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Die Krisenkinder

Die Krisenkinder

Die „Gesundheitsmaßnahmen“, die uns derzeit in Atem halten, sind das Symptom einer chronisch kranken Politik.

Kabarettisten sind Menschenkinder mit besonders unerbittlich geschärften Zungen, spitzen Federn mit Tragweite und Adleraugen für die Fehler der Mitmenschen, bevorzugt die der politisch Tätigen. Dafür schätzen wir sie — zumal wir als Publikum meist relativ sicher vor ihnen schmunzelnd, nickend, unsere unvollkommenen Körper und Charaktere Kekse knabbernd in weiche Sessel sinken lassen können. Sie schauen den Mächtigen unter die Deckmäntelchen, „dem Volk aufs Maul“, karikieren und treffen dabei oft auf schmerzhafteste Weise ins Schwarze — zum Beispiel auch, wenn Spitznamen für ihre Opfer ersonnen und im kollektiven Gedächtnis verankert werden. Sie erinnern sich an „Birne“? Der „Genosse der Bosse“? „Schmidt Schnauze“?

Eine herausstechende Eigenschaft wird auf den Punkt gebracht und quasi zum Markennamen. Heute haben wir „Mutti“. Und an dieser Stelle — Sie müssen entschuldigen — klingeln bei mir als Psychologin plötzlich Alarmglocken. Nein. Auf meinem Hausdach springt ein Dutzend Sirenen an. Ich weiß ja nicht, was Sie dabei assoziieren, bei mir ist es nichts Gutes. Das hat einen Grund darin, dass ich berufsbedingt von Klienten Geschichten in großer Zahl kenne, in denen Mütter — die tatsächlich meist nur das Beste für ihre Kinder wollten — massiven Schaden an Seele und Gesundheit ihres Nachwuchses hinterließen. Da hilft auch kein Deminutiv.

Mütter, die ihre Kinder schützen und zum Guten erziehen wollten und sie dabei psychisch misshandelten, schädigten, blockierten oder traumatisierten fürs ganze Leben.

Es handelt sich um Mütter mit erheblichen eigenen emotionalen Problemen, ungesunden Verhaltensweisen, gestörten Beziehungs- und Bindungsmustern, die sie aus ihren eigenen Biografien mitbrachten, im Psycho-Jargon „dysfunktionalen Mustern“.

Um hier der Gendergerechtigkeit Genüge zu tun — Väter können ebenfalls enormen Flurschaden anrichten. Dennoch wage ich — als Frau darf ich das! — die Behauptung, dass Mütter noch tieferen Einfluss haben — siehe zum Beispiel pränatale Schäden durch Stress. Aber widersprechen Sie mir gern! Nehmen wir das Beispiel einer Mutter mit einer Zwangsstörung.

Sie möchte vordergründig ihr Kind schützen, indem sie zum Beispiel möglichst weitgehend kontrolliert, was ihr Kind den lieben langen Tag so treibt: Was spielt es? Ist das auch nicht zu gefährlich? Mit wem trifft es sich und wo? Ist das auch guter Umgang und wann muss es wieder zu Hause sein? Hat es die Hausaufgaben fehlerlos gemacht? Das Zimmer ordentlich aufgeräumt? Hat es sich nicht schmutzig gemacht, die Hände gründlich gewaschen? Unter der Bettdecke keine verbotenen Bücher gelesen? Artig sein Gemüse aufgegessen? Keine Widerworte gegeben, niemanden enttäuscht oder traurig gemacht? Lernt es brav, was gelehrt wird, und erkennen die Lehrer auch die besondere Begabung des Kindes? Spiegelt es wider, dass man eine gute Mutter ist auch im Nachbarschaftsvergleich? Gibt die Oma nicht zu viel Schokolade? Erlaubt der Vater zu langes Fernsehen, vergisst dauernd den Fahrradhelm und hat ein Schweizer Taschenmesser geschenkt und so weiter ...?

Mit eng gesetzten Leitplanken aus Belohnungen, die es sich verdienen muss mit Wohlverhalten, und natürlich auch Strafen wird der Sicherheit versprechende Pfad systematisch gebahnt. Sie erkennen, im Ansatz alles gut und richtig, doch: Die Dosis macht das Gift!

Die Engmaschigkeit, das aus der Starre der Angst resultierende Gefängnis, das fehlende Vertrauen in das Kind, das Umfeld, Natur und zuletzt in sich selbst zerrütten die Familie. Kontrolle wird zu einem zentralen Element, das scheinbar größtmögliche Sicherheit schafft. Das Kind verkrüppelt dabei.

Zur Psychodynamik dieser dysfunktionalen Muster in Familien gibt es reichlich Literatur, die zu lesen lohnt. Doch ich möchte an dieser Stelle Reaktionsmuster betroffener Kinder betrachten, da diese als „Symptomträger“ uns unter Umständen für unsere heutige gesellschaftliche Situation mit einigen Zaunpfählen zuwinken.

Wenn Eltern psychisch erkranken — welche Bewältigungsstrategien entwickeln Kinder, um durchzukommen? Hier haben einige Psychologen Ähnlichkeiten gefunden in kindlichen Verhaltensweisen, die sie als „Rollen“ vereinfacht zusammenfassten — welche sich meist sogar lebenslänglich abzeichnen von der Schule über den Job, in Teams und anderen sozialen Zusammenhängen.

Vielleicht erkennen Sie etwas von den folgenden Rollen in sich selbst, in Ihren Mitmenschen oder gar Muster-Entsprechungen in unserem System, denn vieles, was wir in Familien sehen, findet sich in Gruppen und Gesellschaften wieder. Wie gesagt, die Dosis scheidet den Nutzen vom Schaden und alles davon ist in jedem von uns angelegt!

Das fügsame Kind

Die Familie steckt in einer Krise, das Kind beschließt, sich brav, unauffällig, angepasst zu verhalten, um nicht noch zusätzlich zur Last zu fallen. Man könnte auch sagen: Es ist solidarisch — die Eltern haben schon genug Probleme, da darf das Kind keine eigenen haben oder produzieren. Ungehorsam zu sein oder zu opponieren würde das Problem der Eltern verschlimmern. Also ist es besser, still zu sein, keinen Streit zu provozieren, Konflikte werden nicht ausgetragen oder gelöst. Dieses Kind agiert oft sehr verantwortungsbewusst, wird eigene Bedürfnisse zurückstellen, hilft unter Umständen beim Vertuschen der Probleme, um eine vorübergehende Balance herzustellen.

Auch die Beobachtung, was passiert, wenn jemand ausschert und in die Schusslinie gerät , kann massive Angst hinterlassen, die dem Kind ratsam scheinen lässt, sich zu verbergen — auch seine Bedürfnisse, Nöte, Wünsche, Lebendigkeit et cetera. Es macht sich unsichtbar. Es ist oft alleine. Es wird nicht vermisst. Weil es scheinbar so „gut funktioniert“, ist es oft auch das „vergessene Kind“.

Das schwarze Schaf

Das Kind ist widerspenstig, frech, ungehorsam, aufmüpfig, verstößt gegen Regeln, hält sich nicht an Verbote, verweigert Leistung, läuft weg, beschimpft Eltern/Lehrer, macht Ärger und Lärm. Es ist verhaltensauffällig. Dieses Kind spürt, dass im System etwas völlig falsch läuft und auch ihm Unrecht geschieht. Darauf reagiert es mit Wut und Aggression. Es erkämpft sich unter Umständen not-wendige Freiheiten damit. Die negative Aufmerksamkeit, die es von den Eltern erhält, ist ihm vielleicht sogar lieber, als völlig vergessen oder ignoriert zu werden.

Anerkennung erhält es eher von anderen „schwarzen Schafen“, Rebellen, mit denen es sich gegebenenfalls zusammentut, wofür es dann noch mehr Prügel einsteckt. Es ist für die Familie ein idealer Sündenbock, es bekommt die Schuld an der Misere zugeteilt plus zugehöriger Strafe. Aber es kämpft und zahlt oft einen hohen Preis dafür, dass es der Vertuschung des eigentlichen Problems der Eltern entgegenarbeitet.

Der Held

Die Helden übernehmen Verantwortung und wachsen über sich hinaus. Oft übernehmen sie Pflichten der Erwachsenen, was sie massiv überfordert und sie oft irgendwann aufreibt, unter Umständen auch erst im Erwachsenenalter. Sie versuchen zu helfen, beschützen die Mutter vor dem gewalttätigen Vater, beseitigen verräterische Spuren und auffälliges Chaos, stellen sich vor kleinere Geschwister, nehmen drakonische Strafen auf sich, oder sie offenbaren sich Vertrauenspersonen oder Behörden, brechen die Mauer des Schweigens, prangern Missstände an. Oft sind sie noch dazu sehr leistungsorientiert, gut in der Schule und Ähnlichem, geben überall ihr Bestes. Lachen, spielen, ruhen oder die Freiheit, sich auszuprobieren — das können sie sich angesichts der Gefahr, in der die Familie steckt, nicht leisten.

Sie übernehmen Verantwortung dafür, dass die Familie nicht zerbricht, wollen, dass niemand zu Schaden kommt, wollen Ordnung wiederherstellen et cetera. Bis zur Selbstverleugnung sind sie Helfer, Retter, Beschützer, Friedensstifter und manchmal stützen sie etwas, das längst im Kern zerrüttet ist, halten nur eine marode Fassade aufrecht.

Der Clown oder das Maskottchen

Der Clown hat erkannt, dass Lachen Spannung reduziert und versucht, die Lage durch Spaß, Albernheiten, Witze zu entschärfen. Kaspereien können ablenken, deeskalieren, der Clown muntert auf, bringt wieder Fröhlichkeit ins Haus, hat unter Umständen Narrenfreiheiten, einen Schutzraum, wird wahrgenommen. Warum wird denn nicht mehr gelacht im Haus? Wo ist die Freude, die Leichtigkeit?

Der Clown vertreibt die dunklen Wolken, seine Scherze bringen kurzfristig Erleichterung, man kann gemeinsam lachen, die Probleme vergessen. Er wird meist dafür gemocht als „Frohnatur“ und erhält positive Aufmerksamkeit — zumindest wenn er die „richtigen“ Scherze macht, die „falschen“ werden bestraft, er lernt den Unterschied schnell. In ihm sieht es oft ganz anders aus. Das Maskottchen ist besonders lieb und macht sich gefällig, wirkt niedlich und schutzbedürftig, singt und malt Blumenbilder, ein Sonnenschein der leidgeprüften Familie, ist aber innerlich nicht weniger verzweifelt.

Die Unverwundbaren

Diese Kinder sind eigentlich ein Wunder: Sie überstehen unbeschadet die schlimmsten Verhältnisse. Ihre Strategien sind inzwischen recht gut erforscht und unter „Resilienz“ bekannt geworden. An dieser Stelle mein heißer Tipp: Nachlesen! Es lohnt sich, dieses Phänomen mehr zu vertiefen, als hier möglich ist, besonders in Krisenzeiten.

Alle Kinder verlieren Kindheit dabei, einen unwiederbringlichen Lebensabschnitt: Entwicklungsaufgaben und -chancen, Lebensfreude, Unbeschwertheit, eigene Erfahrungen sammeln, altersgerecht unterstützt werden in Autonomie und Persönlichkeitsentfaltung und vieles mehr. Sie tragen Narben davon. Diese geben sie oft später ihren Kindern weiter.

Mir ist eine Klientin, eine junge Mutter, in Erinnerung, die zunächst einfach sympathisch mit gepflegtem Äußeren und einer aprilfrischen Wohnung in Erscheinung trat, nur eigenartig gestresst, bis herauskam, dass sie sich hoch verschuldet hatte durch den Kauf von Reinigungs- und Desinfektionsmitteln, ihr drohte wegen Mietschulden die Kündigung. Das Kind war verhaltensauffällig.

Und nun der Sprung in die aktuelle Situation: Was haben Sie eventuell in den letzten Monaten verloren? Was vermissen Sie? Welche erwähnten Stichworte haben Sie berührt? Und in welchen Rollen möchten und können Sie sich momentan bewegen? Empfinden Sie, dass Sie Schutz und Vertrauen „von oben“ erfahren? Wie reagieren Sie auf Kontrolle und Restriktionen? Leiden Sie allmählich unter dem andauernden Ausnahmezustand?

Ein Kabarettist oder Schauspieler hat vielleicht manches vom Clown. Polizisten können zu Helden werden. Viele Unzufriedene machen sich unsichtbar, passen sich oberflächlich der Macht und Majorität an in der Hoffnung, dass die „alte Normalität“ sich bald wieder einstelle. Ängstliche sind oft übergehorsam und richten ihre Aggression gegen sich selbst oder gegen Sündenböcke. Ich wäre zu gern ein Friedensstifter — Harmoniesuchtproblem —, dennoch mussten Sie an meinen aktuellen Assoziationen zu „Mutti“ teilhaben und ich muss gestehen: Die Erfahrung von Hausarrest ist mir ebenso neu wie zuwider, meinem inneren schwarzen Schaf wachsen Hörner und ich spüre, dass ich gleich ganz schnell meine Atemübungen machen muss — oder doch schnell ein Täfelchen Schokolade zur Beruhigung und ein Fläschchen Rotwein zur Entspannung? Dass ein Leid „wertvoller“ oder wichtiger sei als ein anderes, weil es aus einer Infektionskrankheit statt aus einer psychischen Notlage entstanden ist, das halte ich für falsch. Wir müssen die Gesamtheit sehen: aller Menschen und ihres individuellen Leids.

Regression unter Stress

Momentan leben wir definitiv alle in einer chronischen Stress-Situation. Egal ob die Bedrohung der Gesundheit, der wirtschaftlichen Existenz oder die der Grundrechte im Vordergrund steht, wir spüren Gefahr und tendieren zum Notfall-Modus — flight-fight-freeze — und dazu, in alte Muster zu regredieren — familiär und stammesgeschichtlich, Regression unter Stress. Und wir kennen die Wiederholung von Mustern in unterschiedlichen Bezugsgrößen nicht nur in der Psychologie: Betrachten Sie die Selbstähnlichkeit im sich filigran immer feiner verästelnden Farnblatt oder Fraktale in der Mathematik — eine Form wiederholt sich auf der jeweils folgenden Ebene.

Verhaltensmuster und Rollen in Familien lassen sich in Teams, Gemeinschaften, Ministerpräsidenten-Konferenzen oder ganzen Gesellschaften wiederfinden. Zusätzlich wiederholen sie sich durch transgenerationale Weitergabe im Zeitverlauf.

Gesunde Bedingungen stärken hierbei gesunde Muster, schädliche Bedingungen fördern ungünstige Muster. Und allgegenwärtige Angst ist psychologisch, physiologisch und sozial eine extrem schädliche Bedingung. Im Gegensatz zum Farn haben wir jedoch Gehirne und Augen, sprich Erkenntnis, und Beine statt Wurzelgeflecht, also Beweglichkeit. Auch Sprache scheint uns evolutionär vorübergehend zum Vorteil zu gereichen, das heißt Kommunikation.

Fragen wir uns also bewusst: Sind wir noch resilient gegen schwierige Bedingungen? Haben wir gesunde Bewältigungsstrategien oder lassen wir unsere gesunden Muster und Rollenverständnisse dekonstruieren? Agieren wir differenziert als eigenverantwortliche, kompetente Erwachsene oder reflexhaft als eingeschüchterte Zöglinge in dysfunktionalen Strukturen?

Oder wird uns der zarte Farn mittelfristig doch überlegen sein? Weil er in schwierigen Zeiten seinen Kindern gesündere Muster mitgibt fürs Gedeihen?

PS.:

„Wenn die Ehe ihrer Eltern aus dem Lot ist, werden Kinder durch die Macht des Systems wie auch durch ihr eigenes Bedürfnis nach Selbstschutz getrieben, die Familienharmonie wiederherzustellen. Sie werden dabei so weit gehen, ihre eigene physische oder seelische Gesundheit zu opfern, um die Familienharmonie zu bewahren.“
(John Bradshaw, Familiengeheimnisse)

Bei diesem Rollen-Konzept handelt es sich nicht um eine naturwissenschaftlich erarbeitete Kategorisierung, es ist ein von Praktikern angebotenes Denk-Modell, das man nutzen und diskutieren kann!

Bleiben Sie ... resilient, offen, neugierig und nahbar!


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