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Die Magie der Literatur

Die Magie der Literatur

Romane ermöglichen eine wirkliche Völkerverständigung und leisten einen wichtigen Beitrag zum Frieden.

Klein. Ich klappe das Buch zu und fühle mich klein. Irgendwie beruhigt. Kann ein Mensch sich anders fühlen als klein in dieser großen, komplexen Welt voller anderer Menschen mit ihren Gefühlen, Begehren und Geschichten? Und doch sind wir das Zentrum unseres eigenen Universums. Jeder für sich.

Erst, wenn wir durch Freundschaft oder Liebe immer wieder flüchtig in die Welt eines anderen Menschen eintauchen, stellen wir fest, dass jeder in seinem Universum irgendwie gefangen ist und am Ende immer wieder nur auf sich selbst trifft. Nie werden wir wissen, wie es ist, jemand anderes zu sein.

Dachte ich. Bis ich den Roman „Americanah“ von Chimamanda Ngozi Adichie las. Wenn wir in eine gute Geschichte eintauchen, fühlen wir uns in der Position der Protagonisten, als wären wir sie. Mir war das nie aufgefallen, es geschah bis jetzt immer unbewusst. Was war nun anders?

Dieses Mal las ich das Buch aus der Feder einer schwarzen Frau aus Nigeria. Also sah ich mich zunächst unbewusst und nach und nach immer bewusster selbst als die Hauptfigur und hatte zum ersten Mal eine andere Hautfarbe. Es war so machtvoll, endlich zu fühlen, wie Diskriminierung und Vorurteile sich vielleicht für betroffene Menschen anfühlen – sei es nun aufgrund der Hautfarbe, aufgrund von Armut, aufgrund einer Behinderung oder weil die Person dick oder mager ist.

Nun tauchte ich also in die Geschichte von Ifemelu ein, und mir wurde klar, dass eine junge Frau aus Afrika so wenig über Rassismus nachdachte wie eine weiße Europäerin, weil sie eben in ihrer Heimat zur Mehrheit gehörten. Erst in den westlichen Ländern spüren sie auf einmal, dass sie als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. So wie die brillante Ifemelu, als sie zum Studieren in die USA geht.

Lähmende Political Correctness

Ich kann die Debatten über Rassismus und Diskriminierung von Politikern, Intellektuellen und sogenannten Woke-Leuten kaum ertragen. Sie klingen in meinen Ohren kalt und gefühllos, nach Rechthaberei und meist am Wesentlichen vorbei: der wirklichen Anerkennung des Unrechts, das diskriminierten und unterdrückten Menschen in der Geschichte widerfuhr und noch heute widerfährt.

Sicher ist es nützlich, auf die eigene Sprache zu achten, doch oft traue ich mich überhaupt nichts mehr zu sagen, aus Angst, irgendjemand weist mich zurecht, dass ich mich rassistisch ausdrücke, als wäre ich ein Unmensch. Das Schlimmste ist: Ich diskriminiere tatsächlich viele Menschen völlig unbewusst — wie wohl jeder Mensch.

Wir alle haben Vorurteile, und es scheint mir kaum möglich, uns immer über alle Vorurteile im Klaren zu sein, die wir mit uns herumschleppen.

Vielleicht half der eine oder andere Hinweis auf meinen falschen Sprachgebrauch, mein Bewusstsein etwas zu schärfen, aber er rief auch Widerstand und Trotz in mir hervor, war also irgendwie gleichzeitig kontraproduktiv.

Jedenfalls fiel mir neulich auf, wie wenig ich auf dicke Menschen achte, wie ich sie irgendwie unbewusst meide und verurteile. In meinem Freundeskreis gibt es niemanden, der dick ist. Genauso wenig achte ich auf arme Menschen. Ich mache mir viele Gedanken um sie, doch wenn ein Obdachloser in die Straßenbahn steigt und stinkt, bin ich froh, wenn ich aussteigen kann, und wenn ich eine arme Familie sehe, fühle ich Mitleid, was ihnen in meiner Wahrnehmung irgendwie die Würde nimmt und sie bevormundet.

Wäre es nicht viel hilfreicher für den Zusammenhalt der Gesellschaft und eine Annäherung an ein Ideal von Gerechtigkeit, wenn wir uns vor allem auch immer wieder dieser Vorurteile in uns selbst bewusst werden, anstatt Sprachpolizei zu spielen? Die Frage ist nur: Wie?

Literatur als gesellschaftspolitische Kraft

Dank der brillanten nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie fiel mir auf, wie heilsam und aufregend es für mich ist, durch ihre Romane in das Leben eines Menschen aus einer völlig anderen Kultur eintauchen zu können. Vielleicht half mir dabei, dass ich in meiner Jugend einmal eine kurze Liebesgeschichte mit einem Nigerianer hatte.

Er war zum Studieren nach Deutschland gekommen, zog dann aber, kurz nachdem wir uns kennenlernten, nach London, da er sich in Sachsen-Anhalt mit damals noch vielen auf Schlägereien erpichten Neonazis nicht wohlfühlte. Ich besuchte ihn einmal in England und ging mit ihm auf eine Party, auf der ich die einzige Weiße war. Schüchtern schlängelte ich mich zwischen den vielen Leuten entlang und war fasziniert von der kraftvollen, lebensfrohen Energie der Tanzenden.

Ich bereue es nun, Ayo damals nicht mehr über sein Leben und seine Heimat befragt zu haben. In „Americanah“ beschreibt Adichie auch die Erfahrung von Obinze, dem Exfreund von Ifemelu, der für sein Studium illegal nach London geht, weshalb ich an Ayo denken musste und mich durch meine eigene Erfahrung noch mehr in den Roman einfühlen konnte. Ich hatte einen selbsterlebten Bezug.

Adichie beschreibt auch, was in Nigeria Ende der neunziger Jahre los war: streikende Professoren, da der Staat sie nicht mehr bezahlen kann, das Ende eines Polizeistaats und permanente Unsicherheit für die Bevölkerung — sowie absolute Langeweile und Perspektivlosigkeit für die Studenten, die nach Hause fahren und nicht wissen, wie es mit den Unis, ihrem Studium, ihrem Leben weitergehen wird.

Obwohl Ifemelu in den USA als Bloggerin Erfolg hat — sie beschreibt scharfzüngig ihre „Beobachtungen über schwarze Amerikaner (früher als Neger bekannt) von einer nicht-amerikanischen Schwarzen“ —, kehrt sie nach 13 Jahren in ihre Heimat zurück und schreibt dort nun kritisch über ihre Landsleute, von denen viele ohne Rücksicht auf Verluste im aufstrebenden, quirligen Lagos schnell reich werden wollen. So erhalte ich auch einen Einblick in das Leben der Megametropole, von der ich höchstens mal kurz den Namen aufgeschnappt hatte, ohne zu wissen, wo sie liegt und welche Bedeutung sie hat — die zweitgrößte Stadt Afrikas!

Und da kam sie, die Erkenntnis, wie wenig ich weiß, obwohl ich mehrere Länder bereist habe, Freunde aus verschiedensten Ländern habe, viele Jahre in verschiedenen Ländern gelebt habe. Wieso habe ich den Eindruck, dass wir Europäer uns irgendwie einbilden, wir wüssten, wie die Welt ist, was in der Welt passiert, obwohl wir den kleinsten aller Kontinente bewohnen und trotz Internet nur von Medien beeinflusst werden, die auch aus unserer Kultur stammen?

Was wissen wir über Afrika? Was wissen wir über die einzelnen Länder Afrikas, über deren Kulturen, die Menschen? Ich war so fasziniert über den kurzen Einblick in das Leben in Nigeria, dass ich mir drei weitere Romane bestellte: zwei weitere von Adichie und den etwas älteren Roman „Den Frieden überleben“ von Cyprian Ekwensi über die Zeit nach dem Biafra-Bürgerkrieg.

Denn abgesehen von den kulturellen Einblicken beruhigt es mich, angesichts der aktuellen Bedrohungen auf der politischen Weltbühne, von den Erfahrungen zu lesen, die andere Menschen bereits mit Krieg, Bürgerkrieg, Regime-Changes und sozialen Unruhen gemacht haben. Vielleicht kann ich von ihnen lernen, zumindest erkennen, dass das Leben weitergeht — bis wir eben so oder so irgendwann sterben.

Ich bestellte mir auch gleich zwei Romane einer Südkoreanerin (die ich noch nicht gelesen habe), da ich feststellte, dass ich nichts über das Leben in asiatischen Ländern weiß und gegenüber Menschen aus Asien noch unbewusster und von Vorurteilen geprägter bin als Menschen anderer Kulturen gegenüber, zu denen ich zumindest zeitweise enge Beziehungen hatte — wie zu Mexikanern, Kolumbianern, Kubanern, US-Amerikanern, Neuseeländern, Spaniern, Franzosen, Argentiniern, Venezolanern, Ecuadorianern, Polen, Österreichern, Bosniern, Serben, Kroaten, Dänen, Schweden, Briten, Italienern, Nigerianern, Kamerunern, Ivorern, Südafrikanern, Armeniern, Libanesen, Tunesiern, Marokkanern, Burkinern, Tschechen, Slowaken, Ukrainern, Russen …

Je länger ich nachdenke, desto mehr erinnere ich mich an all die Menschen, mit denen ich bereits Erfahrungen austauschen konnte. Und trotz dieser Vielfalt ist mein Weltbild so begrenzt. Vielleicht weil wir im Gespräch mit Menschen eben nicht so in deren Kultur eintauchen können wie beim Lesen eines Romans, wenn wir uns mit der Hauptfigur identifizieren.

Und wie viele Menschen können schon so viele Kulturen kennenlernen, gerade wenn sie sesshafter und nicht so rastlos sind wie ich? Literatur bringt die Welt zu uns nach Hause! Nutzen wir diese Möglichkeit. Zumal sie uns entspannt und Genuss bringen kann, während wir zugleich unser Weltbild erweitern. Literatur scheint mir als Informationsquelle hilfreicher als Nachrichten. Sie macht uns bewusster, erreicht unser Herz und verbindet uns mit unserer Mitwelt, anstatt Kopfemotionen wie diffuse Ängste und Groll oder gar Hass zu schüren, die uns von der Welt trennen.

Bewusstsein für verborgenes Leid

Heute las ich das zweite Buch von Adichie, „Blauer Hibiskus“, zu Ende. Eine ganz andere Geschichte als „Americanah“, die mich auf eine völlig andere Weise berührte, ja regelrecht mitnahm, mit einem Gefühl tiefster Betroffenheit, und die mich mit dem Salz sonnengetrockneter Tränen auf den Wangen zurückließ.

In diesem Roman schlüpfte ich in die Haut der fünfzehnjährigen Kambili aus einer wohlhabenden Familie Nigerias, die von ihrem streng religiösen Vater durch Erziehungsmaßnahmen im Namen Gottes misshandelt wird.

Als sie zum ersten Mal für eine Woche bei ihrer Tante und deren Kindern übernachtet, macht sich ihre ungefähr gleichaltrige Cousine Amaka über sie lustig und verurteilt sie als verwöhnt und arrogant, weil Kambili reich ist und nicht kochen kann. Kambili schweigt und beobachtet, wie viel ihre Verwandten lachen, obwohl sie bedürftig leben und mit Lebensmitteln und der täglichen Hygiene improvisieren, während sie gar nicht weiß, wie es sich anfühlt zu lachen. Durch die sie umgebende Fröhlichkeit bei ihrer Tante taut sie nach und nach etwas auf, vergisst sogar manche Regeln ihres Vaters. Als sie heimkommt, passiert folgende Szene:

„‚Steh auf jetzt!‘, sagte Papa noch einmal. Er fing an, mich zu treten. Die metallenen Schnallen an seinen Slippern schmerzten wie Stiche von riesigen Moskitos. Er schrie ohne Unterlass, völlig außer Kontrolle, in einer Mischung aus Igbo und Englisch, wie weiches Fleisch und spitze Knochen. Über Gottlosigkeit. Heidnische Rituale. Höllenfeuer. Das Treten wurde immer schneller, und ich dachte an Amakas Musik, an die Musik mit kulturellem Bewusstsein, die manchmal mit einer ruhigen Saxophon-Passage begann und sich dann in einen wilden Wirbel aus lustvollem Gesang steigerte. Ich rollte mich fester zusammen (…).

Jetzt waren die Moskitostiche wie scharfe böse Schnitte, denn das Metall der Schnallen traf auf offenes Fleisch an meiner Seite, meinem Rücken, meinen Beinen. Ein Tritt. Und noch einer. Und noch einer. Vielleicht schlug er mich jetzt auch mit einem Gürtel, weil die Schnalle schwerer geworden zu sein schien. Weil ich sie durch die Luft sausen hörte. Eine Stimme sagte leise: ‚Bitte, biko, bitte.‘ Mehr Stiche. Mehr Schläge. Eine salzige Wärme schoss mir in den Mund. Ich schloss die Augen und glitt in die Stille hinüber.“

In einer anderen Passage bittet ihr Vater sie, sich in die Wanne zu stellen. Das hatte er noch nie zuvor getan. Die Angst vor dem Unbekannten, das folgen wird, lähmte mit dem Lesen jedes neuen Wortes auch mein Gemüt. Er goss ihr kochendes Wasser über die Füße — und weinte dabei.

Auch das vermag die Literatur also: Verborgenes Leid, das wir nie miterleben werden, weil es hinter verschlossenen Wohnungstüren im Privaten geschieht, für alle fühlbar zu machen.

Wie viele mahnende Texte las ich in den letzten zwei Jahren über die Zunahme der häuslichen Gewalt durch Lockdown-Maßnahmen? Darin schwang Empörung und Alarmismus, aber ich begriff nicht, ich spürte nicht, warum es so dringlich war, weil ich es ja nie erlebt hatte. Dieses grausame Gefühl des Ausgeliefertseins im eigenen Zuhause!

Vielleicht rütteln Artikel noch mehr Menschen wach, wenn sie sich literarischer Formen wie der aus Adichies Romanen bedienen? Wir brauchen Texte, die aufklären und zugleich berühren. Wenn die Informationen nicht unser Herz berühren, können wir einfach so weitermachen wie immer. Sie gehen zum einen Ohr hinein und werden von der nächsten Information aus dem anderen Ohr wieder hinausgeschoben.

Wenn unser Herz jedoch hellhörig wird, dann entfacht dies einen Willen, ein Feuer, eine Kraft, die zwar nicht weiß, was sie jetzt sofort tun kann, aber die mich zumindest wacher durchs Leben gehen und liebevoller auf alle meine Mitmenschen achten lässt — auch die Dicken, auch die Mageren, auch die Schwarzen, auch die Stinkenden, auch die fremd Aussehenden, auch die Unauffälligen, auch die Anzugträger, auch die Punks. Vielleicht reicht ein bewusster Blick in ihr Gesicht, um sie nicht als Statisten in meinem Universum, sondern als eigenständige Menschen anzuerkennen und somit respektvoller im Umgang mit ihnen zu sein, sei es ein freundliches Lächeln, wenn sich beim Aussteigen aus dem Bus unsere Blicke treffen. Damit lösen Unterdrückung und Diskriminierung sich nicht auf, doch es entfaltet sich subtil ein anderes gesellschaftliches Klima.

Ich fühle mich dank dieser Bücher demütiger und verbundener mit allem mir Unbekannten. Es fiel mir bis jetzt nie auf, dass auch unsere Kultur noch immer vor allem von weißen, westlichen Autoren, Philosophen, Komponisten und Künstlern geprägt ist, trotz aller Bewusstheit für Rassismus.

Wie einfach und anregend ist da die Erkenntnis, dass wir durch das Lesen von Autoren aus anderen Kulturkreisen einen großen Beitrag zur Völkerverständigung und Überwindung von Spaltung leisten können!


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