„Zoroaster war der erste Schöpfer der moralischen Welt, in der wir leben“, schrieb Michael Axworthy in seinem umfangreichen Buch „Iran — Weltreich des Geistes“. Der altpersische Philosoph, von dem man nicht einmal mit Sicherheit weiß, ob er um 600 oder um 1000 vor unserer Zeitrechnung gelebt hat, ist in Deutschland auch als „Zarathustra“ bekannt — hier allerdings vor allem durch den reichlich unmoralischen Philosophen Friedrich Nietzsche. Zoroaster war verantwortlich für einen Denkansatz, den wir heute auch als „persischen Dualismus“ kennen: Es gibt Gut und es gibt Böse. Und es gibt Himmel und Hölle als Resultate menschlichen Verhaltens während ihres Erdenlebens. Axworthy erkennt bei diesem Dualismus „einen starken Hang zu Vorstellungen vom freien Willen“ (…), der sich aus der Notwendigkeit für die Menschen ergibt, zwischen dem Guten und dem Schlechten zu wählen.“
Der Zoroastrismus ist auch bekannt als „Mazdaismus“, weil er sich auf die Gottheit Mazda (gut) beruft, die im Konflikt mit dem destruktiven Geist Ahriman (böse) steht. Wir wissen nicht, ob Zoroaster wirklich der Erfinder des Konzepts von „Gut und Böse“ war oder ob er auf noch ältere Überlieferungen zurückgriff. Sicher ist, dass seine Wirkung auf die Zeit „danach“ enorm war. Axworthy fasst zusammen:
„Dieser Dualismus blieb über Jahrhunderte ein durchgängiges Thema im iranischen Denken.“
Sowohl bei Ajatollah Ali Khamenei, dem derzeitigen geistlichen und weltlichen Oberhaupt des Iran, als auch bei dessen Vorgänger Ajatollah Ruhollah Khomeini finden wir die Bezeichnung „Großer Satan“ für die USA und „Kleiner Satan“ für Israel. Diese Form holzschnittartiger moralischer Beurteilung feiert natürlich während der derzeitigen Auseinandersetzungen zwischen Iran und Israel Hochkonjunktur.
Moralische Schattenrisse
Der Westen tut gut daran, sich selbst nicht zum Hort eines besonders differenzierten Denkens hochzustilisieren — im Gegensatz zu einem mythisch-pauschalisierenden Osten. Wir erinnern uns noch gut an das „Evil Empire“ Ronald Reagans und an die „gefallenen Engel aus der Hölle“ von Exkanzler Olaf Scholz. Und auch der links geprägte Diskurs im heutigen Deutschland kennt einen „großen Satan“ (Trump) und einen „kleinen Satan“ (die AfD) — auch wenn das Abendland meist versucht, seinen Mythen einen rationalen Anstrich zu geben. Aber kann es sein, dass im alten Persien der Ursprung von all dem gelegen hat? Und wenn dem so ist — wie kam dieses Denken „zu uns“? Schließlich gab es durchaus religiöse Ansätze, die die dualistische Moral zu transzendieren versuchten. Etwa im Matthäus-Evangelium, wo Jesus die unterkomplexe Unterscheidung zwischen „uns“ (gut) und „den anderen“ (böse) durch die Ermahnung zur Selbstkritik aufzuweichen suchte: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“
Solche fast an „moralischen Relativismus“ grenzenden Konzepte setzten sich allerdings in der Breite nie durch, sondern blieben allenfalls auf kleinere Zirkel moralischer Feinschmecker beschränkt. Das Abendland gab sich nach außen hin gern christlich, blieb aber im Kern durchaus zoroastrisch, was zu einer unübersehbaren Reihe von Kriegen im Namen des vermeintlich Guten führte: zwischen den Völkern, zwischen christlichen Konfessionen und auch zwischen Privatmenschen.
Eine Wiege der Weltkultur
Zur iranischen Kultur muss man anmerken, dass sie ein absolutes Original ist.
Iran ist eines jener Länder, die in religionsschöpferischer Hinsicht einen Urknall auslösten, dessen Splitter sich seither weit im geistigen Universum der Welt ausgebreiten haben.
Eine vergleichbare Wirkung hatten Indien und — was im zeitgenössischen Kontext interessant ist — Israel beziehungsweise das „Heilige Land“. Europäische Religiosität ist dagegen in gewisser Weise ein sekundäres, nur abgeleitetes Phänomen. Anstatt selbst schöpferisch zu sein, beschränkte sich Europa auf das Verarbeiten von Impulsen aus dem Vorderen Orient. Das Eigene — etwa germanische und keltische Naturreligionen — blieb darunter weitgehend verschüttet und steht heute in Deutschland unter Nazi-Verdacht.
Das Persische lieferte auch sprachlich so manchem Impuls für den indogermanischen Raum, etwa die Worte „pedar“ (Vater), dokhtar (Tochter) und „paradaida“ (Paradies). Als Europa seine erste Hochkultur schuf, die griechische, kam es zu einem andauernden Konflikt Griechenlands mit Persien, der eine Art Blaupause für alle späteren Auseinandersetzungen zwischen „dem Westen“ und dem Orient darstellte. Großkönig Dareios — sein Name bedeutet „Der das Gute aufrechterhält“ — startete 512 v. Chr. einen Feldzug in Richtung Europa und nahm Thrakien und Mazedonien ein. Die Athener hielten ihn in der Schlacht von Marathon (490 v. Chr.) auf. Dareios‘ Sohn Xerxes, der auch durch eine Oper von Georg Friedrich Händel bekannt wurde, zog mit einem gewaltigen Heer 480 v. Chr. gegen Sparta und später Athen. Als ultimative Demütigung für Europa brannte er die Akropolis nieder, seine Flotte wurde dann aber bei Salamis geschlagen. Diese Kriege boten reichliche Stoff für Heldenlegenden globaler „Wessis“.
Die Blaupause aller Ost-West-Konflikte
Alexander der Große hat die Eroberungen der Perser zwischen 334 und 322 v. Chr. dann mehr oder weniger rückabgewickelt. Nach der erfolgreichen Schlacht bei Issos gegen das Heer des Perserkönigs Dareios III. brannte Alexander dessen damalige Hauptstadt Persepolis nieder, was wie eine recht plumpe westliche Retourkutsche wirkt. In späteren zoroastrischen Schriften wird der von uns als „groß“ vergötterte Alexander als „guzastag“ bezeichnet: „der Verfluchte“ — ein Ehrentitel, den er nur noch mit Ahriman teilt, dem Teufel selbst. Der mazedonische Reichsgründer ermutigte seine Soldaten dann jedoch persische Frauen zu heiraten und Kolonien im Osten zu gründen, eine „Politik der Persianisierung“. Das klingt nach einer guten Lösung. Wie wir heute wissen, blieb es aber nicht bei dieser einen Keilerei zwischen Morgen- und Abendland.
Geschichtswirksam war vor allem auch eine Variante des Zoroastrismus: der Manichäismus, benannt nach dem Propheten Mani (geboren 216). Mani verschärfte das in Persien gängige holzschnittartige Weltbild noch einmal beträchtlich, indem er es mit einer dezidiert körperfeindlichen Mythologie auflud.
Licht (gut) und Materie (böse) galten ihm als antagonistische Kräfte, was für die Alltagsmoral seiner Anhänger dramatische Folgen hatte. Michael Axworthy fasst Manis Lehre so zusammen:
„Durch Beischlaf und Fortpflanzung hat das Böse das Licht in die Materie eingeschlossen und die eigene Herrschaft auf der Welt errichtet. Jesus vermochte dem Menschen zwar aus seiner elenden Lage zu befreien, aber nur für kurze Zeit; die einzige Hoffnung richtete sich letztlich auf die Befreiung des Geistes im Tod“ — gleichbedeutend mit der „Befreiung von der materiellen Existenz und dem Bösen“. Eine Priesterkaste wachte in manichäischen Kreisen über die „Gebote der Reinheit, Enthaltsamkeit und Keuschheit.“
Wie die „Erregung der Lüste“ in Misskredit kam
Nicht wenigen Leserinnen und Lesern werden solche Konzepte bekannt vorkommen. Im Islam hat sich eine Tradition der Sexualitätsfeindlichkeit ja nie wirklich durchgesetzt — was schon der positiven Haltung des Propheten Mohammed gegenüber Sinnenfreuden geschuldet war. Weitaus kräftiger gingen Manis Gedankensamen im Abendland auf. Für den manichäischen Einfluss in Europa stand vor allem ein Name: der des Kirchenvaters Augustinus (354 bis 430). Augustinus prägte in unauslöschlicher Weise den theologischen Mainstream der katholischen Kirche — und beeinflusste darüber hinaus auch den einstigen Augustinermönch Martin Luther sowie Johannes Calvin, der in Genf einen „Gottesstaat“ errichtete — eine frühe Form des religiösen Faschismus. Beide sahen sich als seine geistigen Erben.
Auch der neue Papst Leo XIX. zeigt, wie lebendig Augustinus’ Erbe geblieben ist: In seiner Antrittsrede bezeichnete er sich als „Sohn des heiligen Augustinus“ und war lange Zeit Großprior des weltweit tätigen Augustinerordens. Augustinus verwarf den Manichäismus, dem er selbst lange Zeit angehört hatte, nach seiner Bekehrung und verneinte eine eigenständige Existenz des Bösen. Vielmehr sei dieses aufgrund der Abwendung von Gott in die Welt gekommen, sei jedoch durch göttliche Gnade heilbar. Dennoch blieben Spuren der persischen Lehre im Christentum erhalten wie etwa der scharfe moralische Hell-Dunkel-Kontrast und die Skepsis gegenüber der Sexualität, welche für Augustinus eine Art Überkompensation begangener fleischlicher „Sünden“ darstellte.
Augustinus berichtet in seinen „Confessiones“, er habe bei einem Aufenthalt im Garten unversehens eine Kinderstimme vernommen, die ihn mahnte: „Nimm, lies!“ Er folgte der Aufforderung. In seiner Bibel war eine Stelle aufgeschlagen, wo es heißt:
„Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Wollust und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern ziehet den Herrn Jesus Christus an und pflegt das Fleisch nicht zur Erregung eurer Lüste.“
Es war vielleicht die Geburtsstunde der leibfeindlichen Kirche – ganz im Geist des persischen Manichäismus.
Ali — der ausgebootete Nachfolger
Mit Blick auf den Iran müssen wir uns jetzt mit der Phase der Islamisierung befassen. Sowohl die zoroastrische Religion als auch die Herrschaft des Geschlechts der Sassaniden wurden laut Michael Axworthy „durch die islamische Eroberung weggefegt, und nach drei Jahrhunderten waren nur noch wenige Relikte übrig.“ Persien geriet also unter die Herrschaft von Arabern, die wichtigsten heiligen Stätten des Islam, Mekka und Medina, liegen im heutigen Saudi-Arabien. Nach der Erringung der politischen Macht nahmen die Muslime auch die Bekehrung der Bewohner des Perserreichs in Angriff — teils mit Gewalt, teils auch durch allerlei Tricks. Die zoroastrischen Priester wurden in der ersten Phase oft getötet, ihre Feuertempel zerstört. Später ließ man sie gegen Zahlung einer Kopfsteuer („dschizya“) in Frieden — ähnlich wie die Juden und Christen im Land. Axworthy sieht eine „Ähnlichkeit der Prinzipien des Islams mit den vertrauten Grundzügen des Mazdaismus wie gerechtes Denken und Handeln, Jüngstes Gericht oder Himmel und Hölle.“ Dies könnte den Prozess der Islamisierung begünstigt haben.
Heute wird der Iran speziell von der schiitischen Spielart des Islam geprägt. Es lohnt sich, die Geschichte dieser nachhaltigen Glaubessspaltung zu kennen. Schiiten sehen sich vor allem in der Nachfolge des Prophetengefährten Ali ibn Abi Tālib. Aus dessen Ehe mit der Prophetentochter Fatima ging eine direkt auf Mohammed zurückgehende Abstammungslinie hervor. Schiiten sind der Auffassung, dass Mohammed selbst Ali im Zuge des Ereignisses von Ghadir Chumm während einer Pilgerreise direkt zu seinem Nachfolger bestimmt habe. Der Prophet habe gesagt: „Wessen Herr ich bin, dessen Herr ist auch Ali.“ Die besondere Treue zu Ali bedeutet aber auch: Die ersten drei Kalifen des sunnitischen Islam werden von Schiiten nicht anerkannt. Es sind dies Abu Bakr, Vater von Mohammeds Lieblingsfrau Aischa, Omar, der speziell durch weiträumige Eroberungen im vorderasiatischen Raums auffiel, und Uthman, Angehöriger des bei Schiiten wenig beliebten Clans der Umayyaden.
Das Blut des Propheten
Nach Ansicht der Schiiten zeichnete sich Ali, dem die Kalifenwürde zunächst verweigert wurde, durch besondere spirituelle Kraft aus, während die Umayyaden für Machtgier, Dekadenz und die Verwässerung des Glaubens standen. Es kam zu einem ersten innerislamischen Bürgerkrieg, in dessen Verlauf Ali von Anhängern des vorangegangenen Kalifen Uthman ermordet wurde. Muawiya, ein Verwandter Uthmans, übernahm die Herrschaft. Alis Nachkommen, die nach Deutung der Schiiten das Erbe, jedoch auch den Geist Mohammeds weitertrugen, blieben machtlos.
Das grobe Unterscheidungsmerkmal, wonach Sunniten geistliche Würde nur aufgrund von Verdiensten, Schiiten jedoch auch aufgrund der Abstammung vom Propheten Mohammed vergeben, geht auf diese Epoche zurück.
Man kann zum Vergleich auch den Mythos anführen, Jesus habe mit Maria Magdalena leibliche Nachkommen gezeugt, die unter anderem im Herrscherhaus der Merowinger zu finden waren. Während diese Geschichte unter Christen heute jedoch weitgehend ein Phänomen der Popkultur – siehe Bestseller „Sakrileg“ von Dan Brown — blieb, ist die Abstammungsfrage für Schiiten bis heute ernst und insofern geschichtswirksam. Im 20. Jahrhundert bezeichneten sich unter anderem Ayatollah Ruhollah Khomeini und Ayatollah Ali Khamenei als Nachfahren des Propheten und trugen beziehungsweise tragen deshalb den Ehrentitel „Sayyid“ sowie zum Zeichen dieser besonderen Würde einen schwarzen statt eines weißen Turbans. Auch Khameneis Sohn Moschtaba ist somit ein Nachfahre des Propheten und wird als einer der möglichen Nachfolger seines Vaters gehandelt.
Hussein und sein folgenreiches Opfer
Nach schiitischer Tradition bildeten die Söhne der Propheten-Tochter Fatima, Hassan und Hussein, sowie deren Nachkommen aufgrund ihrer Abstammung und authentischen Frömmigkeit ein legitimes Gegengewicht zur korrupten Machtelite der nicht „rechtgeleiteten“ Kalifen. Um das Jahr 680 regierte Yazid, dem in der schiitischen Geschichtsschreibung eine sehr negative Rolle zukommt — vergleichbar einem „Judas“ oder „Herodes“ im Christentum. Es war das Jahr der berühmten Schlacht von Kerbela, der Urkatastrophe in den Augen der Anhänger der „Partei Alis.“ Mohammeds Enkel Hussein zog damals mit einem kleinen Trupp von Anhängern nebst Frauen und Kindern in Richtung der Stadt Kufa, deren Einwohner ihn eingeladen hatten.
Kalif Yazid jedoch stellte sich ihm mit einem weit überlegenen Heer von 4000 Männern entgegen.
Hussein wurde aufgefordert, einen Treueeid auf den Kalifen zu schwören und sich ihm somit bedingungslos zu unterwerfen. Hussein soll seinen Gegnern mit dem berühmten Satz „hayhat-min-a-zhilla“ geantwortet haben: „niemals Unterdrückung!“.
Nach Auffassung seiner Verehrer liegt darin die Weigerung des spirituell Auserwählten, sich der Gewalt eines stärkeren Gegners zu beugen — eine Einstellung, die Auswirkungen bis in die heutige Tagespolitik hat. Die Schlacht von Kerbela war ein sehr ungleicher Kampf und nahm einen fürchterlichen Verlauf. Alle Anhänger Husseins, auch Frauen und Kinder, wurden niedergemetzelt. Zuletzt soll nur noch der Imam selbst am Leben gewesen sein und bis zum letzten Atemzug gekämpft haben — auf seinem Arm sein kleiner Sohn, dessen Hals bereits von einem Pfeil durchbohrt war.
Aschura — das Schmerzensfest
Es ist die ultimative Geschichte eines gerechten Märtyrertods. Bis heute gedenken Schiiten des Gemetzels am sogenannten Tag von Aschura mit aufwändigen Prozessionen in verschiedenen Städten der schiitischen Welt, vor allem in Irak und Iran. Der Nahost-Experte Gerhard Schweizer beschreibt eine Aschura-Zeremonie, die er selbst erlebt hat, so:
„Die Frauen weinen laut und ungehemmt, wie das Ritual es vorschreibt. (…) Die Männer, in düsteres Schwarz westlicher Anzüge oder Kaftane gekleidet, schlagen sich mit der rechten Faust heftig und schwer auf die Brust. Es ist ein gleichzeitiger dumpfer Aufprall von 40, 50 Fäusten, jedem Schlag folgt ein schluchzendes Aufstöhnen. ‚Hussein … Hussein …‘ stöhnen Frauen wie Männer rhythmisch hervor.“
Die Szenerie fand in der Omayaden-Moschee in Damaskus, Syrien, statt, wohin der abgeschlagene Kopf des Propheten-Enkels Hussein nach der Schlacht bei Kerbela gebracht worden sein soll. Aschura ist ein Fest brachialer Selbstverletzung im Gedenken an ein historisches Verbrechen, bei dem nicht selten Blut fließt.
Es kommt auch vor, dass Männer ihren entblößten Schädel mit einem Messer oder Dolch ritzen, bis Blut über ihr ganzes Gesicht rinnt. Das Mitleid mit dem religiösen Vorbild geht bei den Schiiten sehr weit — man leidet buchstäblich mit, indem man sich Schmerzen zufügt.
Auch ein Anteil von schlechtem Gewissen und Kollektivschuld spielt eine Rolle. Die meisten Schiiten identifizieren sich nämlich auch mit den „Verrätern“ des Geschehens um die Schlacht von Kerbela, den Bewohnern der Stadt Kufa, die Hussein nicht zur Hilfe gekommen waren.
Erniedrigte und Beleidigte
Abendländer sollten sich nicht vorschnell über das blutige Bußritual erheben. Auch Karfreitagsprozessionen nehmen oft Züge an, die rational veranlagten Zeitgenossen wie „Hysterie“ vorkommen müssen. „Christi Blut – für dich vergossen“ — mit diesem millionenfach bei Gottesdiensten gesprochenen Satz werden Christen wieder und wieder in Mithaftung für den Tod des Religionsstifters genommen. Es gab im christlichen Mittelalter auch blutige Umzüge von Flagellanten (Selbstgeißlern), die der Buße für eigene und fremde Sünden dienten.
Gerade Deutschen sollte die Idee der stellvertretenden Schuldübernahme für die Taten der Vorfahren bekannt vorkommen.
Diese Tradition hat dem schiitischen Glauben über die Jahrhunderte eine besondere Färbung verliehen, die Michael Axworty so beschreibt:
„Die Schiiten fühlten sich stets durch ihre mächtigen unrechtmäßigen Gegner benachteiligt, verraten, erniedrigt und ihrer Bedeutung beraubt (…). Im schiitischen Volksglauben hat sich daher bis heute Sympathie und Mitgefühl für die Unterdrückten gehalten, die für gerechter gelten als die Reichen und Mächtigen.“
Die schiitische Mentalität ist durchdrungen von einer Art Opfermythos, der besonderen Identifikation mit Märtyrern. Melancholie und Schicksalsergebenheit sind ebenso vertreten wie das Pathos des Aufbegehrens gegen einen übermächtigen Gegner, verbunden mit einem Überlegenheitsgefühl auf der geistigen Ebene. Mag jemand auch materiell, wie der Imam Hussein, gegen seine Gegner chancenlos ein — Gott ist auf jeden Fall „auf seiner Seite“.
Der verborgene Erlöser
Wir finden Anklänge an Aschura in vielen wichtigen Ereignissen der jüngeren iranischen Geschichte. So erzielte Ayatollah Khomeini für seine islamische Revolution einen wichtigen Durchbruch am Aschura-Gedenktag 1979, als eine große Prozession in Proteste gegen das Schah-Regime mündete. Schah Reza Pahlavi wurde dabei als Widergänger des infamen Kalifen Yazid gedeutet. „Nieder mit Schah Yazid“ riefen Gläubige bei den Unruhen während der Revolution. In ähnlicher Weise wurden auch immer wieder die USA sowie auch Israel in eine mythische Verbindung mit dem „Erzbösewicht“ gebracht. Im Zuge des von Saddam Hussein mit westlicher Unterstützung ausgelösten Irak-Iran-Krieges (1980-1988), der Millionen Iranern das Leben kostete, wurde mehr als einmal Aschura beschworen und der Krieg als überdimensionierte Schlacht von Kerbela gedeutet. Ein iranischer Truppenteil im Krieg nannte sich „Aschura-Einheit“.
Auf die ersten drei Imame der schiitischen Tradition (Ali, Hassan, Hussein), folgten noch acht weitere — alle Blutsverwandte des Propheten, die alle bei Auseinandersetzungen mit politisch-religiösen Gegnern gewaltsam ums Leben kamen. Aufgrund dieser Erfahrung wurde der designierte zwölfte Iman noch als Kind vor seinen Feinden in Sicherheit gebracht (kleine Verborgenheit), worauf eine Entrückung in jenseitige Sphären gefolgt sein sollte (große Verborgenheit). Der zwölfte Imam, mit Namen Mohammed, wird auch als „Mahdi“ bezeichnet. Man glaubt, dass dieser am Ende der Zeit wiederkehren und die Herrschaft Gottes auf Erden wiederherstellen werde. In dieser Funktion erinnert der Mahdi an den jüdischen Messias und den Buddha der Zukunft, genannt Maitreya. Christen hoffen in ähnlicher Weise auf die Wiederkunft Christi. („Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“). Und tatsächlich ist Jesus als eine Art „Sidekick“ des Mahdi auch in der schiitischen Endzeit-Mythologie eingeplant.
Die Statthalterschaft der Rechtsgelehrten
Nun ist das lange Warten über viele Generationen immer eine frustrierende Sache, was Ruhollah Khomeini, als er begann, öffentlich zu wirken, dazu veranlasste, eine Art Beschleunigungsprogramm in die Wege zu leiten.
Die Wiederkunft des verborgenen Imams solle bereits auf Erden würdig vorbereitet werden: durch Stellvertreter, die im Sinne des Mahdi wirkten. Khomeini dachte dabei vor allem an sich selbst.
Sein bisher einziger Nachfolger ist Ayatollah Khamenei. Die beiden obersten religiösen Führer der islamischen Republik Iran leiten ihre Autorität also von einem unsichtbaren Erlöser ab. Das Machtsystem des Iran wurde von Khomeini auch als „Welāyat-e Faqīh“ (Statthalterschaft der Rechtsgelehrten) bezeichnet, und es ist der Mahdi, in dessen Namen die Experten in islamischem Recht Macht ausüben.
Man muss bei dieser Form der „Gottesherrschaft“ berücksichtigen, dass wir es mit Männern von umfassendem Wissen, intellektueller Brillanz und spiritueller Tiefe zu tun haben, die bei westlichen Politikern nicht grundsätzlich zur charakterlichen Ausstattung gehörten. Imame verfügen über Charisma, Anhänger berichten von einer von ihnen ausgehenden Segenskraft. Andererseits kam es unter ihrer „Statthalterschaft“ im Iran zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Dies betrifft Frauen und alle Gegner des Herrschaftssystems wie auch beispielsweise Christen und sogar Sufis, muslimische Mystiker, die den schiitischen „Päpsten“ ein Dorn im Auge sind.
Wir dürfen uns da nichts vormachen: Moderne Imame ließen töten und foltern und verachten die Meinungsfreiheit in einem Ausmaß, neben dem eine Nancy Faeser geradezu als vorbildliche Hüterin der Freiheitsrechte gelten kann.
„Niemals Unterdrückung!“ — oder vielleicht doch?
Hier eine westliche Messlatte von „Pluralismus“ anzulegen, ist schwierig. Man kann das Handeln moderner Herrscher aber durchaus an der eigenen religiösen Tradition messen. Das berühmteste Wort des Prophetenenkels Hussein war „Niemals Unterdrückung“. Daran anknüpfend kann man sagen: Ali Khamenei duldet keine Unterdrückung, es sei denn, sie wird von ihm selbst angeordnet. Israel und den USA trotzt er tapfer, den Mut seiner Gegner im Inland bezahlen diese aber nicht selten mit ihrem Leben oder ihrer Freiheit. Unter Khamenei hat man demonstrierenden Frauen mit Schrotkugeln ins Gesicht geschossen.
Dies rechtfertigt nicht die Verbrechen Israels und der USA, die es gerade in jüngster Zeit wieder gegeben hat — wie auch umgekehrt die Schuld des „christlich-jüdischen Abendlands“ die Herrschaft der Mullahs nicht besser macht. Es ist durchaus möglich, dass die mediale Darstellung der Vorgänge im Iran durch „westliche Werte“ und eine westliche Machtperspektive eingefärbt ist, es wäre allerdings zu billig, die Fülle der Belege und Zeugenberichte für Staatsterror allesamt als illegitime „Dämonisierung“ von Unschuldslämmern abzutun.
Der Sphäre des Menschlichen entrückt
Teilweise wirkt die schiitische Religion mystischer, „innerlicher“ als andere islamische Richtungen, mit einem Hang zum „Übersinnlichen“. Es gibt eine Affinität zum Opfer, zur Selbstverletzung, ja zur Verachtung des Todes mit Blick auf eine verheißene jenseitige Seelenzukunft. Gerhard Schweizer fasst den zentralen Mythos der Schiiten so zusammen: „Hussein habe sich für das Martyrium entschieden, um den Gläubigen ein leuchtendes Beispiel zu geben, dass es besser sei, für den wahren Glauben zu sterben, als im Sinne des falschen Kalifen Yazid auf schlechte Kompromisse einzugehen und den Islam zu verraten.“ Auch Mahatma Gandhi zeigte sich von der Geschichte um die Schlacht von Kerbela aufs Höchste beeindruckt: „Ich habe von Hussein gelernt, wie man Unrecht erdulden und trotzdem Sieger sein kann.“
Diese Mentalität, zu der zweifellos Mut gehört, kann auch als Blaupause für Abwehrkämpfe des Iran gegen die erdrückende Macht des Westens verstanden werden.
Keine faulen Kompromisse und keine unnötige Furcht vor dem Tod, denn „kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude“ — wie es in Schillers „Jungfrau von Orleans“ heißt. Kerbela dient Gläubigen auch als Vorlage für jede Art des antikolonialistischen Befreiungskampfes.
Zugleich wird eine religiös unterfütterte Trotzhaltung in dem Moment fragwürdig, in dem die Anführer der Rebellion andere Menschen — auch Frauen und Kinder — mit in den Tod nehmen. Man kann die Geschichte von Kerbela auch als die Geschichte eines erweiterten Selbstmords ansehen. Seinem 13-jährigen Neffen Qasim, der trotz seines jugendlichen Alters auf die Teilnahme am Kampf bestanden haben soll, sagte Hussein, als der Junge sterbend in seinen Armen lag: „Allah wird dich im Empfang nehmen, mein Kind. Bald wirst du mit deinen Vorvätern im Paradies vereint sein.“
Gefährliche Todesmystik
Laut Gerhard Schweizer haben spätere Generationen von Schiiten der Legende eine überweltliche Deutung hinzugefügt: „Hussein starb als Märtyrer, um durch sein Blut die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Damit ist Hussein endgültig der gewöhnlichen Sphäre des Menschlichen entrückt und in die Nähe von christlichen Erlösungsvorstellungen gebracht worden.“ Vor dem Hintergrund dieser erweiterten Deutung sind auch die Selbstgeißelungen von Gläubigen am Aschura-Tag zu verstehen. Husseins Blut — für dich vergossen.
Bei gläubigen Muslimen begegnet uns eine Qualität, die im christlichen Abendland selten geworden ist. Die Idee der Aufopferung für die „gerechte Sache“ verleiht manchen Muslimen eine Durchschlagkraft, der moderne Christen wenig entgegenzusetzen haben. Diese leben geistig oft in einer Welt ohne Tiefendimension, ohne Gefühl für ihren Daseinsgrund und ohne eschatologische Zukunftshoffnung. Westliche Menschen relativieren gern alles, was sie denken, zu Tode, scheuen die Festlegung und wollen alles schön bequem haben.
Freilich birgt die Wesensart des religiös hochbegabten iranischen Volkes auch Gefahren: vor allem jene, dass der Unterschied zwischen Leben und Tod nicht ausreichend ernst genommen wird. Vielleicht unternehmen religiöse Führer aus diesem Grund nicht alles, was möglich wäre, um einen großen Krieg zu vermeiden.
Denn ehrenhaft wäre der Tod in einer Entscheidungsschlacht gegen den Westen und seinen Vasallen Israel allemal. Vielleicht, so könnten Gläubige annehmen, sind die gewalttätigen Umbrüche der Gegenwart sogar ein Signal für das Nahen des Mahdi — und wer sich da rechtzeitig auf der richtigen Seite platziert, hat im Paradies gute Karten.
Krieg der Mythen
Solche mythologisch aufgeladenen Vorstellungen, welche die Konflikte der Gegenwart überlagern, prallen dann auf die Mythen der „Gegenseite“ — etwa auf die Vorstellung der Juden, das „Heilige Land“ sei ihnen von Gott verheißen worden.
Juden wie Schiiten wählen die geistige Welt oder auch ein kommendes ideales Zeitalter als Vorstellungsräume, in die man sich zur Kompensation eines in der Realität erlebten Unrechts hineinflüchten kann. Aber auch der fast vollständig dem Materialismus ergebene, „entgötterte“ Westen bringt Neurosen und psychisches Leid hervor.
Jedes der Lager ist auf seine Weise dem „persischen Dualismus“ ergeben und beansprucht, derjenige zu sein, „der das Gute aufrechterhält“, während die jeweilige Gegenseite die böse Macht Yazids, des Pharaos oder des römischen Imperiums repräsentiert. So ist der Weltfrieden nur schwer zu erlangen.
Es scheint fast, als wollten Muslime, Juden und Christen derzeit das Gegenteil dessen praktizieren, was ihnen „Nathan der Weise“ in Lessings gleichnamigem Stück empfahl. Der berühmten „Ringparabel“ zufolge hat es Gott bewusst im Unklaren gelassen, welcher der drei Religionen er sein Erbe anvertrauen wollte. Er habe willentlich nicht eine einzige, sondern mehrere Varianten der „Wahrheit“ konzipiert. Und wenn er überhaupt eines seiner Kinder bevorzuge, so sei es jenes, das sich durch Gerechtigkeit und Güte hervortue. Stattdessen wetteifern Christen, Muslime und Juden nun offenbar darum, wer von ihnen für die effektivsten Raketenangriffe, die schlimmste Unterdrückung im Inneren und die aggressivste Politik im Außen verantwortlich ist. Wer in dieser Hinsicht am schlimmsten sündigt, ist Ansichtssache. Die Aufforderung im Evangelium, „den Balken im eigenen Auge“ zu sehen, bleibt eine nach wie vor unerhörte Provokation. Im Kontrast zu dem berühmten Ausspruch des Imams Hussein lautet das übergreifende Motto der Weltgemeinschaft wohl: „Immer Unterdrückung!“
Raum für jeden Glauben
Die Heilung könnte nur durch eine größere, eine Metaperspektive kommen, wie sie unter anderem der bedeutende Sufi-Meister Ibn Arabi (1165 bis 1240) vertrat: „Mein Herz hat Raum für jeden Glauben“. Und im besten Fall auch noch für den Unglauben — solange das, was jemand glaubt oder nicht glaubt, Güte und Menschlichkeit als Frucht hervorbringt.

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