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Demut in der Dunkelheit

Demut in der Dunkelheit

Das Obszöne unserer Zeit kann uns verzweifeln lassen oder aber dazu anregen, Liebende zu sein.

Im Nebel der Zukunft sehen wir gelegentlich Bilder, die eine Vorstellung davon geben, was auf der Warterampe zur Wirklichkeit steht. Was sich zurzeit aus dem Dunst schält, versetzt einen in Schockstarre. Mit der totalen Digitalisierung wäre die Käfighaltung („Chipchipchip“) des neuen Menschen, der nichts besitzt, aber glücklich ist, endgültig abgeschlossen. In der Fair-Talk-Sendung 77 mit dem Titel „Raus aus der digitalen Überwachung“ weiß sich Kayvan Soufi-Siavash nur einen Rat, um der Gesellschaft wieder menschliche Züge zu verleihen: „Wir müssen mehr Demutkratie wagen!“

Auf den Punkt, Kayvan, aber trotz allem, was Philosophen, Dichter und Denker, was Mahnwesen jedweder Couleur seit Jahrhunderten der giergesteuerten Kurzsichtigkeit entgegenzusetzen versuchten, werden wir auch diesmal nicht genügend Stimmen und Herzen finden, um der notwendigen Demut so viel Gewicht zu verleihen, dass eine in Angst erstarrte Verfügungsmasse zu Bewusstsein käme, um das seelenlose System, in dem sie ihr kontrolliertes Leben fristet, zu unterminieren. „Wir müssen uns von der philosophischen Ebene ernähren“, sagst du. Damit ist wohl gemeint, dass wir uns andere Fragen stellen müssen, die dann automatisch zu anderen Antworten führen. Richtig, die Neuausrichtung jedes Einzelnen würde zweifellos zu mehr Freiheit, zu mehr Frieden im Miteinander und zu mehr Demut führen. Aber inzwischen sind genügend „Mind-Geschütze“ aufgefahren, um die Massen in schwindelnd schöner Abhängigkeit zu halten. Dabei sind die Zauberkräfte von KI noch nicht einmal ausgereizt. Zur Einstimmung auf die schöne neue Welt tanzen die Medien den faschistischen Volkstanz im rosa Kleidchen schon einmal vor.

Seien wir ehrlich: Wie schmackhaft ist das Aroma unserer Zeit? Wonach duftet es, wenn man ihr überhaupt noch einen Duft zubilligen will? Gestank, ja, das trifft es wohl eher.

Unsere Epoche präsentiert sich durch und durch pornografisch. Alle Zeitalter hatten pornografische Züge, aber durch und durch? Nein. Das bleibt uns vorbehalten.

Ob Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Unterhaltungs- und Freizeitindustrie, Demokratieverständnis, ja selbst große Teile der Kulturszene: versifft, haltlos, brutal, egoistisch, bar jeder Vernunft und bar jedes Wertekanons, der uns zumindest die Möglichkeit zur Menschwerdung offen hielt — pornografisch eben.

An den Schalthebeln der Macht sitzen Menschen, deren Herz auf die Größe einer vertrockneten Erbse geschrumpft ist und die Empfindungen ausschließlich dann zu zeigen vermögen, wenn man ihnen den kleinen Finger ritzt.

Ach, man möchte sich ins Moos schmeißen und ein paar Jahrhunderte schweigen. Es geht ja doch immer so weiter. Wie sagte der portugiesische Dichter Fernando Pessoa (1888 bis 1935)?:

„Hunde und Menschen, Katzen und Helden, Flöhe und Genies spielen WIR EXISTIEREN UND DENKEN UNS NICHTS DABEI! unter der großen Stille der Gestirne.“

Im weichen Moos würden mir abseits des Weltenlärms Bilder und Gedanken gereicht, welche die abgeschlachteten Jahre eures stumpfen Alltags nicht zu bieten haben. „Es ist alles zum letzten Mal,“ schrieb Ilse Aichinger (1921 bis 2016), „wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf.“ Oh ja, das täte sie. Ich befinde mich im Wörterwald, liege schweigend und staunend zwischen den Wortriesen, die auf dem Grund eines Gedankenmeeres wurzeln, in das sie die Dichter über Jahrhunderte hinweg gesetzt haben. Stolz, still und statisch erscheint mir das Leben, unverletzbar auch. Ein dauerhafter Frieden ohne Freude.

Ein Satz von Erich Fromm (1900 bis 1980) flüstert sich in mein Ohr: „Die Zerstörung ist die Kreativität der Hoffnungslosen und Verkrüppelten.“ Währenddessen wird eine Parole von Robert Musil (1880 bis 1942) als Spruchband durch die Wolken gezogen: „Liebe ist das sanfte, göttliche, von Asche verdeckte, aber unauslöschliche Wesen der Welt.“

Ich stecke meine Nase in den kühlen Grund und inhaliere so tief, dass mir schwindlig wird. Zwei Menschen, denke ich, die sich wirklich sehen, und sei es nur für eine Sekunde, können das gesamte Koordinatensystem der Unvernunft zum Einsturz bringen. Eine solche Sekunde ist wie ein Stationsschild, das man bei rasender Fahrt passiert und auf dem Zuhause steht.

Ich erhebe mich, zu Moos werde ich früh genug. Und da ich gerade am zitieren bin, lasse ich zum Schluss zunächst Virginia Woolf (1882 bis 1941) zu Wort kommen, die über unsere tief sitzende Traurigkeit spricht, und als optimistischen Gegenpart hole ich Rainer Maria Rilke (1875 bis 1926) hervor, der wieder Leben in die Bude bringt.

„There is a Kind of sadness that comes from knowing too much, from seeing the world as it truly is. It is the sadness of understanding that life is not a grand adventure, but a series of small, insignificant moments, that love is not a fairy tale, but a fragile, fleeting emotion, that happiness is not a permanent state, but a rare, fleeting glimpse of something we can never hold onto. And in that understanding, there is a profound loneliness, a sense of being cut off from the world, from other people, from oneself.“

„Es gibt eine Traurigkeit, die daher rührt, dass wir zu viel wissen, dass wir die Welt sehen, wie sie wirklich ist. Wir verstehen, dass das Leben kein einziges großes Abenteuer ist, sondern eine Aneinanderreihung kleiner, unbedeutender Momente; dass die Liebe alles andere als ein Märchen ist, sondern ein Strom zarter, zerbrechlicher Emotionen; dass Glück kein Dauerzustand ist, sondern ein seltener, flüchtiger Blick auf etwas, was wir unmöglich festhalten können. Diese Einsichten führen zu einer tiefen Einsamkeit, zu dem Gefühl, abgetrennt zu sein von der Welt, von anderen Menschen, ja von sich selbst.“

„In späteren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, dass ich aufwachte, und die Sterne standen so wirklich da und gingen so bedeutend vor, und ich konnte nicht begreifen, wie man es über sich brachte, so viel Welt zu versäumen.“

Epilog

Es kommt die Zeit, da wir klar sehen, in der die Matrix aus Lug und Trug zerbirst, die uns so lange gefangen gehalten hat. Wir werden nicht weiter in einer von Maschinen geschaffenen Simulation der Realität leben, ohne uns dessen bewusst zu sein. Wir werden uns zu wahrer Größe erheben, jeder auf seine Art. Eine nie zuvor gespürte Energie wird durch unsere Zellen strömen, sie verleibt sich uns sozusagen ein. Unser Blick auf die Welt ist von nun an ein anderer. Er deutet nicht mehr, er ist auch nicht weiter unschlüssig. Wir fühlen uns von einer Energie durchdrungen, die alles zur Liebe erklärt. So werden wir aus der Zeit getragen mit ihren Irrtümern, mit ihrem Schmerz, dem vordergründigen Glück, ja, auch mit ihren Freuden. Ein abschließendes Postulat des „famoosen“ Rilke trifft wohl am besten, was Kayvan Soufi-Siavash mit seiner Forderung nach mehr Demutkratie gemeint hat: „Wir werden Liebende sein, oder wir werden überhaupt nicht mehr sein!“


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