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Die Kunst des Liebens

Die Kunst des Liebens

Cyborg oder richtig guter Sex — das ist hier die Frage.

Es sieht aus wie echt, doch es ist nicht echt. Schon in der Antike faszinierte das naturgetreue Nachbilden von Figuren, um sie so realistisch wie möglich aussehen zu lassen. In der Antikerezeption des ausgehenden 19. Jahrhunderts bildete sich eine Kunstrichtung heraus, die auf einen ähnlichen Wirkungseffekt hinzielte. Sie bildete den Ausgangspunkt für die Bewegung des Hyperrealismus, die das Abstrakte zurückweist und mit einer fotorealistischen Übersteigerung der Wirklichkeit eine Art überschärfte Realität anstrebte.

Analog dazu tauchte in den 1990er-Jahren ein Phänomen auf, das in seiner scheinbaren Harmlosigkeit belächelt wird und gleichzeitig kaum jemanden unberührt lässt: die sogenannten Reborn-Dolls, lebensechte Puppen aus Vinyl oder Silicon, die verblüffend wie echte Babys aussehen. Noch verblüffender ist, dass diese Puppen von ihren Besitzern wie echte Babys behandelt werden.

Was in minutiöser Feinarbeit aus Kits zusammengesetzt wurde, wird gewaschen und gewickelt, bekommt Fläschchen und wird im Kinderwagen ausgeführt. In Schwesternschulen dienen Reborn-Dolls zur Vorbereitung der echten Säuglingspflege, Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch sind sie ein tröstlicher Ersatz. Die Communitys, die sich für diese Puppen begeistern, haben starken Rückenwind (1). Auch wenn mancher befremdet in den Kinderwagen schaut, interessieren sich immer mehr Menschen für ein Kind, das ihrem Leben Trost und Sinn gibt und das sie, wenn es ausgedient hat, zum Recycling bringen können.

Wunsch nach Fürsorge

Der Wunsch des Menschen nach Zärtlichkeit, sein Angerührtsein von kleinen und hilflosen Wesen und seine Neigung, sich um andere zu kümmern, wird seit Ende der 1990er-Jahre auch mit der Tamagotchi-Bewegung bedient. Während echte Küken geschreddert werden, kümmern sich die Besitzer der Kunsteier vom Zeitpunkt des Schlüpfens an um ihr virtuelles Küken und behandeln es wie ein echtes Haustier.

Wie echte Lebewesen haben Tamagotchis nicht nur Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen und Zuneigung, sondern auch eine Art eigene Persönlichkeit. Sie melden sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten und verlangen nach Zuwendung. Vernachlässigt der Besitzer sein virtuelles Küken, stirbt es. Durch einen Resetschalter kann es jedoch wieder zum Leben erweckt werden. Das funktioniert nicht bei den mehr als drei Millionen Kindern, die jährlich weltweit an Unterernährung sterben. Sie sind und bleiben tot.

So geht es tendenziell immer weniger um echte Lebewesen.

Aktuell wird das menschliche Bedürfnis nach Fürsorge auf Silicon-Babys gelenkt, die noch mehr können als Reborn-Puppen. Sie sehen nicht nur aus wie echte Babys. Dank Künstlicher Intelligenz und fortschreitender Technologie verhalten sich die Puppen in Mimik und Gestik wie Menschen und sind von ihnen immer weniger zu unterscheiden (2). Längst ist die Verdrängung des echten durch den virtuellen Menschen keine Zukunftsmusik mehr (3).

Auslaufmodell Mensch

Immer mehr stellt sich der Mensch in den Dienst der Maschine. Schon ist es möglich, Kinder im Labor zu designen. Für die Entwicklung der Genschere CRISPR/Cas wurden Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna 2020 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Auch psychologisch und soziologisch werden wir darauf vorbereitet, vom Erdboden zu verschwinden. Die Genderbewegung sorgt dafür, dass wir aktuell zwischen 70 „Geschlechtern“ wählen können. Parallel wird mit Political Correctness daran gearbeitet, dass wir uns schämen, „nur“ Mann oder „nur“ Frau zu sein.

Begriffe wie „Frau“, „Mutter“ und „Leib“ schreibt die Soziologin Claudia von Werlhof bereits im Jahre 2011 in ihrem Buch Die Verkehrung, gelten nicht nur als politisch unkorrekt, sondern werden systematisch in die rechte Ecke gedrängt (4). Auch linguistisch werden wir auf unser Verschwinden vorbereitet: Anstatt von Muttermilch ist von Menschenmilch die Rede und anstatt von Müttern von Menschen mit Uterus. In blinder Fortschrittsgläubigkeit lassen wir es zu, dass die Fehlkonstruktion Mensch langsam aber sicher zur Maschine wird.

So ist alles bereit. Als Tüpfelchen auf dem i haben die Coronamaßnahmen dafür gesorgt, Begegnungen und Körperkontakt immer weiter einzuschränken. Händeschütteln, Umarmungen und freies Atmen gelten als suspekt. Es darf nicht mehr zusammen gesungen, getanzt und gefeiert werden.

Ganz oben auf der Liste des Abzuschaffenden steht die körperliche Liebe. Dank der Lockdowns boomen Pornoindustrie und Cybersex.

Um uns vor Affenpocken zu schützen, empfiehlt die amerikanische Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention virtuellen Sex ohne persönlichen Kontakt, oder, wenn unbedingt nötig, mit Kleidung und möglichst ohne Hautkontakt. Auf Umarmungen, Massagen, Küssen oder anderen Gesichtskontakt sollte verzichtet werden. Geraten wird zum gemeinsamen Masturbieren mit einem Abstand von mindestens einem Meter (5).

Kamasutra

Damit möglichst wenige merken, was im Anmarsch ist, wird uns ständig an der Blut-Hirn-Schranke herumgekratzt, die Versorgung mit Sauerstoff eingeschränkt und das Gehirn weggeboostert. Das mediale Informationsbombardement sorgt dafür, dass wir nicht auf krumme Gedanken kommen. So sehen wir nicht, was sich hinter der nächsten Welle verbirgt. Alle unsere Aufmerksamkeit wird auf Gefahren gelenkt, die nicht wirklich welche sind, um von der eigentlichen Gefahr abzulenken.

Der Ausweg aus dieser Situation heißt: Sex. Gemeint ist nicht der Boykott von Sex, um bestimmte Ziele durchzusetzen, kein Aufruf Lysistratas, den Männern den Sex zu verweigern, um einen Krieg zu verhindern, sondern das Gegenteil: richtig guter Sex und echtes Begegnen.

Hierin sind wir keine Weltmeister. Wir bauen gute Autos und können an allen möglichen Schalthebeln herumspielen, doch wo der G-Punkt liegt und wie wir ohne technisches Spielzeug unsere Lust steigern können und gemeinsam zum Höhepunkt kommen, ist für die meisten ein Buch mit sieben Siegeln.

Dabei ist es ganz einfach, das Buch der Liebe aufzuschlagen. Seit mehr als 1.800 Jahren gibt es das Kamasutra, auf Sanskrit die Verse des Verlangens, in denen es um weit mehr geht als ein paar akrobatische Positionen beim Liebesspiel. Es geht um den grundsätzlichen Umgang zwischen Frauen und Männern, von der ersten Annäherung bis zum Ende der Beziehung. Letztlich ist es die ganze Welt, die von der Warte der Sexualität aus betrachtet wird.

Die sieben Bücher des Kamasutra handeln von Erotik und gesellschaftlichem Leben, Liebestechniken, Jungfrauen, Ehefrauen, den Frauen anderer Männer, Kurtisanen und geheimen Mitteln zur Steigerung der Liebeskraft. In seiner Ausrichtung ist Kamasutra keine Art Sexgymnastik, sondern ein Tor zum Erlangen spiritueller Weisheit. Grundgedanke ist, dass der Mensch sich nicht passiv seinem Schicksal, dem Karma, ergibt, sondern seine Lebensumstände beeinflussen kann.

Leben als Liebesspiel

Die Künste und Körperstellungen des Kamasutra sind darauf ausgerichtet, der Partnerin oder dem Partner eine Freude zu machen und diese miteinander zu teilen. Hier ist das Liebesspiel kein Einakter, kein schneller Schuss in den Ofen, kein eroberndes Eindringen in fremdes Territorium, sondern ein feines und subtiles Gedicht epischer Länge. Hier reicht es nicht, den Motor aufzudrehen und ein wenig mit den Muskeln zu spielen. Es geht um die Entwicklung eines Verhaltens, das grundsätzlich Lust macht.

Hierzu ist es nicht nötig, sich durch die sieben Bücher des Kamasutra zu lesen. Es reicht, die Sinne zu schärfen, sich für den anderen zu interessieren und möglichst ehrlich mit sich selbst zu sein. Welche Worte höre ich gerne, welche Gesten mag ich? Wie gefällt es mir, behandelt zu werden? Was macht mir Freude? Wo regt sich meine Lebens- und Liebeslust? Was bringt mich zum Lachen? Was teile ich besonders gerne? Wo werde ich ganz weich? Was bringt mein Herz zum Klopfen? Wobei läuft mir das Wasser im Munde zusammen? Wo werde ich gerne berührt?

Da insbesondere Frauen den Vorteil haben, nicht nur über eine oder zwei erogene Zonen zu verfügen, besteht hier die Qual der Wahl. Es gibt so viel zu entdecken!

Im Grunde genommen ist das ganze Leben ein Liebesspiel, bei dem es nicht darum geht, möglichst viele Bälle ins Tor zu bekommen, sondern sie sich so zuzuspielen, dass möglichst alle Spaß haben.

Dazu gehören zum Beispiel aufmerksames Zuhören, zärtliche Worte und Gesten, ein offener und freundlicher Blick und Geschichten, die nicht immer dieselben sind.

Achtsame Zweisamkeit

Für Liebende, die unter einem Dach leben, ist das besonders schwierig. Die Autorin und Storytellerin Seema Anand (6) empfiehlt daher, zwischen gutem Sex und Zusammenleben zu wählen. Denn Hand aufs Herz: Wer stürzt sich nach 25 Jahren noch lustvoll auf einen Partner, mit dem er Bad und Küche teilt? Wem macht es Lust, gemeinsam den Caddy durch den Supermarkt zu schieben? Wen erregt es, zusammen den Kredit fürs Eigenheim abzubezahlen?

Auch wenn es fast alle so machen und auch wenn Fantasie, Achtsamkeit und Zärtlichkeit im Hamsterrad des Alltags verloren gegangen sind: Es ist nicht zu spät, sie wieder zurückzuholen. Noch sind wir dazu in der Lage. Noch sind wir Menschen. Noch haben wir Gefühle und können in uns hineinspüren. Seien wir achtsam, präsent, und entfalten wir die Schönheit und die Sinnlichkeit in unserem Leben. Machen wir Musik, tanzen, singen, malen wir gemeinsam. Lesen wir uns vor. Entwickeln wir Geschicke in dem, was uns interessiert. Und stellen wir uns vor, was für eine Zivilisation sich auf Menschen gründet, die sich auf diese Weise begegnen.

Machen wir uns dieses Geschenk. Lieben wir einander. Berühren wir uns im Herzen. Machen wir Liebe und zeugen wir, wenn wir es möchten, echte Kinder, die auf keinem Müllhaufen landen.

Schenken wir unsere Fürsorge und unsere Mütterlichkeit nicht irgendwelchen Artefakten, sondern wirklichen Lebewesen. Sie werden sie dankbar annehmen und uns etwas geben, was uns keine Maschine geben kann: das Gefühl eines wirklichen, tiefen Glücks.


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.instagram.com/reborn1813/?hl=de
(2) https://www.youtube.com/watch?v=HZX0qUBf47U
(3) https://www.youtube.com/watch?v=PHQhCiVLRpE
(4) Claudia von Werlhof: Die Verkehrung: Das Projekt des Patriarchats und das Gender-Dilemma, Promedia 2011.
(5) https://www.cdc.gov/poxvirus/monkeypox/specific-settings/social-gatherings.html?CDC_AA_refVal=https%3A%2F%2Fwww.cdc.gov%2Fpoxvirus%2Fmonkeypox%2Fsexualhealth%2Fsocial.html
(6) Seema Anand: The Art of Seduction: The 21 century-guide to having the greatest sex of your life, Rupa Publications India 2017.


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