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Die letzte Reise

Die letzte Reise

Einen Sterbenden aufzusuchen, ist heutzutage zu einem Hürdenlauf über viele Sicherheitsbarrieren geworden.

Als der Anruf kommt, bin ich wieder ganz klein. Niemanden nenne ich so wie dich. Papa. Niemand hat so starke Hände, so gütige Augen. Niemand hat so für mich gesorgt wie du. Werde ich rechtzeitig bei dir sein? Mit zittrigen Fingern versuche ich, ein Flugticket zu buchen. Gott sei Dank, ich habe einen Pass. Ich bin genesen. Hastig klicke ich mich bis zur Zahlung — und scheitere an einem neuen doppelten Sicherheitscode. Werde ich zu dir können? Werde ich rechtzeitig da sein?

Zwei Wochen lang war die Pflegeeinrichtung geschlossen, in der du seit Beginn des Jahres versorgt wirst. Zur Sicherheit. Zwei Wochen, in denen du alles verloren hast. Es hat dir förmlich die Sprache verschlagen. Du kannst nicht mehr aufstehen, nicht mehr essen, nicht mehr trinken. Kein bekanntes Gesicht trat an dein Bett. Niemand sang mit dir deine Lieder. Niemand saß neben dir und hielt deine schönen Hände.

Das Flugticket ist ausgedruckt. Der neue Code abgespeichert. Das Passwort geändert. Der Parkplatz am Flughafen reserviert. Das Hotel gebucht. Der Termin für den Bürgertest festgelegt. Ich scheitere an den Sicherheitsvorkehrungen zum Reservieren einer Bahnfahrkarte. Vergeblich klicke ich auf verschwommene Bilder von Lastwagen und Wasserflugzeugen und kann nicht beweisen, dass ich kein Roboter bin.

Zur Sicherheit

Du kommst aus einer Zeit, als das Leben noch analog verlief. Die Post wurde per Hand sortiert und mit dem Fahrrad ausgetragen. In meinen Semesterferien lernte ich sie kennen, deine Welt. Weißt du noch, der Brief in der Abendpost, der auf keinen Fall in die Hände seines Empfängers geraten sollte? Die ganze Abteilung hat sich auf die Suche gemacht. Einer hat ihn schließlich gefunden. Was wäre geschehen, wenn er abgeschickt worden wäre?

Am Flughafen stehe ich in der Schlange. Aus Sicherheitsgründen muss ich warten. Ich werde durch Gänge geschleust, muss den Inhalt meiner Taschen auf ein Band legen und Schuhe und Gürtel ablegen. Alles Verdächtigen entledigt werde ich wieder zurückgeschickt. Wie ich auch hat die erste Kontrolle übersehen, dass ich keine Bordkarte dabeihabe. Verdrossen stehe ich in der nächsten Kontrollschlange. Wird mein Papier mit dem Aufdruck „positiv“ akzeptiert werden?

Was, wenn ein entscheidendes Dokument fehlt? Wenn ich etwas vergessen habe? Nicht die richtigen Papiere vorlege? Die notwendige App nicht geladen habe? Nicht das entsprechende Formular ausgefüllt habe? Noch einen Zusatztest brauche? Ach, Papa. Weit ist sie entfernt, die sichere Geborgenheit, die ich einst neben dir empfand. Nichts Schlimmes konnte mir geschehen. Vorbei ist sie, die Zeit, in der du mich vom anderen Ende der Welt wieder nach Hause gebracht hättest.

Es wird eng

Ich sitze neben einer Flasche Desinfektionsmittel vor einem Kaffee und atme tief ein, bevor ich die nächsten Stunden komplett hinter einer Maske verbringen muss. Zur Sicherheit, korrigiert mich das Flugpersonal beim Einstieg, muss sie Mund und Nase bedecken. Der Flug ist komplett ausgebucht. Dicht an dicht sitzen die Passagiere. Die Maschine, so klingt es über die Lautsprecher, ist mit Spezialfiltern ausgestattet, die in der Lage seien, alle bekannten Virusarten zu eliminieren.

Was ist mit den unbekannten? Mit denen, die sich ständig verändern, wie es ihre Art ist? Was wissen wir schon über das unsichtbare kleine Leben? Es ist nicht einmal bewiesen, dass es Viren überhaupt gibt. Aber dieses Flugzeug verfügt über ein Filtersystem, das die Passagiere in Sicherheit wiegt, wenn sie sich an die Regeln halten.

Heimlich ziehe ich meine Maske unter die Nase. Stört es außer mir niemanden, durch chemiedurchtränkten Stoff zu atmen?

Wo bist du, Papa? Wohnst du noch in deinem Körper oder steigt deine Seele schon auf in die Höhen, in denen ich zu dir unterwegs bin? Es ist ein Flug ohne Service. Zur Sicherheit gibt es keine Getränke, keine Snacks, keine Wägelchen, die die Gänge blockieren. Auch Mitgebrachtes darf nicht verzehrt werden. Kein Mund soll sich öffnen. Um mich herum ist Schweigen. Der Vorhang zur ersten Klasse ist geschlossen.

Am seidenen Faden

Atmest du noch? Hat dich der Tod schon unter seine Fittiche genommen und trägt dich auf seinen Flügeln? Er wird kommen. Ganz sicher. Viel sicherer noch als all die Kontrollen, Regeln, Masken und Filter. Ist er schon da? Bist du schon in dem Tunnel? Siehst du schon das Licht? Hat dich schon jemand in Empfang genommen? Sahst du ihn schon, deinen Lebensfilm? Durchlebtest du schon, was die Begegnung mit dir in anderen Menschen ausgelöst hat? Wurdest du schon gefragt, was du aus deinem Leben gemacht hast? Ob du glücklich warst?

Als das Flugzeug in Paris landet, fahren Panzer auf, um den Konvoi derjenigen in Empfang zu nehmen, die gegen die Sicherheitsmaßnahmen protestieren. Zur Sicherheit. Aus Sicherheitsgründen darf man in der Flughafenhalle nicht nebeneinandersitzen.

Ich zwänge mich in das Flugzeug nach Berlin und erfahre, dass ich vergessen habe, das Sicherheitsformular auszufüllen, das bestätigt, dass ich meine Reise gesund angetreten habe.

Wird man mich vom Flughafengelände lassen? Wird der Test negativ sein, der mir Zugang zu der Einrichtung gibt, in der du stirbst? Was, wenn er positiv ausfällt? Werde ich meine Familie sehen können oder muss ich in die Quarantäne? Wie lange? Wird man mich zurückreisen lassen, dorthin, wo ich gebraucht werde? Oh Papa, wie viel einfacher war das Leben, als du am Bahnhof standst, um mich abzuholen.

Der Geist aus der Flasche

Deutschland wird digital — in übergroßen Lettern suggeriert die Botschaft im Berliner Hauptbahnhof Zukunftstauglichkeit. Im Hotel gibt es Probleme mit meinen Papieren. Werde ich im Warmen übernachten können? Oder muss ich mir eine Ecke im Bahnhof suchen, in der ich mich bis zum Morgen zusammenkauern kann? Was passiert, wenn ein Hotel einen Kunden abweist? Wenn kein Testzentrum in der Nähe ist? Wenn der Test positiv ausfällt?

Als ich mein Zimmer beziehe, sehe ich, dass mein Smartphone sich nicht automatisch in das deutsche Netz eingewählt hat. Ich sehe nicht die Nachricht meiner Schwester. Die Computeranlage des Hotels ist ausgefallen. Deutschland ist noch nicht digital. Morgen, so denke ich mir, werde ich deine warme Hand in die meine nehmen. Ich werde in deine weichen braunen Augen sehen und in ihnen Würde erkennen. Die Würde eines langen Lebens, die Würde eines Menschen, der sich nicht in ein digitales Korsett hat schnüren lassen.

Du bist so viel mehr als ein müder Körper, der sich gerade aus dem irdischen Leben verabschiedet, so viel mehr als diese Hände und diese Augen.

Ich nehme wahr, wie du mit mir sprichst. Hab keine Angst, sagst du mir. Die können dir nichts anhaben. Was für eine Macht haben die schon mit ihren Verordnungen und Gesetzen, mit ihren Dekreten, Bestimmungen und Normen? Was können die dir schon, die außer Nullen und Einsen nichts kennen und die mit ihren künstlichen Modellen in der Dualität festhängen?

Ihr Leben ist in der Materie gefangen. Ihr Geist hängt in der Flasche fest. Er kann nicht heraus, wenn er glaubt, er sei die Fasche. Doch du und ich, wir wissen es besser. Wir erleben gerade eine andere Realität jenseits der Formen. Wir sind nicht an Zeit und Raum gebunden und können uns begegnen, wo und wann es uns gefällt. Spürst du es? Die Liebe wird nicht sterben. Wir sind frei. Ich bin da.


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