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Die anschleichende Diktatur

Die anschleichende Diktatur

Es wäre ein Irrtum, zu glauben, ein System sei freiheitlich, nur weil es sich mit ein wenig Feigenblatt-Toleranz schmückt.

In den sozialen Netzwerken scheint eine Sache ziemlich klar zu sein: Diktatur ist das hier nicht. Punkt. Ganz egal, wie sehr Lobbyisten auf die Gesetzesbildung einwirken oder seit Beginn der Pandemie Grundrechte abgebaut wurden: Von einer Diktatur könne man nun wahrlich nicht sprechen, behaupten dort viele. Wäre es eine, dann wären Twitter oder Facebook schon lange verboten.

Wer eine solche Aussage macht, ignoriert mehrerlei: Zum einen, dass die Betreiber sozialer Netzwerke schon längst dazu übergegangen sind, gewisse Meinungsbeiträge auszusortieren — um es mal galant zu umschreiben und das Wort Zensur zu vermeiden. Zum anderen wird unterschlagen, dass es verschiedene Formen diktatorischer Systeme gibt. Man muss nicht gleich immer an die klassische Haudrauf-Diktatur denken, die mit uniformierten Misanthropen ihre Geschäfte abwickelt.

Geschichte wiederholt sich nicht

Passenderweise wurde die „Corona-Diktatur“ zu einem der Unwörter des letzten Jahres erklärt. Unter anderem verharmlose „der Ausdruck tatsächliche Diktaturen, verhöhnt die Menschen, die sich dort gegen die Diktatoren wenden und dafür Haft und Folter bis hin zum Tod in Kauf nehmen”, erläutert die Jury die Entscheidung.

An dieser Deutung kann man zunächst wenig kritisieren. Natürlich ist es ein Unterschied, ob ich in Nordkorea einem Führerkult fröne oder in der Bundesrepublik zusehe, wie sukzessive Regeln unseres bisherigen Zusammenlebens abgebaut oder Grund- zu Sonderrechten gemacht werden. Der Punkt ist aber, dass hier mit einer besonderen Auffassung von Diktatur jongliert wird. Eben mit jenem Bild faschistoider und militaristischer Staatsgebilde, die totalitär durchorganisiert und einem Autoritarismus unterstellt werden.

Man sieht ein Land vor sich, in dem die Bürger duckmäuserisch durch den Alltag gehen und konnotiert damit physische Unterdrückung, Gewaltandrohung und Angst als Stilmittel der Menschenführung. Aber das ist eine Diktatur, wie wir sie uns im 20. Jahrhundert dachten — da sich Geschichte aber nie wiederholt, müssen wir vielleicht die Begrifflichkeit der Diktatur grundsätzlich überdenken.

Der Soziologe Harald Welzer hat vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht, das den Titel „Die smarte Diktatur” trägt. Die Bezeichnung trifft es ganz gut:

In der Diktatur der Zukunft verwendet man einen freundlichen Marketing-Duktus; es laufen keine fratzenhaften Schergen auf, sondern wie Stewardessen im Flugzeug wird ohne Unterlass gelächelt.

Der totale Markt hat auch die Umgangsformen geprägt: Man buhlt um den Untertanen wie um einen Kunden, übt den Angriff auf bürgerliche Freiheitsrechte mit freundlichem Antlitz.

Neuerfindung der Diktatur

Das ist keine abwegige Utopie. Ein Blick nach China genügt: Natürlich ist das eine Diktatur unter der Leitung einer Partei. Aber die Chinesen ziehen mit, sie lassen sich durchleuchten, in soziale Rankings einordnen und verquicken auf totalitäre Art und Weise Volkserziehung, Zahlungsverkehr und soziale Kontakte via Netzwerken. Alles fließt da ineinander, ein Entkommen scheint kaum möglich. Und wie unterdrückt sich die Mehrzahl der Chinesen wirklich fühlt, kann man so einfach wohl gar nicht beantworten.

Der Journalist Kai Strittmatter sprach in diesem Zusammenhang auch von einer „Neuerfindung der Diktatur”, die uns am Beispiel Chinas begegne — so nannte er dann auch sein Buch aus 2020 zum Thema. Auf die Art wie sich die Demokratie modifiziert und wie sie sich zum Beispiel im bundesrepublikanischen Alltag seit 1949 veränderte, sich an den Moden und den Zeitgeist ausrichtete, so gilt das natürlich auch für autoritäre Gesellschaftssysteme.

Die Diktatur ist kein zeitloses Konstrukt, sondern ebenfalls — oder sogar ganz besonders — flexibel und für Technologie zu begeistern. Sie wird in Zeiten, da die Menschen an kundenorientierte Sprache und aus der Werbeindustrie stammende Floskeln gewöhnt sind, nicht einfach auf diese Scheinfreundlichkeit verzichten, sondern sie geradezu für sich in Anspruch nehmen. Sie gibt sich smart, weil sie so Widerstände vorab zerstreut.

Dieses Urteil über die unverrückbare Unkultur der Diktatur, bei dem man sich partout nicht vorstellen kann, dass auch sie „mit der Zeit gehen” kann, hat etwas damit zu tun, dass sich die Mehrheit der Menschen politische Systeme zuweilen als sehr statische Kolosse vorstellt. Dass sich diese modifizieren, und dies nicht nur im Zuge einer Revolution, bemerkt man im Alltag nicht so leicht.

Viele Wege führen nach Rom

Ein Blick in die römische Geschichte lohnt sich da eigentlich immer. Das Reich war nie dasselbe, es wuchs, es veränderte auch dadurch bedingt seine Herrschaftsstrukturen, landete von der Republik letztlich im Kaiserreich — und selbst letzteres änderte sich fortwährend. Unter Augustus hielt man einen Republikanismus hoch, den es gar nicht mehr gab. Unter Nero hielt man diesen Mummenschanz nicht mehr aufrecht. Haben die alten Italiker den Wandel bemerkt? Wohl kaum. Sie lebten in dem System, das sie schon immer kannten. Der Sprung von der augusteischen Autokratie zur neronischen Tyrannis: Dieser Prozess verlief schleichend.

Der Übergang war seinerzeit unmerklich. Diktatur? Gab es doch nicht. Nur ab und zu, in Notzeiten, konnte ein Konsul zum römischen Diktator erhoben werden. Mit allen Befugnissen, die er benötigte, um die Staatsgeschicke aus der Notsituation herauszuführen. Das Amt war zeitlich begrenzt: Dies war den frührömischen Erfahrungen mit dem Königtum geschuldet. Nie wieder sollte ein Einzelner durchregieren können. Nur ausnahmsweise mal.

Augustus war als Oktavian der erste Konsul des Reiches. Ließ sich vom Senat bestätigen, hatte aber die alleinige Macht in Händen — Diktator nannte man ihn deswegen noch lange nicht. Seinen Ziehvater Cäsar ermordete man noch, weil man in ihm einen Diktator witterte. Unter Augustus existierte ein solches diktatorisches Amt gar nicht mehr. Seine Nachfolger änderten das Kaisertum, das sich quasi mehr oder minder unbemerkt herausbildete, immer wieder leicht um. Bis es zur Gottgleichheit mutierte. Wähnten sich die Römer deshalb in der Diktatur? Man weiß wenig über die Denkweise kleiner römischer Leute.

Man darf die deutsche, auch die italienische oder spanische Erfahrung des 20. Jahrhunderts nicht als normalen Werdegang einer Diktatur abtun. Sie wird nicht unbedingt von heute auf morgen installiert, herbeirebelliert oder ausgerufen.

Sie ist seltener eine Zäsur, als eine sukzessive Modifikation der herrschenden Strukturen und des Systems. Sie geht leisen Schrittes in die Totale.

Die Totale: Totalitarismus

Die Frage, ob wir nun aktuell in einer Diktatur erwacht sind, lässt sich auf viele Weisen beantworten. Die Meinungsfreiheit scheint eingeschränkt und Gesetze werden je nach Benötigung verändert: Tendenzen gibt es also. In jedem Falle etabliert sich ein Totalitarismus, der in ein autoritäres System und ein transhumanistisch inspiriertes Hygienesystem zu münden scheint. Womöglich werden erst nachfolgende Generationen diesen schleichenden Prozess nachzeichnen können, der aus der Bundesrepublik, die sich Sozial- und Rechtsstaat nannte, ein Land limitierter Grundrechte destillierte.

Die Geschichte lehrt außerdem, dass Veränderungen der Organisation oder gar der Verfassungsinterpretation nicht einfach wieder verschwinden, hat man sie erstmal modifiziert. Man denke nur an den Kampf gegen den Terrorismus in den 1970ern (gegen die RAF) ebenso wie zuletzt vor zwanzig Jahren (gegen den Islamismus): Die damals geschaffenen Gesetze gelten noch heute, zurückgenommen wurden sie nie.

Ein Staatsnotstand scheint faktisch nie ein Zustand zu sein, der kommt und geht — und mit ihm Regularien und Gesetze. Er verstetigt sich vielleicht nicht, aber er verewigt sich in Gesetzen, die als Relikte aus jener Zeit erhalten bleiben, da der normale verfassungskonforme Ablauf der Dinge nicht mehr gewollt war. Schon heute sprechen die ersten von Sonderrechten, wenn sie die Wiederzuteilung von Grundrechten meinen. Hier normalisiert sich also etwas, das ganz und gar nicht normal ist und nicht der demokratischen Grundordnung entspricht.

Dass ich das hier so schreiben kann, ist auf alle Fälle kein Zeichen, dass alles unbedenklich wäre — denn ein bisschen Feigenblatttoleranz steht dem smarten Totalitarismus gut zu Gesicht, lässt ihn harmloser erscheinen.


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