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Den Keim finden

Den Keim finden

Im ersten Satz liegt die Kraft des Ganzen.

Ich befinde mich in einer komfortablen Situation: Ich kann schreiben was ich will. Ganz anders, als zu Zeiten meiner Lohnabhängigkeit in den Redaktionen des Mainstreams. Seit ich mich selbstständig gemacht habe, ist der Spaß am Schreiben zurück. In mir tickt eine Unruhe, der ich gerne nachgebe, wenn es in den Fingern juckt.

Ich habe mir einen Ideen-Ordner angelegt. Dort greife ich bei Bedarf hinein, picke mir eine vorgefertigte Überschrift heraus und versuche sie in einen kongenialen Anfang zu kleiden. In einem Gespräch mit Friedrich Luft gestand Erich Maria Remarque 1962, dass ihm die ersten Sätze eines Romans ganz wesentlich sind:

„In ihnen muss der Schlüssel zur ganzen Arbeit stecken. Wenn diese Sätze stehen, hat der Roman sich selbst angefangen.“

Folgende Themen schlummern zurzeit im Ordner und warten auf ihren Anfang: „Das Bellen der Bäume“, „Mit Haut und Harem“, „Das Auge wählt mit“, „Ich bin nicht der Mund für diese Ohren“, „Blick and White“, „Ich gehe nur für mich auf die Straße“, „Kafkas Augen“, „Sie haben sich ihren Atomkrieg redlich verdient“. Keine Ahnung, was aus ihnen wird, aber die Erfahrung zeigt — nicht erst seit Remarque — dass, wenn der Anfang erst einmal gesetzt ist, alles andere von alleine folgt. Ich liebe die Leichtigkeit, mit der die Sprache die Gedanken dann auf Händen trägt. Hier fünf Anfänge, die darauf warten, fortgeschrieben zu werden.

SCHEIN-ZEITEN

An alle Menschen, denen bewusst wird – oder schon bewusst geworden ist — dass sie früher oder später durch Materialermüdung dahingerafft werden: das ist ein Naturgesetz, Leute. Zu unseren Schein-Zeiten haben wir darüber die Nase gerümpft, als ginge es uns nichts an. Schein-Zeiten, das waren jene Jahre, in denen wir hätten scheinen können, in denen unser inneres Licht den Weg weisen wollte. Wir durften an der Liebe schnuppern und zogen zurück. Mehrmals taten wir das, bis wir aufgegeben wurden, um als Moleküle im Sauerteig der Bewusstlosigkeit Karriere zu machen — entweder als bedeutungslose Loser oder als elitäre Arschgeigen.

Die Melange aus Losern und Arschgeigen, die unserer Gesellschaft Struktur verleiht, ist für jene Menschen, die für ihre verwundeten Seelen SOS funken, während die Gischt aus Ignoranz und Dummheit ihnen ins Gesicht peitscht, unerträglich.

Im Endeffekt bleibt ihnen nur, sich auf den Atem zu konzentrieren, Zug für Zug. Und sollte sich irgendwo ein Ausgang zeigen: nichts wie durch. Ich bin sicher, dass es unter euch einige gibt, die verstehen, wovon ich rede.

VOM MENSCHEN ZUR SCHIMÄRE

Der Film zeigt eine Szene aus dem Jahre 1924. Wir sehen einen Marktplatz in Paris, auf dem ein mordsmäßiges Gedrängel herrscht. Und wieder muss ich daran denken, dass keines dieser Wesen, die am Gemüsestand den Kohlrabi prüfen, den Fisch einwickeln oder ihre schreienden Kinder hinter sich durchs Getümmel ziehen, noch am Leben ist. Gestorben, weg. Dieser Gedanke kommt mir häufiger in den Kopf, wenn ich Filme oder Fotografien sehe, die nicht den Stempel der Aktualität tragen: weg, ausgelöscht. Spurlos verschwunden.

Dabei hatte jede dieser Kreaturen ein Leben voller kleiner Freuden und gescheiterter Hoffnungen, ein schmerzvolles Leben, ein Leben prall gefüllt mit Erlebnis-Klassikern, die sich wie Parasiten in unsere Existenzen schleichen und die niemanden verschonen — die uns am Schluss wie ein schwerwiegendes nasses Clownskostüm zu Boden drücken. Wo befindet sich die gigantische Halde, auf der die Lebensgeschichten entsorgt werden, welche uns bei der Geburt zugeteilt wurden — bunt, gebügelt, abgetragen, modisch, zerfetzt oder uniform? Wo ist diese Halde, auf der die gelebten Geschichten von Milliarden und Abermilliarden Menschen vermodern. Oder gehen die abgelebten Erfahrungen zurück in den himmlischen Fundus, wo sie auslüften, bevor sie erneut verteilt werden? Nachwuchs gibt es immer unter Menschen, der ja keine Paarungszeiten kennt und rund um die Uhr vögelt — 24/7 sozusagen.

MEIN LEBEN MIT ENIGMA

Ich komme mir vor wie eine Briefmarke, die geduldig darauf wartet, einen noch ungeschriebenen Liebesbrief frankieren zu dürfen. Der Herr, der ihn aufzusetzen gedenkt, findet nicht die passenden Worte. Sein Papierkorb ist bis zum Rand mit zerknüllten Entwürfen gefüllt. Zum wiederholten Mal nimmt er ihren Brief zur Hand und muss sich eingestehen, dass er sich von ihrer Schönheit schlicht überfordert fühlt. Es ist so viel Einsicht in ihren Worten, so viel Erstaunen, durchsetzt mit schmerzhaften Schreien, ausgestoßen auf der harten Matratze der Hilflosigkeit. Sie ist mehr Pflanze als Mensch und mit einem Licht gepudert, das jenseits aller Sonnen seinen Ausgang nimmt.

„Ich starre auf die Kerze und ins Dunkel, während eine andere Instanz mit mir Selbstgespräche ohne Worte führt. Es riecht nach Erde und halbfrisch gemähtem Gras…“

Die fein gezeichnete Schrift auf dem lindgrünen Briefpapier verfliegt und rätselhafte Noten regnen aufs Papier. Da sind sie wieder, die Enigma-Hieroglyphen, die er seit Jahren zu dechiffrieren versucht. Die Gedanken an sie fluten ihn mit einer Energie, in der er am liebsten ertrinken würde — damit es endlich ein Ende hat mit diesem unermesslichen, rätselhaften Glück, dem kein Mensch gewachsen ist, nicht so lange er in seinem Körper steckt. Und darin steckt der Herr wohl noch, jedenfalls kann er sich kneifen.

DESIGN ODER NICHTSEIN

Auf der Autobahn bekommen wir das sinnentleerte Gestrampel um Aufmerksamkeit, das der Konkurrenzgesellschaft im Blut liegt, am deutlichsten demonstriert. Wo sich Automarken aus aller Welt gegenseitig lustvoll ihre Hinterteile vorführen, haben die Herrschaften, die für die blecherne Hässlichkeit verantwortlich zeichnen, alles auf Rot gesetzt. Und so ziehen die roten Bänder ohne Unterlass über Berg und Tal, die Reihen fest geschlossen.

Ich erinnere mich an Zeiten, da die Rücklichter eines Autos drei schlichte Funktionen zu erfüllen hatten: anzuzeigen, wo das Fahrzeug aufhört, zu blinken, wenn abgebogen werden soll und hell aufzuleuchten, wenn gebremst wird. Soweit war alles gut, das ergab Sinn.

Heute sind die Heckpartien mit roten Girlanden geschmückt — mit ausufernden Balken, die mal quer, mal senkrecht verlaufen. Beim Ausscheren oder Abbiegen glaubt man sich auf einen Jahrmarkt versetzt und die Bremslichter treffen den Hintermann wie Lasergeschosse.

Nach stundenlanger Fahrt mit irrwitzigen Überholmanövern und endlosem Gejuckel im Stau, in dem sich unsere Gesichter bei Nacht immer wieder gespenstisch rot färben, möchte man den Rest der Strecke am liebsten auf stillen Feldwegen zurücklegen und sich an den aufblitzenden Augen von Rehen und Hoppelhasen erfreuen. Nur raus aus der albernen Kirmeswelt mit ihren Lichtorgeln — raus aus dem Blickwinkel der Heckschützen.

TIMING

Wir wissen doch alle, wie schnell wir uns in eine Situation katapultieren können, die kaum noch reparabel ist. Wo werden wir in zwei bis drei Jahren stehen, wenn Unvernunft und geopolitischer Wahnsinn weiterhin Fahrt aufnehmen? Das können wir uns ausrechnen.

Deshalb bin ich froh, in dieses Friedensloch geboren worden zu sein. Der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei — und Fleck war da, die ultimative Katastrophe steht unmittelbar bevor — und Fleck zischt ab. Wenn das kein Timing ist.

Aber solange ich noch hier bin, gilt es, mit den Menschen im Training zu bleiben. Das verlangt die Akrobatik des Alltags. Viele haben sich dabei schon die Seele verletzt. Sie existieren als „verdienstvolle Invaliden des Lebens“ (Kafka) weiter — häufig in Schlüsselpositionen unserer Gesellschaft.

Im ersten Satz lag die Kraft des Ganzen.

Und im letzten Satz bleibt die Frage: Welche Überschrift greife ich als Nächstes auf? Welche Gedanken, welche Geschichten warten noch darauf, erzählt zu werden? Vielleicht liegt darin der eigentliche Sinn — dass das Schreiben niemals endet und jeder Anfang zugleich eine Einladung ist.


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