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Der Himmel auf Erden

Der Himmel auf Erden

Russische Spiritualität vereint zeremoniellen Prunk mit Innerlichkeit, Nähe zur Macht mit dem ernsthaften Bemühen um Christusnachfolge.

Wlamimir der Heilige. Nein, gemeint ist nicht der gegenwärtige russische Präsident. Wladimir I., auch Wladimir „der Große“ oder „der Heilige“ genannt, lebte um das Jahr 1000 als Großfürst der Kiewer Rus, eines Gebiets, das damals von den Karpaten bis Nowgorod, vom Dnepr bis an die Ostsee reichte. Quasi die Keimzelle Russlands, ein großes Land, jedoch klein im Vergleich zum späteren russischen Staatsgebiet.

Interessanterweise spielt das heute ukrainische Kiew die entscheidende Rolle in der Christianisierung des Landes. Wladimir soll ein lebenspraller Fürst gewesen sein, der es gern krachen ließ, viele Frauen hatte und heidnischen Glaubensvorstellungen anhing. „Plötzlich“ soll dieser Wladimir auf die Idee gekommen sein, sich eine „ordentliche“ Religion zu suchen. Nicht nur für sich selbst, sondern gleich für sein ganzes Volk.

Zu diesem Zweck soll der Großfürst ein regelrechtes Religionen-Casting veranstaltet haben. Er ließ Vertreter von Islam, Judentum, römisch-katholischer Kirche und griechischer Ostkirche zu sich an den Hof kommen. Diese sollten ihm die Vorzüge ihres jeweiligen Glaubens schildern. Dem Muslim beschied der Großfürst brüsk, für die Rus käme ein Glaube, der den Alkoholgenuss verbot, nicht in Frage.

Da ihm die Entscheidung schwer zu fallen schien, sandte Wladimir noch Boten in die jeweiligen Zentren der genannten Religionen und ließ diese dort die Gottesdienste besuchen. Der Gesandte, der einem orthodoxen Ritus beigewohnt hatte, gab sich von dem Ereignis so überwältigt, dass er meinte, nicht gewusst zu haben, ob er sich im Himmel oder auf der Erde befände. Das gab den Ausschlag. Wladimir ließ sich im Dnjepr taufen, und nach und nach folgten ihm alle seine Untertanen. Es gibt Gemälde von einer eindrucksvollen Massentaufe — wie freiwillig diese war, sei dahingestellt.

Die Geschichte trägt legendenhafte Züge. Wahrscheinlicher ist, dass sich eine „Unterwanderung“ der Kiewer Rus durch griechisch-orthodoxe Frömmigkeit schon lange vor diesem Ereignis angebahnt hatte. Entscheidend könnte, wie so oft, ein politischer Grund gewesen sein. Wladimir nahm die Stadt Cherson nahe der Krim ein — ein Städtename, der uns heutzutage auch bekannt vorkommt. Es ging dem Fürsten um eine Verbindung mit dem byzantinischen Kaiserhaus. Kaiser Basileios II. wünschte Hilfe in seinem Kampf gegen die Bulgaren. Für seine Schützenhilfe forderte Wladimir die Hand von dessen Schwester Anna. Der Kaiser gewährte sie unter der Bedingung, dass sein künftiger Schwiegersohn Christ würde. Liebe? Frömmigkeit? Berechnung? Wir wissen es nicht. Ein Genesungswunder am eigenen Leib soll den Entscheidungsprozess beschleunigt haben.

Das Jahr der Taufe der Rus war 988. Zur offiziellen Spaltung zwischen westlich-römischer und östlich-byzantinischer Kirche kam es erst 1054, als sich der Papst in Rom und der Patriarch von Konstantinopel gegenseitig exkommunizierten. In der Geschichtsbetrachtung heutiger Orthodoxie stellt sich das Schisma so dar, dass von den fünf ursprünglich gleichberechtigten Patriarchaten — Rom, Jerusalem, Konstantinopel, Alexandria, Antiochien — eines, nämlich das römische, einen übermäßigen Machtanspruch entwickelte. Dies wurde von den anderen vier Kirchen schließlich zurückgewiesen. Weitere Patriarchate kamen hinzu, sodass es heute unter anderem eine russisch-orthodoxe, eine serbisch-orthodoxe und eine bulgarisch-orthodoxe Kirche gibt, die sich jedoch als Einheit verstehen.

Orthodoxe Gemeinden in Russland wurden lange Zeit von Gastpriestern aus Griechenland geleitet, da vor Ort das nötige Know-how für Zeremonie und Kirchenorganisation anfangs nicht vorhanden war. Erst 1448 gelangte die russische Kirche zur vollen Selbständigkeit.

Die orthodoxe Kirche


Ikonen, Fenster zum Göttlichen

Aus Sicht westlicher Beobachter zeichnet sich die Orthodoxe Kirche durch einige Besonderheiten aus. Russische Religiosität ist zugleich sehr zeremoniell und sehr innerlich beziehungsweise innig. Wunderbare Chorgesänge begleiten die Gottesdienste. Beim Betreten einer Kirche fällt sogleich die Ikonostase ins Auge, eine reichlich mit Gold und Ikonen verzierte Wand, die den Altarraum vom restlichen Kirchenschiff trennt. Diese Zweiteilung verleiht dem Bereich hinter der Wand einen geheimnisvollen, ja heiligen Charakter.

Das Göttliche ist das „Numinose“, das für Menschenaugen eigentlich Unbegreifliche. Während eines Gottesdiensts öffnet sich eine Tür, durch die der Priester auf die Gläubigen zutritt, um ihnen Gottes Wort zu verkünden — gleich einem Boten aus einer anderen, höheren Welt. Bei Gebeten wendet er dem „Publikum“ oft den Rücken zu, um — durch die Tür hindurch — Gott direkt anzusprechen. Orthodoxe Priester vermitteln durch ihre Kleidung und ihr Auftreten nicht den Eindruck, „wie du und ich“ zu sein, ihre Funktion und Würde hebt sie aus der Menge heraus. Es scheint weitaus mehr Ähnlichkeit zu katholischen als zu nüchternen protestantischen Zeremonien zu geben.

Russisch Orthodox - Russian Orthodox / Liturgische Gesänge - Liturgycal Chants


Eine herausragende Bedeutung in orthodoxer Frömmigkeit nehmen Ikonen ein, Bildnisse von Jesus, von Maria, von Heiligen, von biblischen Szenen. Dabei ist die Malweise jedoch nicht „fotorealistisch“, vielmehr kam es den Malern darauf an, das Wesentliche und Zeitlose am biblischen Motiv herauszuarbeiten. Ikonen sind meist keine sehr individuellen Kunstwerke, sie beruhen auf Vorlagen, die in der Geschichte oft eine sehr lange Tradition haben — teilweise sogar bis ins 6. Jahrhundert zurückreichend.

Die Gottesmutter von Wladimir etwa, das Bildnis einer melancholisch dreinblickenden jungen Frau in einem blauen, auch den Kopf bedeckenden Mantel, die ein scheinbar zu klein gezeichnetes Kindergesicht innig an ihre Wange drückt, haben vermutlich viele der Leserinnen und Leser schon einmal gesehen — in der einen oder anderen gemalten oder fotoreproduzierten Kopie. Bei Ikonen ist „Raubkopieren“ nämlich erlaubt, die Künstler sehen sich weniger als Originalgenies, denn als malende Diener Gottes und der Heiligen, die als Personen bescheiden im Hintergrund bleiben.

Der Ikonenstil machte im Verlauf der Jahrhunderte erstaunlich wenige Entwicklungen durch. Im Gegensatz zur westlichen Kunst, die einen Heroismus der Überwindung des Überkommenen kennt, die also vor allem Innovation und Provokation verehrt, ist Ikonenmalerei die Kunst bewusster Wiederholung des Bewährten und ewig Gültigen. Wie auch die Begriffe „orthodox“ und „Patriarch“ wird „Ikone“ im Westen oft metaphorisch, teilweise auch abwertend verwendet. Die „Pop-Ikone“ oder „Mode-Ikone“ verweist eher auf das durch häufige Sichtung sattsam Bekannte, auf das durch penetrante Medienpräsenz unvermeidlicher Weise Vertraute.

Wichtig ist dabei, festzustellen: Ikonen sind für die Gläubigen mehr als Abbilder von Persönlichkeiten der Religionsgeschichte. Maria, Jesus, der heilige Nikolaus oder der heilige Georg sind in den Bildern geistig selbst präsent und können von den Gläubigen an- und quasi herbeigerufen werden. Ikonen sind Fenster zum Himmel, durch die der Anbetende schauen, durch die Heilige aber auch in einem geistigen Sinn zu ihnen kommen können.

Vereinfacht kann man sagen, dass der Protestantismus nur eine Säule hat, die Heilige Schrift („Sola scriptura“), der Katholizismus zwei (Schrift und Dogma) und die Orthodoxie drei (Schrift, Dogma und Ikonen). Ikonen werden von Gläubigen regelmäßig geküsst, um die besondere Tiefe ihrer Verehrung zum Ausdruck zu bringen.

Fetisch und Götzendienst?

Diese Praxis ruft bei Christen westlicher Konfessionen sowie bei „Ungläubigen“ regelmäßig Befremden hervor. So berichtet der katholische Klinikseelsorger Georg Hummler in seinem Buch „Himmlisches Licht. Von der heilenden Kraft der Ikonen“ davon, dass er sich für Ikonen nicht sofort erwärmen konnte.

„‚Byzantinisch‘, das war für mich als politisch emanzipierten deutschen Theologiestudenten der Inbegriff für leeren Pomp, sinnlose liturgische Prachtentfaltung um ihrer selbst willen, also genau das, wovon sich die römisch-katholische Kirche (endlich) seit dem II. Vatikanischen Konzil so mühsam zu trennen begann. Ikonenküsse und Reliquienkult — alles Fetisch. ‚Byzantinisch‘, das war für mich die völlige Weltfremdheit von Leuten, die das Reich Gottes ausschließlich im Jenseits definierten, ohne jegliche politische Ambition im Hier und Jetzt. Und dieses Feiern um des Feierns willen, das war für mich das pure ‚Opium des Volkes‘“.

Offensichtlich politisch ein Linker und geprägt von intellektuellen Konzepten, die ihm den Zugang zum unmittelbaren Erleben erschwerten, kam der junge Christ bei Abt Emmanuel Jungclaussen zum ersten Mal in Berührung mit der „byzantinischen Liturgie“. Nach anfänglicher Skepsis ergriff ihn die Neugier, er näherte sich der Ikonenverehrung quasi durch Learning by doing.

Und Hummler erlebte eine Art Bekehrung:

„Wenn ich heute meinem inneren Erleben bei der Verehrung einer Ikone nachspüre, tritt mir immer wieder dasselbe Bild vor Augen: Ich komme mir vor wie einer, der an einen Brunnen tritt, um sich zu erfrischen. Der entscheidende Unterschied jedoch ist: Wenn ich mich über die Ikone beuge, ist es nicht mein Spiegelbild, das ich erblicke. In der Ikone begegnet mir ein gleichbleibend unveränderliches, absolut zuverlässiges Gegenüber. Auf dieses ganz ‚Andere' lasse ich mich ein. Nicht nur intellektuell oder in einer distanzierten Ästhetik. Ich tauche ganz leibhaftig ein in diese bildliche Wirklichkeit. Ich verneige mich vor der Ikone und zeige mir damit: Da gibt es etwas, das ist größer als ich.“

Hummler ging später während seiner Tätigkeit als Klinikseelsorger dazu über, seinen Patienten Postkarten von Ikonen auf deren Nachtschränkchen zu stellen, wenn sie damit einverstanden waren. Gerade für Patienten, die in einen geistigen Dämmerzustand geraten waren — eine alte Frau konnte sich nicht einmal mehr an das Ave Maria erinnern —, erwies sich das Nur-Bildhafte, jedoch emotional Eindringliche dieser Abbildungen als tröstlich.

Georg Hummler berichtet von regelrechten Heilerfolgen nach der „Anwendung“ von Ikonen, die speziell auf die Situation des Kranken abgestimmt waren. Ein „Engel am Grab Christi“ spendete zum Beispiel Mut als Symbol der Überwindung des Todes durch das Leben. Das Beispiel zeigt, dass man Ikonen nie nur aufgrund abstrakter Überlegungen bewerten kann; vielmehr muss man ihre Wirkung auf Gläubige „in Aktion“ sehen.

Eine beachtliche Gemeinde

Sehr rational veranlagte Menschen werden selbst bei Heilerfolgen und wundersamen Wendungen im Leben von Gläubigen immer alternative Erklärungen suchen und finden. Vom Placebo bis hin zur priesterlichen Gehirnwäsche. Gerade in Russland sind jedoch die Volksfrömmigkeit und die aus dem Herzen kommende Verehrung für Heilige und ihre Abbilder sehr stark. Der Glaube der Menschen dort ist weniger als im Westen durch die oft als anstrengend empfundene religiöse „Multioptionalität“ getrübt — man wählt seine Religion nicht wie in einem Gemischtwarenladen aus, man ist seit Kindheit tief in ihr verwurzelt.

Der Kontakt vieler Russen zum Göttlichen ist direkt, erlebnishaft, oft geradezu mystisch, weniger verstanden im Sinne eines Vertragsverhältnisses zwischen einem Schuldner (Mensch) und seinem Gläubiger (Gott).

Die Orthodoxen Kirchen stellen mit 150 Millionen Gläubigen die drittgrößte christliche Gemeinde der Welt. Auch in Deutschland leben drei Millionen Orthodoxe, die allerdings nicht alle dem russischen Zweig angehören. Auffällig ist, dass das Wissen über und auch das Interesse an orthodoxer Religion in Deutschland gering ist. Ich habe mehr Menschen kennengelernt, die sich etwa für den tibetischen Buddhismus, für Zen, Yoga, für Satsang-Lehrer einer hinduistischen Tradition, nordamerikanische Schamanen oder sogar die Kultur australischer Aborigines interessieren, als solche, die sich auch nur als Zaungäste der Orthodoxie genähert hätten. Woran lieg das?

Zunächst lebte der russisch-orthodoxe Glaube, lebten spirituelle Weltanschauungen überhaupt in der Sowjetunion lange im Verborgenen. Das Land galt quasi als atheistische Monokultur, obwohl es das in der Tiefe nie war. Generell wurde alles, was aus Russland kam, eher beargwöhnt und ist zumindest Westdeutschen fremd geblieben, obwohl — wie bei russischer Musik — die Wesensverwandtschaft mit vielem uns Vertrauten mit Händen zu greifen ist.

Die Unterschiede zwischen katholischer und orthodoxer Theologie und Religionspraxis sind aus meiner Sicht nicht groß. Sowohl der Begriff „orthodox“ als auch die Bezeichnung „Patriarch“ sind jedoch seit Langem negativ konnotiert. Als orthodox bezeichnet man oft ewig gestrige Betonköpfe ihrer jeweiligen Glaubensrichtung. Ganz schlimm steht es indes um den Begriff „Patriarch“. Das Patriarchat gilt als verantwortlich für alles Böse in der Menschheitsgeschichte und schon beim geringsten Anzeichen männlicher Selbstbehauptung wird jemand mitunter als „Patriarch“ abgekanzelt. Was sollen woke Westler demgemäß von Menschen halten, die sich selbst ganz offen als Patriarchen bezeichnen und noch dazu einen langen Bart tragen?

Das reinigende Opfer des Soldaten

Die Ignoranz gegenüber der Religiosität im Osten setzt sich bis heute fort und ist in der Ära des neuen Russland-Bashings nicht besser geworden. Der Durchschnitts-Zeitungsleser weiß nur, dass der Moskauer Patriarch Kirill zu Putin hält und dass dies verdammenswert ist. Kirill sagte laut Redaktionsnetzwerk Deutschland im Herbst 2022:

„Die Kirche ist sich bewusst, dass, wenn jemand aus Pflichtgefühl, der Notwendigkeit, einen Eid zu erfüllen, seiner Berufung treu bleibt und im Militärdienst stirbt, er zweifellos eine Tat begeht, die gleichbedeutend mit einem Opfergang ist. Er opfert sich für andere auf. (…) Und deshalb glauben wir, dass dieses Opfer alle Sünden wegwäscht, die eine Person begangen hat.“

Wie gut, dass wir im Westen leben, wo sich katholische wie evangelische Kirchenfürsten der allgemeinen Kriegsstimmung niemals beugen — wie es vor dem Hintergrund der christlichen Lehre von Liebe und Gewaltlosigkeit ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist. Oder sein sollte. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Annette Kurschus jedenfalls sprach sich für Waffenlieferungen an die Ukraine aus.

Nun ist Gott sicher verwirrt, weil er gar nicht mehr weiß, ob er nun westlichen oder östlichen Christen bei ihrem Tötungswunsch assistieren soll. Es ist im Grunde ein Trauerspiel — hier wie dort.

Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen verstand sich Moskau zeitweise als das „Dritte Rom“. Gemeint war eher eine religiöse Nachfolgerschaft, nachdem das italienische Rom unter den Päpsten aus östlicher Sicht vom ursprünglichen Glauben abgekommen und Konstantinopel 1453 nach einem Eroberungsfeldzug der Mohammedaner islamisch geworden war.

Peter der Große (1672-1725) war von Jugend an ein dem Westen zugewandter Herrscher, was seine Beliebtheit in Deutschland teilweise erklärt. Religionsgeschichtlich zeigte sich Peters „Größe“ vor allem darin, dass er die zuvor relativ unabhängige orthodoxe Kirche stärker unter staatliche Kontrolle brachte. Der Ukrainer Feofan Prokopovitsch lieferte eine dem Zaren sehr genehme Begründung für dessen absolutistische Herrschaft: „Das Recht des monarchischen Willens“. Eine Art Pakt zwischen Thron und Altar kam zustande. Der Zar wollte in theologische Inhalte und Kirchenorganisation nicht eingreifen, dafür sicherte die Kirche diesem die Anerkennung seiner Rechtgläubigkeit zu.

Faktisch verschob sich das Kräftegleichgewicht durch die Eingliederung der Kirchenverwaltung in die staatliche Verwaltung jedoch zugunsten der weltlichen Obrigkeit. Die Mitglieder der Synode (Bischofsversammlung) mussten Peter den Untertaneneid leisten und bekamen einen staatlichen Aufpasser, den Oberprokuror, an die Seite gestellt. Ein schwerwiegender Eingriff in kirchliche Selbstverwaltung war die Klosterreform, die dem Staat die Verfügungsgewalt über Klosterbesitz zuschrieb. Den kontemplativen Asketismus, der unter russischen Mönchen verbreitet war, hielt Peter für nutzlos. Er verdonnerte die Mönche zu praktischen karitativen Arbeiten.

„Eine Art geistiger Fusel“

Die besonders enge Verbindung von Zarenthron und Kirche in Russland könnte auch dazu beigetragen haben, dass es in diesem Land nach der Revolution von 1917 zu einem besonders drastischen Verdammungsurteil der neuen Machthaber gegenüber jeglicher Religion kam. So schrieb Lenin in seiner Schrift „Sozialismus und Religion“ mehr als deutlich:

„Die Religion ist eine Art geistiger Fusel, in dem die Sklaven des Kapitals ihre Menschenwürde und ihren Anspruch auf eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.“

Der letzte Zar, Nikolaus II., und seine Frau Alexandra, die deutscher Abstammung und zur Orthodoxie konvertiert war, galten als außergewöhnlich religiös. Beide blieben bis zu ihrer Ermordung durch Bolschewisten der Idee des Gottesgnadentums treu. Eine Einschränkung zaristischer Macht durch parlamentarische Bürgermitbestimmung versuchten beide so weit es ging zu vermeiden. Offenbar weilte das Zarenpaar in einer Scheinwelt ohne Bezug zur sozialen Realität und versäumte notwendige Reformen, was mit zu einem Umschlagen des alten monarchisch-klerikalen Systems in sein Gegenteil beitrug.

Alexandra belastete das Land zusätzlich noch durch ihre Hörigkeit gegenüber dem charismatischen Prediger und Wunderheiler Rasputin, dem sie das Überleben des bluterkranken Zarewitsch Alexej zu verdanken glaubte. Rasputin, Freunden der gehobenen Popmusik der 1970er-Jahre auch als „Russia’s greatest lovemachine“ bekannt, bestärkte die Zarin in ihrem Beharren auf dem Gottesgnadentum. Zwischen der orthodoxen Kirche und Rasputin bestand allerdings keine Harmonie, eher ein Konkurrenzverhältnis, bis ein politischer Mord an dem Günstling der Zarin im Jahr 1916 das Problem löste. Er wurde von Mitgliedern der „höheren“ Petersburger Gesellschaft ausgeführt.

In der Sowjetunion waren Kirchenvertreter vor allem in der ersten Zeit brutaler Verfolgung ausgesetzt. Die Bolschewiki ließen Kirchengüter beschlagnahmen und Priester zu Tausenden ermorden. 1922 gründeten sie die Zeitschrift „Der Gottlose“, die den Atheismus als einzige vernünftige Weltanschauung zu propagieren suchte. Wo Religion überhaupt noch geduldet wurde, fand sie nur noch im privaten Raum statt.

Ein Land auch spiritueller Kontraste

Schon lange allerdings war Russland weltanschaulich ein Land der Extreme gewesen. Eine fest verankerte Monarchie mit lange Zeit völlig fehlender demokratischer Mitbestimmung kontrastierte mit anarchistischen Strömungen, für die die Namen Michail A. Bakunin und Pjotr A. Kropotkin standen, sowie mit verbreiteter Bürgerrenitenz. Ebenso stand der tiefen Volksfrömmigkeit und der engen Allianz von Thron und Altar ein in intellektuellen Kreisen verbreiteter russischer Nihilismus gegenüber. In den Romanen „Väter und Söhne“ von Iwan S. Turgenew sowie „Die Dämonen“ von Fjodor M. Dostojewskij finden wir diese Geistesart eindringlich geschildert.

Wo sich russische Religiosität zeigt, findet man ernst nehmende Tiefe vor, das Ringen um die großen Themen der menschlichen Existenz wie Schuld und Vergebung, Liebe, Leid, Tod und Erlösung. Die russische Religionsgeschichte gleicht einer überaus leidenschaftlichen Debatte des Weltgeists mit sich selbst um die letzten Dinge. Alles scheint in diesem Land denkbar, nur Lauheit ist selten.

Gestalten wie Wladimir der Heilige und Rasputin waren Wüstlinge und Gottesmänner zugleich, der erstere von beiden zudem ein Krieger, der zweite ein Scharlatan. Von Rasputin wird sogar überliefert, er habe sich bewusst in immer tiefere Sünden gestürzt, um Gottes Erlösungswerk dafür umso leuchtender hervortreten zu lassen.

Wie ihr westliches Pendant, ist die Kirche in Russland für meinen Geschmack zu systemangepasst, die spirituellen Inhalte wurden von Geld- und Machterwägungen quasi kontaminiert. Das Echte und Anrührende, das jedoch gerade russische Spiritualität auch für uns im Westen bereithält, kommt eher aus dem Bereich der Volksfrömmigkeit, der Mystik, der Mönchstradition oder dem Starzentum. Letzteres ist eine russische Besonderheit.

Der „Starez“, bei uns unter anderem bekannt durch die Figur des Starez Sossima in Fjodor M. Dostojewskij Roman „Die Brüder Karamasov“, ist ein Priester, der für die russische Bevölkerung teilweise die Funktion eines Gurus im Alltag innehatte — ein geistlicher Lebensberater, der auch außerhalb der Gottesdienste engen Kontakt zum Volk hielt.

Kleines Gebet mit großer Wirkung

Der in Deutschland vielleicht bekannteste Orthodoxie-Interessierte war der Altabt von Niederalteich, Emmanuel Jungclaussen (1927 bis 2018), der zahlreiche Bücher zu russischer Spiritualität verfasst und eingeleitet hat. Besonders setzte er sich für das sogenannte Herzensgebet ein, eine einfache Anrufung des Religionsstifters: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner“, die der Gläubige unzählige Male im Alltag wiederholen sollte. Als Quelle nennt Jungclaussen das Buch „Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“, ein spiritueller Klassiker aus Russland, dessen Autor so unklar ist wie der Entstehungszeitraum (19./Anfang 20. Jahrhundert).

In den „Erzählungen“ begibt sich ein Russe einfacher Herkunft auf Wanderschaft mit dem einzigen Ziel, den Sinn eines bestimmten Bibelspruchs zu ergründen: „Betet ohne Unterlass.“ Über diese Formulierung wird sonst gerne achtlos hinweggelesen, für den Pilger ist der Satz jedoch lebensentscheidend. Er klopft an Dutzende von Türen an unzähligen Orten des Landes, um Auskunft darüber zu erhalten, wie er beten solle. Kein Laie, kein Priester, Mönch oder vermeintlich Weiser vermag ihm jedoch zu helfen. Schließlich rät ihm ein Starez, so oft wie möglich — in eigens dafür reservierten Meditationsstunden, auf Wanderschaft und bei allen Alltagsverrichtungen — das eben genannte Jesusgebet zu rezitieren.

Der Pilger folgt dem Rat beharrlich, bis ihm eine überwältigende mystische Erfahrung zuteilwird.

„Das Herzensgebet erfüllte mich mit solcher Wonne, dass ich nicht glaubte, es könne jemanden auf der Welt geben, der glücklicher wäre als ich, und ich konnte es nicht verstehen, dass es noch größere und herrlichere Wonnen im Himmelreich geben würde. Dieses fühlte ich aber nicht nur im Inneren meiner Seele, sondern auch die ganze Außenwelt schien mir so wunderbar schön, und alles verlockte mich zur Liebe und zum Dank gegen Gott; Menschen, Bäume, Pflanzen, Tiere, alles war mir unsäglich vertraut und an allem sah ich das Abbild des Namens Jesu Christi.“

Von heiligen Huren und Gottesnarren

Es gibt diese mystische Tiefe und Glut in der russischen Spiritualität. Ebenso gibt es sicher — wie im Westen auch — den Verrat kirchlicher Würdenträger an den Wurzeln ihrer Religion. Keiner hat dies klarer gesehen als gerade ein russischer Schriftsteller: Fjodor M. Dostojewskij. Sein „Großinquisitor“ in „Die Brüder Karamasow“ sagt dem wieder auf die Erde zurückgekehrten Jesus ins Gesicht:

„Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf dem Wunder, auf dem Geheimnis und auf der Autorität neu aufgebaut.“

Das war die Ambition so vieler kirchlicher Würdenträger der Geschichte: Jesus verbessern. Und Krieg und Gewaltherrschaft konnten sich meist mit dem Segen der östlichen wie der westlichen Kirchen ausbreiten. Der russische Geist hatte jedoch auch die Kraft, dies zu erkennen und anzuprangern und dem Missbrauch positive Beispiele eines authentischen Christentums an die Seite zu stellen, das immer verbunden ist mit wahrer Menschenliebe.

Wer wie ich die Tiefe und anschauliche Kraft russischer Literatur liebt, kennt sicher einige dieser anrührenden Gestalten. Der fast christusähnliche Gottesnarr Fürst Myschkin in Dostojewskijs „Der Idiot“. Sonja, die Hure und Heilige, der Rodion Raskolnikow in „Schuld und Sühne“ die Geheimnisse seiner schwarzen Seele anvertrauen und um Vergebung bitten kann.

Da ist auch Marja, die Schwester des Fürsten Andrei Bolkonski in Leo N. Tolstois großem Roman „Krieg und Frieden“. Sie ist eine introvertierte, einsame, tief religiöse und zutiefst gütige Frau, die die Demütigungen durch ihren Vater über Jahre geduldig erträgt. Denn die Liebe, so sagt es die Bibel, erträgt alles und rechnet das Böse nicht zu. Marja will „das Unmögliche (…) vollbringen, das heißt, in diesem irdischen Leben (…) alle ihre Nächsten so zu lieben, wie Christus die Menschen liebte“.

Die Prinzessin, die lange auf dem Heiratsmarkt als schwer vermittelbar galt, findet am Ende in dem Soldaten Nikolai Rostow, Bruder von Natascha, ihr Glück. Und dies, obwohl oder gerade weil irdisches Glück für sie nicht das Wichtigste gewesen ist. Sie folgt ganz dem Weg Jesu und seinem „Gesetz der Liebe und Selbstaufopferung“, wie sie sagt. Marja will „die staubige Landstraße dahinwandern und ohne Hass, ohne irdische Liebe, ohne Wünsche (…) endlich dort hinwandern, wo es keinen Kummer gab, sondern ewige Freude“.

Das irdische Leben mit all seinen Mühen und Widrigkeiten als Pilgerweg zum Göttlichen. Es war wohl dieser Gedanke, der vielen russischen Menschen in Leid, Krieg, Armut und Verfolgung immer wieder Kraft gegeben hat, sodass sie sich bis heute länger und beharrlicher als westliche Menschen sträuben, diese religiöse Grundüberzeugung modernistischer Beliebigkeit zu opfern.

Sicher gehört dies zu „Russlands Schätzen“: der tief verwurzelte Glaube, der die Menschen in dieser Welt hält und sie zugleich über diese hinausstreben lässt. Viele der stärksten russischen Gestalten in Geschichte und Literatur vertieften sich so lange in das Evangelium, bis sie an einen Punkt kamen, an dem es ihnen nicht mehr möglich war, Feinde zu sein.

Und auch wir sollten uns weigern, ihre Feinde zu sein.


Quellen und Anmerkungen:

Literatur:

Günther Stökl, Manfred Alexander: Russische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Nikol Verlag. 944 Seiten
Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Herausgeber: Emmanuel Jungclaussen. Herder Verlag. 240 Seiten
Georg Hummler: Himmlisches Licht. Von der heilenden Kraft der Ikonen. Kösel Verlag. 128 Seiten mit Abbildungen


Der voraussichtliche Ablauf der Reihe (weitere können folgen):
(23. Juni 2023) Lilly Gebert: Jenseits von Schuld und Sühne (über Nikolai Gogols „Tote Seelen“ und die Eigenheiten der russischen Literatur
(30. Juni 2023) Michael Meyen: Mit dem Wolf nach Russland (über die sowjetische Kinderserie „Hase und Wolf“)
(7. Juli 2023) Nicolas Riedl: Russischer Tiefgang (über die apokalyptische Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033-35“ von Dimitry Glukhovsky)
(14. Juli 2023) Bilbo Calvez: Eine Gemeinschaft in Sibirien (über ihre Zeit in einem sibirischen Dorf, in dem sie Ende vorigen Jahres mit gebrochenem Arm gestrandet ist)
(21. Juli 2023) Kenneth Anders: Die Russen und wir (über seine persönlichen Erfahrungen vom Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht in einer Garnisonsstadt der DDR)
(28. Juli 2023) Felix Feistel: Antiautoritäres Russland (über die anarchistische Mentalität der Russen und seine Eindrücke während einer Reise in der Coronazeit)
(11. August 2023) Aaron Richter: Ein Monument der Freundschaft über Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“)
(18. August 2023) Renate Schoof: Weltliteratur und Birkenwälder (über die Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und „Der Weg des Schnitters“ von Tschingis Aitmatow)
(25. August 2023) Hakon von Holst: Versöhnung im Land der Verbannung (über den Baikalsee und die ZDF-Dokuserie „Sternflüstern“)
(8. September 2023) Owe Schattauer: Die harten Neunziger (über die beiden russischen Filme: „Bruder“ von Alexei Balabanow und „Toschka ― Der Punkt“ von Yuri Moroz)
(15. September 2023) Roland Rottenfußer: Der Himmel auf Erden (über russische Spiritualität und Orthodoxie)
(22. September 2023) Wolfgang Bittner: Hinter dem neuen eisernen Vorhang (über seine Vortragsreise durch Russland und die damit verbundenen Erlebnisse)
(29. September 2023) Lea Söhner: Der Feindkomponist (über die Musik und das Leben von Pjotr Iljitsch Tschaikowski)
(6. Oktober 2023) Laurent Stein: Ein unbekanntes Viertel (über das Viertel Sokolniki in Moskau und die Erinnerungen an seine russische Großmutter)


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