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Die Meinungsklempner

Die Meinungsklempner

Im Jahr 2025 werden Falschdenker umfangreichen therapeutischen Reparaturmaßnahmen zugeführt werden.

Feiner Nieselregen fällt auf den Parkplatz und überzieht den grauen Schotter mit einem dünnen, glänzenden Film. Nur wenige Fahrzeuge stehen heute hier geparkt. Der monatliche Besuchstag ist erst in paar Tagen, bis dahin sind es die Autos der Pfleger und Ärzte, der Therapeuten und Servicemitarbeiter, die auch an einem Samstag wie diesem Dienst tun in Deutschlands größter Heil- und Erziehungsanstalt für Falschdenker.

Am Eingang des cremegelb gestrichenen Traktes C, an dem wir verabredet sind, erwartet sie mich schon. Sie, das ist Marina Bernisowa, Diplom-Betriebswirtin und PR-Consultant des „Sven-Spaan-Instituts für psychische Gesundheit und Gedankenhygiene“, so der offizielle Name der ein Jahr nach Beginn der Großen Pandemie errichteten Anstalt. Die junge Frau im Solidarity-Anzug begrüßt mich mit einem Augenzwinkern über der farblich abgestimmten Bruno Banani-Love-Maske:

„Guten Morgen, Frau Bülow, schön, dass Sie da sind! Dann lassen Sie uns gleich mal loslegen ― in der Höhle des Löwen, sozusagen …“

Routiniert geleitet sie mich durch die Desinfektionsvorrichtung vor der biometrisch gesicherten Eingangspforte.

1.800 Betten beherbergt das inmitten von Rapsfeldern und Streuobstwiesen idyllisch gelegene Institut. Meist ist es, so wie derzeit, zu rund 90 Prozent ausgelastet. Neben drei Haupt- und zwei Nebentrakten, in denen sich die Patienteneinrichtungen, Therapie- und Arbeitsräume sowie die Kantinen und Cafeterien befinden, prägen ein weitläufiger Gemüsegarten, die Gebäude der Wäscherei und der Desinfektionsanlage, Sportplätze und schließlich der Empfangsbereich vor dem Haupttrakt A mit seinem Skulpturengarten das Bild.

Möglich gemacht haben das großzügige und über die Grenzen Deutschlands hinweg bewunderte Projekt nicht nur Mittel des Sonderfonds für Gedankenhygiene der Bundesrepublik, sondern auch Zuwendungen der Bill and Melinda Gates Foundation. Dem Stifter Gates sowie dem ehemaligen Gesundheitsminister und Namensgeber der Anstalt sind zwei prominente Skulpturen in der Nähe des Haupteingangs gewidmet. In Bälde sollen sie um eine dritte ergänzt werden. Dann wird die Büste von Prof. Dr. Christopher Pfosten, Träger des Bundesverdienstkreuzes am Band, dem Angedenken des viel zu früh verstorbenen Wissenschaftlers dienen, der kürzlich dem Coronavirus erlag ― Anmerkung der Redaktion: Wie eine Untersuchung zwischenzeitlich ergab, starb Prof. Pfosten nicht an Covid-24, sondern an einer Infektion mit dem H1N1-Virus, besser bekannt als Erreger der Schweinegrippe.

Wären da nicht die Drohnen, die die Gebäude und Plätze der Anstalt leise surrend umkreisen, und der Elektrozaun weit hinten, zwischen liebevoll gehegten Bohnenfeldern und leuchtenden Mohnblumen, man könnte die Szenerie für Reklame einer Sommerfrische halten.

Kaum verständlich bei solch einem Anblick, dass den Heil- und Erziehungsanstalten für Falschdenker in der Bevölkerung zu Beginn eine gewisse Scheu entgegengebracht wurde. Ich spreche das Thema an. Bernisowa scheint wenig überrascht: „Ja, gerade am Anfang gab es doch ein wenig Verunsicherung, was Inhalt und Methoden unseres therapeutischen Ansatzes angeht. Da sind wir als Institution, da sind aber auch Politik und Real News in der Verantwortung, Aufklärungsarbeit zu leisten. Deshalb freuen wir uns immer über Interesse seitens der Medien, unsere Arbeit genauer kennenzulernen. Dank des Einsatzes seitens Journalisten wie Ihnen konnten wir ja solche unbegründeten Vorbehalte inzwischen zerstreuen“, erläutert sie.

In der Tat sind die Heil- und Erziehungsanstalten für Falschdenker ― 27 gibt es mittlerweile in ganz Deutschland ― heute nicht nur integraler Bestandteil des Versorgungsnetzwerks für psychische Gesundheit und Gedankenhygiene, sondern auch international anerkannte Lehr- und Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Behandlung und Prävention des Falschdenkens.

Mit den Tagesthemen gegen das Alleinsein

Unser Rundgang beginnt im Wohnbereich des Traktes C. Fast 400 Patienten, verteilt auf mehrere Akut- und Normalstationen, beherbergt das Gebäude derzeit. Die meisten von ihnen nehmen jetzt noch in einer der zahlreichen Kantinen ihr Frühstück ein ― die Patientenzimmer, die Gänge und Aufenthaltsräume, sie sind weitgehend leer. So auch die Fernsehlounge der Akutstation 3A, die wir nun betreten. Nur ein älterer Herr hat es sich unter den fürsorgend auf uns herabblickenden Augen Der Mutter mit einem Buch auf einem der sterilen Vinylsitze bequem gemacht. Überrascht und vielleicht etwas verunsichert über unser Eintreten blickt er von den Seiten seiner Lektüre auf, während Bernisowa mir erklärt, warum mein Besuch gerade hier beginnt.

Die Fernsehlounge ist eines der Herzstücke jeder Station. Sie dient nicht nur der hygienischen außertherapeutischen Begegnung von jeweils bis zu 20 Patienten pro Schicht. Ganz wesentlich trägt sie auch dem erzieherischen Auftrag des Sven-Spaan-Instituts Rechnung. Die Patienten haben so im geschützten, internetfreien Rahmen der Anstalt die Möglichkeit, mithilfe von Real News Richtigdenken auch außerhalb der geregelten Therapiezeiten einzuüben.

Folgerichtig erfreuen sich Sendeformate, wie die Tagesschau, Tagesthemen und heute journal, aber auch Faktenchecks zu Themen aller Art, großer Beliebtheit.

„Wenn wir die Menschen nach einigen Monaten Betreuung wieder in ihren Alltag entlassen, müssen wir schon davor alles daransetzen, dass sie dort nicht in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Das Richtigdenken darf sich deshalb nicht auf die notgedrungen zeitlich begrenzten Therapiestunden beschränken. Richtigdenken ist vielmehr eine Grundeinstellung, die unsere Patienten zwar in den Therapien lernen, oder vielmehr wiedererlernen, die sie aber zu jeder Zeit ― gerade auch in der Freizeit und im Alltag ― einüben müssen. Solange, bis es wieder ganz normal für sie ist ― so wie für Sie und mich.“

Daher die große Bedeutung, die dem Fernsehen beigemessen wird. Und dieses wird, so Bernisowa, von den allermeisten Patienten auch sehr gerne angenommen.

Mit ihrer Erlaubnis nähere ich mich dem älteren Herren auf Sicherheitsabstand. Der Mann, nennen wir ihn Manfred, ist 76 und zum ersten Mal in einer Heil- und Erziehungsanstalt für Falschdenker. Immer wieder blickt er zwischen mir und Bernisowa hin und her, als er mir zögernd seine Geschichte erzählt. Der studierte Bauingenieur kam vor zwei Monaten zur Behandlung ins Institut. Seine Tochter und sein Schwiegersohn hatten ihn hierher gebracht. Es war der traurige Endpunkt einer Abwärtsentwicklung, die, so erzählt Manfred mit schwer hörbarer Stimme, zwar schleichend, aber unaufhörlich von ihm Besitz ergriffen habe. Was er denn meine mit „Abwärtsentwicklung“, möchte ich von ihm wissen, doch Manfred blättert nur nervös in dem abgegriffenen Buch auf seinem Schoß. „Die Kunst der Hygiene“, entziffere ich den auf dem Kopf stehenden Titel. Nach einem Moment bedeutet mir Bernisowa, weiterzugehen.

Nur noch eine Frage stelle ich dem armen Mann: Ob auch er gerne das Freizeitfernsehangebot des Instituts in dieser schönen Fernsehlounge in Anspruch nehme. Manfred sieht auf, erst zu meinem Guide, dann zu mir. „Ja, schon, sicher“, sagt er, steht eilig aus seinem Sitz auf und verlässt den Raum. Das Buch landet mit einem hallenden Platsch auf dem Steinfußboden.

Die Krankenzimmer auf Station 3A sind, wie jene aller Stationen im Trakt C, in freundlichem Cremegelb gehalten. Da es aus Infektionsschutzgründen nur Einzelzimmer gibt, ist der Raum sparsam, doch zweckmäßig bemessen und eingerichtet. Bett, Vinylsitz und ein kleiner Tisch stehen jedem Patienten zur Verfügung. Viel Zeit aber verbringen die Patienten hier in der Regel ohnehin nicht. Der Tag im Sven-Spaan-Institut ist, auch an den Wochenenden, genau getaktet. Täglich 3 bis 4 Stunden Denk- und Psychotherapie sowie Schwerpunktgruppen, daneben Arbeitstherapie und medizinische Behandlungen prägen das Leben in der Anstalt. Organisierte Freizeitangebote, wie Hygieneschulungen, aber auch sportliche und kreative Betätigungsmöglichkeiten, runden das Bild ab. Da bleibt nicht viel Zeit zum Alleinsein, zum Grübeln, zum Sinnieren.

Und das ist auch durchaus gewollt. Nicht umsonst haben etliche Studien der letzten Jahre gezeigt, dass Falschdenken durch ein Zuviel an aktivitätsfreier Zeit begünstigt wird ― abgesehen natürlich von der leider immer noch da und dort gegebenen Verfügbarkeit von Fake News, doch dazu später.

Die Bertelsmann Stiftung etwa fand in einer kürzlich vorgestellten Metastudie heraus, dass die Morbiditätsrate in Bezug auf Falschdenken in der Bevölkerung dort am höchsten ist, wo weniger als die gewöhnlichen 60 Stunden pro Woche gearbeitet wird.

Kaum verwunderlich also, dass insbesondere Personen über 75, Jobcenter-Customers und andere, die sich von der Gesellschaft abgehängt haben, es sind, die ihren Weg in die Heil- und Erziehungsanstalten für Falschdenker finden.

„Ein Alkoholkranker ist ja auch kein ‚Getränketheoretiker‘!“

Schwere Sitzmöbel mit Lederbezug erwarten mich vor einem Panoramafenster, welches den Blick auf den Patientengarten freigibt. Hinter dem Mahagonischreibtisch erhebt sich ein sportlich wirkender Herr, zupft mit einer lässigen Bewegung seine Love-Maske zurecht und weist mir den Weg zur Sofaecke. Prof. Sebastian Ullrich, 45, hat eine frühe und in Fachkreisen viel beachtete Karriere absolviert. Mit knapp 40 Jahren habilitiert, Mitglied mehrerer international renommierter Fachgesellschaften, teils in leitender Funktion, steht der Lehrstuhlleiter für Experimentelle Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und ehemalige Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité seit etwas mehr als einem Jahr dem Sven-Spaan-Institut als medizinischer Leiter und Chefarzt vor.

Prof. Ullrich, das merke ich schnell, ist kein Freund großer Umschweife. Und so steigt er auch direkt ein in das Thema, das uns Laien wohl am meisten fasziniert an Einrichtungen wie seiner:

„Viele Menschen da draußen machen sich ein falsches Bild von unserer Arbeit. Sehen Sie, die Patienten, die uns anvertraut sind, mit denen wir arbeiten, sind nicht hier, weil wir die Gesellschaft vor ihnen schützen müssen, weil sie eine Gefahr für die Allgemeinheit sind. Natürlich sind sie das auch, streng genommen, aber das ist nicht unser eigentlicher Auftrag. Wir sehen uns in unserem Selbstverständnis ganz klar als Helfende, nicht etwa als Strafende. Nein, was wir hier tun, ist nicht in erster Linie, die Gemeinschaft vor unseren Patienten zu schützen. Wir schützen unsere Patienten vor sich selber!“

Wie das denn zu verstehen sei, hake ich nach. Ullrich:

„Nun, was wir verstehen müssen ist Folgendes: Es gibt doch einen Unterschied zwischen einem juristisch definierten Vergehen und einer medizinisch, also in unserem Fall einer psychiatrisch definierten Krankheit und damit einen Unterschied zwischen einem Verbrecher und einem Kranken. Die Menschen, die bei uns Hilfe finden, sind keine Täter im juristischen Sinne, sie sind Kranke. Auch wenn sie das in der überwiegenden Zahl der Fälle zu Beginn selbst nicht erkennen können.“

Deshalb, so fährt er fort, halte er persönlich auch nicht viel von Begriffen wie „Verschwörungstheoretiker“:

„Ja, das ist jetzt so ein Begriff … Ich will es mal so formulieren: Einen Alkoholkranken würden Sie ja auch nicht als ‚Getränketheoretiker‘ bezeichnen. Das geht am Kern der Sache vorbei und hilft dem Alkoholiker, der ja unter seiner Abhängigkeit leidet, letztlich nicht. Und das gilt für die Kranken, mit denen wir hier arbeiten, auch. Wir helfen ihnen nicht, indem wir ihre Krankheit als ‚Theorie‘ beschönigen, sie damit quasi noch aufwerten. So wie ein Alkoholiker oder ein Schizophrenieerkrankter, so leidet auch ein Falschdenker, auch wenn ihm selbst sich die Einsicht in dieses Leiden erst im Zuge seiner Behandlung erschließt. In der Psychiatrie sprechen wir hier von fehlender Krankheitseinsicht oder auch Ich-Syntonie, aber das kennen wir ja auch von einer Reihe anderer psychischer Störungen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb sind wir moralisch dazu verpflichtet, für diese Menschen Fürsorge zu treffen, sie dabei zu unterstützen, ihr Leid, ihre Störung als solche anzuerkennen. Denn Einsicht ist in der Psychiatrie immer die Voraussetzung zur wirklichen Gesundung.“

Die Seuche im Kopf

Tatsächlich gilt Falschdenken seit der im Jahr 2021 erfolgten Revision des ICD-11, des Diagnoseschlüssels der Weltgesundheitsorganisation WHO, als eigenständige psychische Erkrankung.

Als Kernsymptome des den wahnhaften Störungen zugerechneten Krankheitsbildes gelten unter anderem eine zwanghafte Neigung zu übermäßigem Fragenstellen, das wiederholte und/oder fortgesetzte In-Zweifel-Ziehen des Realitätscharakters von Real News, ein krankhaftes Misstrauen gegenüber der Regierung und anderen staatlichen Institutionen sowie das wahnhafte Verkennen von ungewöhnlichen, unwahren und mitunter bizarren Überzeugungen als „legitime eigene Meinung“ oder angeblich belegbare Sachverhalte.

Meist bezieht sich die wahnhafte Komponente der Störung auf den paranoiden Verdacht, Politiker, Wissenschaftler und/oder Medienvertreter, die oft namentlich benannt werden, würden fehlerbehaftete Informationen verbreiten und/oder Informationen anderer, ebenfalls oft namentlich genannter Personen verunglimpfen oder unterdrücken. Die Übergänge zu anderen psychotischen Störungen, insbesondere aus dem schizophrenen Formenkreis, sind in vielen Fällen fließend.

Wie viele Fälle von Falschdenken es wirklich in der Bundesrepublik gibt, weiß niemand so genau. Zwar liegen seit 2021 verlässliche Zahlen der Gesundheitsämter vor, da Falschdenken eine meldepflichtige Krankheit ist: Rund 78.000 gemeldete Fälle waren es im vergangenen Jahr. Doch wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich nur schätzen. Experten jedenfalls gehen von einer Zahl aus, die die gemeldeten Fälle um das bis zu Vierfache übersteigen könnte. Allerdings scheint sich in letzter Zeit ein positiver Trend abzuzeichnen: Nicht zuletzt dank intensiver Bemühungen der Ministerien für Gesundheit und Wahrheit von Bund und Ländern sowie als Folge rigoroser Abwehrmaßnahmen gegen die Herstellung, die Verbreitung und den Konsum von Fake News gingen die Erkrankungsfälle in den vergangenen 12 Monaten um etwa ein Viertel zurück.

Unter Fachleuten gilt das Falschdenken als zwar schwierig, aber prinzipiell erfolgversprechend behandelbare Störung. Meist besteht ihre Behandlung aus einer Kombination von Psychopharmaka, intensiver Psychotherapie und anderen therapeutischen Verfahren, wie Arbeits- und Denktherapie. Zwangsmittel, wie Fixierungen und strenge Isolation, kommen dabei nur gelegentlich zum Einsatz, versichert mir der Chefarzt des Instituts.

Im Schnitt verbringen seine Patienten 18 bis 24 Monate in der Einrichtung, bevor sie als geheilt entlassen werden können. Immerhin 22.428 Falschdenker hat das Sven-Spaan-Institut in der kurzen Zeit seines Bestehens bereits erfolgreich behandeln können. Und die Erfolge lassen sich in der Tat sehen: Gebrochene Existenzen aus zerrütteten Familien, Verzweifelte am Rand der Gesellschaft ― so kommen sie in die Heil- und Erziehungsanstalt. Als gesunde Mitmenschen, verantwortungsvolle Familienväter und -mütter, als solidarische Bürger und produktive Arbeitnehmer, so gehen sie Monate später wieder hinaus.

Und nachts die Fake News unter der Bettdecke

Eine Geschichte von vielen. Johanna ― Name geändert, Anmerkung der Redaktion ―, 38, sitzt an einem der rund 20 Werktische, die Stirn in tiefe Konzentrationsfalten gelegt. Im Arbeitstherapieraum, in dem sich heute Insassen der Station 5B eingefunden haben, surren die Nähmaschinen. Sie nähen Love-Masken und Solidarity-Anzüge für die Patienten des Instituts in fröhlichen Farben und ― passend zur Jahreszeit ― mit tropischen Motiven. 5B, das ist eine Station für Patienten, die unter chronischem oder wiederkehrendem Falschdenken leiden.

Auch Johanna ist schon das zweite Mal in Behandlung. Für ein paar Minuten hält die gelernte Bürokauffrau und Mutter zweier Kinder in ihrer liebgewonnenen Näharbeit inne, um mir ein wenig von sich zu erzählen: Was sie hierhergeführt hat. Wie es ihr draußen erging. Und warum sie, nach sieben Monaten in ihrem alten Leben, wieder hier ist.

„Es begann eigentlich alles durch so ein Video im Internet. Das kam erst mal ganz harmlos daher, da war ein Mediziner, Epidemiologe glaub ich, der hat über das Coronavirus gesprochen. War eigentlich ganz interessant und der schien auch ganz seriös zu sein … da dachte ich mir: ‚Siehst du’s dir halt an, wer weiß, vielleicht ist ja was dran?‘ Dass das Falschdenken war, das wusste ich damals natürlich nicht. Und wie schnell man auch abhängig wird von so was …“

Es folgte, was folgen musste. Je mehr sie auf dubiosen Internetseiten recherchierte, je mehr Videos von selbst ernannten „Experten“ sie sah und je öfter sie Texte umstrittener Figuren las, desto weiter entfernte sich Johanna vom Richtigdenken, desto abstruser wurden ihre Gedanken ― und desto tiefer wurde die Kluft zwischen ihr und den Menschen, die ihr nahe standen. Immer weiter sank sie hinab in die Parallelwelt kruder Verschwörungstheorien, vernachlässigte den Job, der ihr doch immer viel Freude bereitet hatte, ihre Ehe, zuletzt sogar ihre heiß geliebten Kinder, vier und sechs Jahre alt.

Irgendwann gelangte sie an den Punkt, an dem sich ihr Abgleiten nicht mehr verbergen ließ, auch nicht im Büro. Ihr Vorgesetzter war es schließlich, der sie in das Sven-Spaan-Institut einweisen ließ. Was folgte, war eine harte Zeit, so Johanna. Fast ein Jahr verbrachte sie zuerst auf der Akut-, dann auf der Normalstation, sah ihre Familie nur einmal im Monat. Und doch war es eine Zeit, so weiß Johanna heute, die sein musste. Eine Zeit, in der sie lernte, Vertrauen zu fassen in den Staat, seine Fürsorge anzunehmen, sich dem Schutz zu unterstellen, den er ihr bot. Voll Zuversicht kehrte sie nach diesem Jahr heim. Ob sie es damals für möglich gehalten habe, je wieder vom Falschdenken befallen zu werden?
Johanna:

„Also nein, überhaupt nicht. Dass ich heute wieder hier bin, das habe ich nicht geglaubt. Als ich entlassen wurde nach dem ersten Mal, da fühlte ich mich gesund, geheilt. Man hat mir sehr geholfen hier, wirklich, ich bin sehr dankbar … Aber ― das Leben draußen ist wieder etwas anderes: hart. Die Versuchung ist groß, sie ist immer da.“

Die Versuchung, von der Johanna spricht, das sind die Fake News, die sie konsumierte. Anfangs heimlich, nur ab zu, vor den Kindern und dem Ehemann versteckt. Zum Beispiel nachts, unter der Bettdecke oder eingeschlossen im Badezimmer, das Wasser in der Dusche laufen gelassen, damit man nichts hört. Später dann immer öfter. Irgendwann merkte ihr Mann, dass etwas mit ihr nicht stimmte:

„Eines Abends, da ist er dann zu mir gekommen und hat gesagt: ‚Johanna, du liest doch wieder dieses Zeug! Gib es doch zu, ich merke es ja!‘ Da habe ich einen Riesenschrecken gekriegt, weil ich mich bis dahin selber angelogen habe. Ich wollte es nicht wahrhaben, dass ich rückfällig geworden war. Ich war doch mit so guten Vorsätzen aus der Anstalt gekommen ― nie wieder dieses Zeug ansehen, hatte ich mir geschworen. Aber es war stärker als ich, einfach stärker …“

Ihre Stimme zittert, wenn sie davon spricht, ihr Blick senkt sich traurig auf den Stapel Stoff auf ihrem Schoß. Dann atmet sie einmal tief durch, greift sich energisch ein neues Stück Textil und stellt die Maschine wieder an. Ich lasse sie weiternähen und wünsche ihr in Gedanken viel Kraft für die Zeit danach.

Wie schleichendes Gift aus dem Internet

Fake News, sie waren es bei den meisten, die dazu führten, dass sie sich entfremdeten von der Familie, den Arbeitskollegen, den Freunden, der Gesellschaft. Zwar haben Bundesregierung wie EU-Kommission und auch die Betreiber von Social-Media-Plattformen und anderen Internetdiensten in den vergangenen Jahren Enormes geleistet in der Bekämpfung und Prävention von Fake News, doch ein Schwarzmarkt existiert nach wie vor. Mit immer neuen Tricks und Windungen versuchen seine Erhalter, sich der staatlichen wie privatwirtschaftlichen Gesundheitskontrollen zu entziehen und verbreiten ihre zersetzenden Falschgedanken in den muffigen Hinterhöfen des Internets. Sie wirken wie ein Gedankenvirus. Zunächst scheinbar harmlos entfalten sie ihre zerstörerische Kraft erst nach und nach, sind dabei aber hochansteckend.

Nicht ohne Grund spricht Prof. Ullrich von dem mentalen Infektionsrisiko, das durch solche Falschgedanken ausgeht. Zu viele Fälle sind ihm aus seiner mehrjährigen Praxis bekannt, zu viele traurige Schicksale von Menschen ― Männern und Frauen, Alten und Jungen ―, die diesem Gift aus dem Internet erlagen. Entsprechend offen seine Wortwahl, wenn es um die Urheber und Verbreiter von Falschgedanken geht:

„An diesem Punkt endet all mein ärztliches wie menschliches Verständnis. Denn ― sehen Sie sich um ― die Leute, denen wir hier helfen, die wir in langer und oft auch schmerzhafter Arbeit in ein normales Leben, ins Richtigdenken zurückbegleiten, diese Leute sind letztlich alle zu Opfern geworden. Opfer jener, die solche gesundheits- und lebensgefährdenden Inhalte in die Welt setzen. Das ist nicht nur verantwortungslos und unmoralisch, das ist kriminell. Gott sei Dank hat das ja auch der Gesetzgeber erkannt und entsprechend gehandelt. Doch die Folgen dessen, was diese kriminellen Energien immer noch Tag für Tag unter unbescholtenen, wenn auch labilen Menschen anrichten, die sehen Sie hier.“

Wie es ist, dem schleichenden Gift der Fake News zu erliegen, das weiß Peter ― Name geändert, Anmerkung der Redaktion ―, 49, nur zu gut aus eigener Erfahrung. „Einen wunderschönen guten Tag, wunderschöne Dame!“, mit diesen Worten empfängt mich der hochgewachsene Mann in seinem Patientenzimmer. Vor kurzem erst hat der gebürtige Hamburger erfahren, dass er im Juli vielleicht schon entlassen werden könnte. 19 Monate hat er in der Heil- und Erziehungsanstalt gelebt, eine lange Zeit. Er hat sich, so gut es ging, in seinem Zimmer eingerichtet. An den Wänden hängen Poster im Großformat, Black Sabbath und Metallica, ein schwarzer Wolf vor blassgrauer Vollmondscheibe. Das letzte Streamingkonzert seiner Lieblingsband habe er nicht hören können, sagt er bedauernd mit Blick auf das Plakat, „Metallica Online Event 025“ prangt darauf in fetten Buchstaben. Das und das Internetverbot für Patienten seien für ihn die schmerzhaftesten Einschnitte in den Alltag gewesen, die das Leben im Sven-Spaan-Institut mit sich bringt.

Wir setzen uns im Sicherheitsabstand ― er auf das Bett, ich auf den keimresistenten Vinylsitz ― und Peter beginnt, mir aus der Zeit davor zu erzählen.

Als Schulabbrecher mit 16 von zu Hause ausgezogen, trampte er ein Jahr lang mit der Freundin durch Europa. Das Geld war knapp, Essen gab es nicht immer, dafür Joints am Strand der Algarve, Campieren in den Wäldern des Apennin, Weggefährten aus aller Herren Länder, die sich trafen und irgendwann wieder getrennter Wege gingen. Dann der Bruch mit der Freundin, seiner ersten großen Liebe. Peter weiß nicht, wohin er jetzt noch ziehen soll, was tun. Schließlich kehrt er zurück in die Heimat an der Elbe, macht eine Mechanikerlehre, Jahre später erfüllt sich sein Traum: die eigene Motorradwerkstatt. Und zunächst schien alles gut zu laufen für Peter:

„Ich hatte meine Werkstatt, meine Maschinen und meine Musik ― das war mein Leben, und es war sehr gut so. Ich war ein völlig unpolitischer Mensch, was so passiert ist in der Welt, hat mich ziemlich wenig interessiert. Aber dann die Große Pandemie … Es wurde schwieriger. Am Anfang ging es noch, aber ich hatte kaum Rücklagen, und irgendwann ... war auch mein Fehler gewesen, klar. Also irgendwann war der Punkt, da fühlte ich mich wie mit dem Rücken zur Wand. Du weißt halt nicht mehr, wie du rauskommst, was du tun sollst … Und wenn du dann in so einer Situation an die falschen Leute oder an die falschen Sachen gerätst, bist du verwundbar, empfänglich für so was, verstehst du?“

Die „falschen Leute“, das waren in Peters Fall ein Angestellter seiner Werkstatt und ein Kumpel aus Schultagen. Über sie geriet er in das Netzwerk von fast professionellen Falschdenkern, kam in Berührung mit den abstrusesten Verschwörungstheorien, schloss am Ende gar Bekanntschaft mit Fake-News-Produzenten. Er selbst habe sich zwar nie an Produktion und Vertrieb beteiligt, versichert er. Aber die Wochen und Monate auf der schmutzigen Seite des Internets, die geheimen Gesprächsrunden nachts in der Garage forderten ihren Tribut. Peters seelischer Zustand ist bereits stark erschüttert, als der Customer Service des Jobcenters ihn zur Begutachtung zum Medical Case Manager schickt. Der attestiert ihm eine paranoid-querulatorische Entwicklung und eine chronische und verfestigte Entwicklung ohne Krankheitseinsicht. Es folgt die Einweisung in das Sven-Spaan-Institut. Die Anfangszeit sei sehr hart gewesen, erzählt Peter.

„Es ist ja so, wenn du Falschdenken hast, dann siehst du das ja selber nicht am Anfang. Du glaubst ja im Gegenteil, dass du den Durchblick hast. Du glaubst, dass du angelogen wirst von den Medien, von den Politikern, ja sogar von Der Mutter. So fängt es an bei vielen, ich hab das oft miterlebt. Die Leute lesen was im Internet oder kommen zusammen in ihren Geheimzirkeln und sagen dann: ‚Ich denke selber‘. Aber natürlich ist das eine Täuschung. Sie lassen sich verführen und lassen sich täuschen, wegführen von der Wahrheit. Das Problem ist, glaube ich, bei den meisten dieses Misstrauen, dass sie nicht vertrauen können. Mir ist es genau so gegangen.

Ich wollte die böse Absicht sehen, wo in Wahrheit keine war. Du misstraust dem Staat, misstraust der Regierung, obwohl sie dir helfen wollen, aber du kannst das nicht annehmen. Bis du das endlich erkennst, das ist ein sehr langer und schwieriger Weg! Ich hab mich direkt gewehrt dagegen, das ganze erste Jahr fast, kann man sagen. Weil bei mir die Krankheit so ausgeprägt war, weil ich so abhängig war vom Falschdenken. Heute sehe ich, wie sehr ich gelitten habe unter dieser Krankheit. Furchtbar gelitten. Wenn ich rauskomme, dann möchte ich anderen helfen, denen es so geht wie mir früher. Ich will ihnen helfen, da rauszukommen aus diesem Leid.“

In der Tat ist das Leiden der Falschdenker an ihrer Krankheit beinahe greifbar im Sven-Spaan-Institut. Leere Augen verfolgen mich auf meinem Weg durch die Korridore der Akutstation, durch die mich Bernisowa jetzt führt. Eine Patientin im weißen Solidarity-Anzug sitzt in einer Ecke, den Spiegel in den Händen. Es ist die letzte Ausgabe, ich erkenne sie sofort, am Titelblatt begrüßt Die Mutter verwundete Heimkehrer von der Ural-Front. Doch der Blick der Patientin ist an die Decke gerichtet, ihre Lippen formen lautlose Worte. Was sie wohl denken mag in diesem Augenblick, an diesem Ort? Gerne würde ich sie danach fragen, doch etwas sagt mir, dass es besser ist, sie allein zu lassen.

„Heilung braucht Abstand“, so höre ich im Sven-Spaan-Institut immer wieder. Abstand nicht nur im physischen Sinne, sondern auch innerer Abstand zu den schlechten, krankmachenden Gedanken, die Menschen wie die Frau in der Leseecke hierher gebracht haben.

Lernen, geliebt zu werden

Umso bedeutender ist die Rolle, die der Gedankentherapie in den Heil- und Erziehungsanstalten für Falschdenker zukommt. Die heute in diesen Einrichtungen vorwiegend zur Anwendung gelangende Form der Gedankentherapie für Falschdenker wurde nicht zuletzt von Prof. Ullrich selbst maßgeblich mitentwickelt. Bereits seit dem Jahr der Großen Pandemie arbeitete er, gemeinsam mit Fachkollegen der Johns Hopkins University in Baltimore und dem Londoner Imperial College, an Methoden zur gleichermaßen effektiven wie nachhaltigen Behandlung des Falschdenkens.

Zentrale Elemente dieser Therapieform sind ― neben Entzug und Entseuchung ― der Aufbau von Vertrauen und die (Wieder-)Herstellung von Liebesfähigkeit. Das mag viele Laien überraschen, doch tatsächlich sind es gerade die beiden letztgenannten Verfahren, auf welchen im Sven-Spaan-Institut besonderes Augenmerk gerichtet wird.

Dagmar Jols, 34, ist psychologische Gedankentherapeutin und arbeitet derzeit an ihrer Doktorarbeit über positives Emotionsmanagement in der Therapie des Falschdenkens. Wie wichtig gerade positive Emotionen und eine Stärkung des Grundvertrauens für eine gelingende Gedankentherapie sind, weiß sie nicht nur aus ihrer Forschung, sondern vor allem aus ihrer täglichen Arbeit mit den Patienten. Gleich wird mich die junge Wissenschaftlerin, die bereits den Nachwuchsförderpreis der Exzellenzinitiative „(Weiter-)Denken im 21. Jahrhundert“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhielt, in ihre Gedankentherapiesitzung mitnehmen. Die vierte und letzte an diesem Tag; eingeteilt sind acht Patienten der Rezidivstation.

Doch zuvor will Jols noch über ihr Arbeits- und Forschungsgebiet, das zugleich auch ihre große Leidenschaft ist, sprechen:

„Der Begriff ‚Gedankentherapie‘ ist, wenn man es genau nimmt, in gewisser Weise verkürzt. Wenn wir von Gedankentherapie sprechen, meinen wir damit nämlich nicht nur eine Therapie des Denkens, sondern immer auch gleichzeitig eine Therapie des Fühlens, des Emotionalen. Dahinter steht die gewonnene Erkenntnis, dass es beim Falschdenken eben nicht alleine nur um das Denken geht, auch wenn das freilich die Hauptsymptomatik und letztlich diagnoseleitend ist. Was dem falschen Denken aber überhaupt erst den Boden bereitet, was die vulnerablen Personen dafür empfänglich macht, liegt dabei schon auf der Ebene darunter.

Das Ausgangsproblem, das wir sehen, ist eigentlich ein Mangel an Vertrauensbereitschaft und ebenso eine mangelnde Liebesfähigkeit im Sinne einer gestörten Liebesannahmefähigkeit. Bevor aber dieser Mangel nicht behoben wird, bevor also nicht der Boden für Vertrauen und das Zulassen von Geliebtwerden und die Annahme von Fürsorge bereitet sind, so lange haben Richtiggedanken keine Basis im Fühlen und Denken des Patienten.“

Grund für einen solchen emotionalen Mangel seien in der Regel aversive oder gar traumatische Kindheitserlebnisse, so Jols.

Wer etwa durch ungünstige familiäre Bedingungen nicht gelernt habe, sich selbst anzunehmen, wer nicht erfahren habe, liebenswert zu sein und sich deshalb selbst nicht lieben könne, dem falle es auch im späteren Leben schwer, die Liebe und Fürsorge des Staates anzunehmen und ihm zu vertrauen.

In ihrer Arbeit mit den Erkrankten wende sie deshalb gezielt Techniken des Vertrauensmanagements an, die vor und neben den eher klassischen Gedankentechniken zum Einsatz kämen.

Wie dies in der Praxis aussieht, darf ich nur wenige Minuten nach unserem Gespräch erleben.

Acht Patienten, überwiegend sind es Frauen, halten die Augen geschlossen. Ausgebreitet liegen sie auf mit Einweglaken bedeckten Gummimatten. Gleichmäßiges Atmen zieht durch den Raum, sonst ist es still. Dagmar Jols schreitet langsam die Reihen der Liegenden ab, blickt sanft auf die wie schlafend Wirkenden. Sie lässt sich Zeit, lässt die Entspannung sich legen auf die Körper, die Ruhe einsickern in die Gedanken. Dann setzt sie sich auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes. Noch einmal geht ihr Blick in die Runde ― alles ist still.

„Entspannt liege ich und lasse alles los.“

Jols‘ warme Altstimme setzt die Luft in leichte Vibration.

„Meine Gedanken ziehen vorbei, wie die Wolken am Himmel.“

Jedem Satz folgt eine Pause und selbst ich bemerke nach kürzester Zeit, wie meine Muskeln sich lockern, der Ballast meines Denkens von mir abfällt.

„Ich halte sie nicht fest, ich lasse sie ziehen. Mein Geist wird klar und leer. Ich fühle, wie mein Herz sich öffnet. Es wird weit und weich.“

Von irgendwoher ertönt, leise, kaum wahrnehmbar, ein tiefes Seufzen.

„Ich weiß, dass es Menschen gibt, die mir helfen wollen. Ich sehe sie jetzt vor mir. Es sind meine Eltern, meine Vorgesetzten auf der Arbeit. Es sind meine Ärzte und Therapeuten. Es sind die Menschen, die sich jeden Tag um mich kümmern und mich beschützen. Die Menschen, die uns Arbeit und Brot geben. Die Menschen, die Verantwortung tragen für unser Land, für uns alle — für jeden Einzelnen von uns. Ich sehe sie vor mir. Sie lächeln mir zu und ich spüre ihre Liebe. Ich sehe auch Die Mutter. Auch sie lächelt mir zu. Ihre Fürsorge, ihr Schutz, ihre Führung umhüllen mich ― warm, wohltuend, wie eine Decke. Ich habe Fehler gemacht in der Vergangenheit. Ich hatte kein Vertrauen zu den Menschen. Ich habe denen nicht geglaubt, die es gut mit mir meinten. Denn ich war krank.“

Ein Schniefen lässt mich hochfahren. Ich blicke nach links ― einer stark übergewichtigen älteren Frau laufen Tränen über die Wangen. Der Anblick berührt, macht verlegen. Doch da spricht die Therapeutin weiter, kräftiger diesmal, entschieden:

„Aber ich möchte die Krankheit besiegen. Ich werde die Krankheit besiegen. Ich habe die Stärke in mir, gesund zu werden. Die Mutter gibt mir Stärke. Die Experten geben mir Stärke. Meine Ärzte und Therapeuten geben mir Stärke. Ich spüre ihre Liebe und ihre Fürsorge. Ich spüre ihren Schutz. Mein Geist ist klar und leer ― er fasst Vertrauen. Mein Herz ist weit und weich ― es nimmt die Liebe in sich auf.“

Die Meditation dauert noch etwa 15 Minuten an. Dann erheben sich alle mit noch langsamen Bewegungen von ihren Matten und nehmen im großräumigen Stuhlkreis Platz.

Der zweite Teil der Gedankentherapiesitzung dient der persönlichen Gedankenarbeit und dem Lernen der Patienten voneinander. Heute ist es ein junger Mann, der den Anfang macht. Mit Brille und schlecht gekämmtem Haar erinnert er an den Typ Student der Sozialwissenschaften. Tatsächlich zieht er jetzt ein zerknülltes DIN-A4-Blatt aus der Tasche seines Solidarity-Anzugs. „Das habe ich nach unserer letzten Sitzung geschrieben,“ erklärt er etwas schüchtern und liest vor:

„Was kann ich glauben? Ich weiß es nicht mehr. Schon wieder einmal nicht mehr. Wem kann ich vertrauen? Kann ich mir selber trauen? Oder der Stimme in meinem Kopf, die sagt: ‚Sie wollen dich umprogrammieren?‘ Wer ist es, der so etwas sagt? Ist es mein altes Ich, sind es meine alten Gedanken, die mich hierhergebracht haben? Wenn es wahr ist, was diese Gedanken sagen, ist alles noch schlimmer, als ich dachte. Wenn es nicht wahr ist, bin ich dann verrückt? Wer kann mir die Antwort sagen? Gibt es eine Antwort? Gibt es eine Wahrheit? Was ist, wenn sie mich belügen? Wem soll ich dann noch trauen? Vielleicht ist alles eine einzige große Lüge: das Leben da draußen, das Leben hier drinnen. Dann ist alles egal. Dann heißt es anpassen oder untergehen. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, und es tut weh. Es zersprengt mir den Kopf manchmal, es will mich zerreißen. Dann will ich glauben. ― Ich will ja glauben, aber kann es nicht. Ich will Frieden finden im Glauben, im Vertrauen, in der Liebe. Wieso kann ich es nicht? Warum ist es so verdammt schwer?“*

Der junge Mann lässt das Papier sinken, es knüllt sich noch mehr in seiner Faust. Den Kopf nach unten gerichtet, kann ich seine Augen nicht mehr sehen, doch scheint es, dass er mit den Tränen kämpft, der Atem geht schwer. „Haben Sie vielen Dank, Herr … ! Es war sehr mutig von Ihnen, das mit uns zu teilen“, spricht ihm Jols zu. Mehrere Patienten nicken anerkennend, versuchen, den jungen Mann mit aufmunternden Blicken zu stützen.

„Ich denke, alle, die hier sitzen, hatten schon einmal solche Gedanken, oder? Ja, der Weg zur Heilung ist kein leichter, ganz im Gegenteil! Und manchmal ist einem einfach nur zum Kotzen zumute und man möchte alles hinschmeißen und fragt sich: ‚Wofür das alles?‘. Habe ich Recht?“

Der junge Mann blickt auf und nickt, die geröteten Augen begegnen meinem Blick.

„Doch ich sage Ihnen etwas: Sie können stolz auf sich sein! Sie haben bereits Enormes geleistet, seit Sie hier sind. Ist Ihnen das bewusst? Ich kann mich erinnern, als wir uns das erste Mal getroffen haben, da waren Sie noch voller Misstrauen. Voller Feindseligkeit sogar. Sie konnten mir kaum in die Augen schauen. Ihre Gedanken waren voller Verschwörungstheorien, erinnern Sie sich? Sie dachten, alle hier wollen Ihnen nur Böses. Und heute können Sie sich öffnen. Heute sitzen Sie hier und teilen Ihre intimsten innersten Gedanken mit uns! Und warum können sie das? Warum konnten Sie so einen enormen Fortschritt machen? Weil Sie erkannt haben, dass wir Ihnen hier nichts Böses wollen, dass wir nicht Ihre Feinde sind. Sie haben erfahren, dass Sie geliebt und geschützt werden. Dass man Ihnen helfen will. Dass man Sie liebt. Sie sind schon einen weiten Weg gegangen, Herr …

Alles, was jetzt noch zur Gesundung fehlt ist, dass Sie lernen, sich selbst zu lieben. Diese inneren Widerstände zu überwinden. Lassen Sie es zu, Herr… ! Ich weiß, dass Sie das schaffen. Seien Sie stolz auf sich!“

Hinaus in ein Leben im Richtigdenken

Liebe und Vertrauen. Das ist es, was die Menschen hier wirklich suchen. So erzählt es Johanna, die 38-jährige Mutter und Ehefrau, die schon zum zweiten Mal wegen Falschdenkens behandelt werden muss und doch nichts lieber möchte, als ein solidarisches und nichtinfektiöses Leben im Kreis ihrer Familie zu führen. So erzählt es auch Peter, der Biker und Heavy-Metal-Fan, der dabei ist, die Krankheit zu überwinden und in Zukunft anderen auf ihrem Weg in die Gedankengesundheit helfen möchte. Und auch all die anderen Frauen und Männer, die Alten wie die Jungen, die Familienväter wie die Einsamen, die einst Erfolgreichen ebenso wie jene, die sich längst aus der Solidargemeinschaft zurückgezogen hatten. Sie alle vereint der Kampf gegen das Gedankenvirus. Ein Kampf, den die allermeisten von ihnen gewinnen werden, dank der unermüdlichen Hingabe von Menschen wie Sebastian Ullrich und Dagmar Jols und Hunderten wie ihnen, die Tag für Tag den Samen säen, aus dem Liebe und Zutrauen unter der schützenden Hand des Staates wachsen kann.

„Confidere aude“ ― „Habe den Mut, Vertrauen zu fassen“.

Wohl kaum passender könnten die Worte gewählt sein, die in Stein gehauen an der Stirnseite der elegant wirkenden Aula prangen. Es ist die letzte Station unseres Rundganges, zu der Marina Bernisowa mich führt, und zugleich der Abschluss meines beeindruckenden, in vielem überraschenden und oft auch ganz persönlich berührenden Besuches im Sven-Spaan-Institut.

Der Saal, so erzählt Bernisowa, wird gerne für Anlässe wie Feiern und Zusammenkünfte der Patienten genutzt. Feiern, Zusammenkünfte der Patienten? Bernisowa errät mein Erstaunen sofort und erwidert schmunzelnd:

„Oh ja, bei uns darf auch mal gefeiert werden. Sehen Sie die kreisartigen Strukturen hier überall im Marmorboden? Das sind die Abstandsmarkierungen, alle exakt 1,5 Meter voneinander entfernt ― bis zu 50 Patienten können sich hier zur selben Zeit aufhalten.“

Was für Feiern das denn seien, hake ich nach.

„Der Tag der Volksimpfung zum Beispiel, der Geburtstag Der Mutter. Und natürlich unsere schon traditionellen und sehr beliebten Falschgedankentötungsfeiern.“

Diese, so lerne ich, sind der Höhepunkt in jedem Monat, wenn die vom Falschdenken Geheilten kurz vor der Entlassung stehen und zu ihrer feierlichen Verabschiedung Aluhüte zerreißen, die sie zuvor im Rahmen der Ergotherapie selbst gebastelt haben ― Symbol für das Töten der Falschgedanken, von denen sie für immer befreit sein wollen.

Ich denke an Peter, der vermutlich im nächsten Monat dabei sein wird. Auf einer dieser Markierungen wird er stehen, seinen eigenen Aluhut dabeihaben. Und ich stelle mir vor, wie er ihn zerreißt und mit ihm all das Falsche, das Schlechte, das er hinter sich lässt. Und wie er dann aus dem Portal tritt, durch die Desinfektionsanlage hindurch, hinaus in ein neues Leben im Richtigdenken. Möge er das alte auf immer hinter sich lassen!


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