Unter all den Weltkatastrophen ist die vermeintliche Jahrtausendpandemie Corona die heilige Kuh, die sich kaum jemand literarisch, künstlerisch und filmisch zu schlachten getraut. Geradezu jede, im globalen Maßstab noch so unbedeutende Katastrophe wird kulturell verarbeitet — nicht so Corona. Den Mediatheken mangelt es an Verfilmungen, auf den Theaterbrettern wird das Thema vornehm verschwiegen, musikalisch passen Stücke mit COVID-Bezug wohl auf wenige Alben, und literarisch stapelt sich Corona-Belletristik zu einem überschaubaren Bücherhügelchen.
Der Journalist und Literaturwissenschaftler Eugen Zentner hat diesen Stapel um einen kleinen Geschichtsband vergrößert. „Corona-Schicksale“ umfasst auf knapp 150 Seiten 15 lebensnahe Kurzgeschichten aus den einschneidenden Jahren 2020 und 2021.
Aus der Warte unterschiedlichster Milieus und Berufsstände heraus werden alltägliche Extremsituationen in der Zeit des Coronafaschismus nacherzählt. Die Trennlinie zwischen Fiktion und Realität ist dabei ebenso dünn wie die Decke der Zivilisation.
Fiktional sind in diesen Kurzgeschichten allein die Namen. Denn die geschilderten Situationen haben sich in der Wirklichkeit in etwa dieser Weise tatsächlich so zugetragen — und das täglich und tausendfach. Könnte man das Buch mit einer Zeitmaschine ins Jahr 2019 zurücksenden, so würde das, was sich im Folgejahr tatsächlich so ereignet hat, als abstrakte Zukunftsdystopie gelesen werden. Dieses Gedankenspiel allein zeigt einmal mehr, wie weit die Normalisierung des Unglaublichen vorangeschritten ist.
Als Leser werden wir bei der Lektüre abermals Zeugen dessen, wie unmaskierte Menschen aus dem Zug geworfen, Andersdenkende entmenschlicht werden und Weihnachtsfeiern in familiären Gräben versinken. An anderer Stelle nehmen wir als Leser die Perspektive eines Jugendlichen ein, der, durch den Lockdown bedingt, der häuslichen Gewalt kaum entfliehen kann. In einer besonders fiebertraumartigen Kurzgeschichte wird der Leser in die Abgründe eines Krankenhausalltags entführt und erlebt, wie sich durch herbeigetestete Unterbesetzung des Personals die moralischen Grenzen in einen Bereich verschieben, wo Leben und Wohlergehen eines Menschen nicht mehr viel zählen.
Dankenswerterweise macht es sich Zentner nicht zu leicht. Er arbeitet nicht mit einer Schwarz-Weiß-Zeichnung: auf der einen Seite die guten Corona-Oppositionellen, auf der anderen Seite die bösen Mitläufer. In der zuvor erwähnten Kurzgeschichte über häusliche Gewalt geht diese vom coronakritischen Familienvater aus, der ob der immer wahnsinniger werdenden Welt selbst dem Wahnsinn anheimfällt und analog dazu auch dem Alkoholismus.
Es werden Alltagsszenen nachgezeichnet, die ungefiltert zeigen, was ein Gesundheitsdiktat im Verbund mit einer Panikkampagne mit den menschlichen Seelen beiderseits der aufgerissenen Gräben anrichtet.
Manche der Kurzgeschichten schwächeln leider; das liegt an der zu dünnen Exposition sowie den teilweise etwas hölzernen Dialogen. Zu Ersterem ist zu sagen, dass es bei Kurzgeschichten selbstredend in der Natur der Erzählung liegt, auf den wenigen Seiten nicht allzu viel ausbreiten zu können. Längere Ausführungen über die Hintergrundgeschichten der Figuren würden den Rahmen einer Kurzgeschichte sprengen. Doch zumindest für eine grobe, wenn auch nur äußerliche Personenbeschreibung sollte durchaus Platz sein, damit die Träger der Geschichten nicht zu blass, nicht zu skizzenhaft bleiben. Doch nur allzu oft lässt es Zentner bei einer einfach Namensgebung bewenden, ohne die Figuren näher zu beleuchten. Wer sind sie? Was machen sie beruflich? Und, ganz entscheidend, wie sehen sie aus? All das muss der Leser sich selbst vorstellen.
Der zweite Schwachpunkt sind einige der Dialoge. Die wirken leider an manchen Stellen sehr konstruiert, als wäre mehr Wert darauf gelegt worden, möglichst viele coronabezogene Signalwörter einzubauen, anstatt den Figuren authentische Sätze in den Mund zu legen. Das ist gerade dann kontraproduktiv, wenn die Geschichten den Anspruch haben, so realistisch wie möglich wirken zu wollen.
So realistisch und entsprechend mitreißend die Situationen der Kurzgeschichten aber auch sind, so sehr reißen die gestelzten Sätze der Figuren den Leser aus der Immersion wieder heraus. Die Situation ist vor dem geistigen Auge schwer zu imaginieren, wenn die Figuren so sprechen, wie kein Mensch sprechen würde.
Insgesamt wäre weniger wohl mehr gewesen, wenn man statt fünfzehn Kurzgeschichten vielleicht nur zehn beibehalten und diese noch weiter ausgebaut hätte.
Trotz vereinzelter Schwächen ist der Kurzgeschichtenband jedoch ein wertvolles literarisches Mahnmal. Es ist ungemein wichtig, die Geschehnisse dieser Zeit in gedruckter Form für die Nachwelt zu konservieren. Dass das Netz nichts vergisst, ist ein Irrtum. Immer mehr Schandflecken der Coronatäter werden nachträglich digital ausgebleicht, um in Vergessenheit zu geraten. Und die Enquetekommission wird in den knapp zwei Jahren ihr Übriges tun, um die Taten und Tragödien dieser Zeit zu verwässern. Deswegen braucht es für die Zukunft diese und weitere Geschichten aus jener Zeit. Möge der Bücherstapel weiter anwachsen.
Hier können Sie das Buch bestellen: Massel-Verlag

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