig mit dem sein, was du hasst.“


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Quellen und Anmerkungen:

Buchtipps:
Gerhard Schweizer: Syrien verstehen. Geschichte, Gesellschaft und Religion. Klett-Cotta, 544 Seiten, 14,- Euro
Michael Lüders: Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzt. C.H. Beck, 175 Seiten, 14,95 Euro

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